Doch wieder eine Stichwahl in NRW!
1. Des einen Freud ist des anderen Leid. Der Verfassungsgerichtshof des Landes NRW hat am vergangenen Freitag die Abschaffung der kommunalen Stichwahl rückgängig gemacht und damit die Erfolgsbedingungen für die Bürgermeister- und Landratswahlen im kommenden Jahr verändert. Wenn kein Kandidat mehr als die Hälfte der Stimmen erreicht, soll ein zweiter Wahlgang unter den beiden bestplatzierten Bewerbern entscheiden. Wer im ersten Wahlgang eine relative Mehrheit erringt, muss fürchten, dass sich im zweiten Wahlgang die Stimmen für seine Gegner zu seinem Nachteil kumulieren. Für einige Kandidaten, die sich bisher geringe Chancen ausgerechnet haben, bedeutet die Gerichtsentscheidung darum ein unverhofftes Weihnachtsgeschenk, während anderen Aspiranten an den Festtagen auf unangenehme Weise besinnlich zumute werden könnte. Unter den Trübsinnigen dürften sich mehrheitlich Bewerber der CDU befinden, die mancherorts zwar auf eine relative, aber nicht auf eine absolute Mehrheit hoffen können. Mit demselben Urteil hat der Verfassungsgerichtshof eine Regelung über die Einteilung der Wahlbezirke überraschenderweise nur in einer „verfassungskonformen Auslegung“ aufrechterhalten – mit der Folge, dass jede Kommune ihre Einteilung dahingehend überprüfen und nötigenfalls ändern muss.
2. Die Stichwahl in NRW wurde in den 90er Jahren zusammen mit der Direktwahl der hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte eingeführt. 2007 wurde sie von einer schwarz-gelben Mehrheit abgeschafft, 2011 in Zeiten einer rot-grünen Minderheitsregierung gegen die Stimmen der CDU wieder eingeführt und schließlich im zur Neige gehenden Jahr von Schwarz-Gelb ein weiteres Mal abgeschafft. Dieses Abschaffungsgesetz hat der Verfassungsgerichtshof am Freitag für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Dadurch lebt die alte Rechtslage wieder auf. Mit vier zu drei Stimmen erging die Entscheidung so knapp wie nur möglich. Die dissentierenden Richter haben erstmals in der Geschichte des Gerichts ein Sondervotum verfasst und widersprechen darin dem Ergebnis wie der Begründung. Die Mehrheitsbegründung und das Sondervotum bilden die gegensätzlichen Positionen der politischen Parteien ab und korrespondieren mit der parteipolitischen Ausrichtung der jeweils dahinterstehenden Richter.
Von Hintertürchen und richterlichen Wertungen
3. In einem Urteil von 2009 hatte der Verfassungsgerichtshof die Abschaffung der Stichwahl noch gebilligt. Wie lässt sich seine Kehrtwende zehn Jahre später erklären? Im ersten Stichwahl-Urteil hält sich das Gericht ein kleines Hintertürchen offen, das bis vor kurzem wenig Beachtung fand: Die Verhältnisse im Lande könnten sich in Zukunft so wesentlich ändern, dass eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung der Stichwahl erforderlich wird. In seinem zweiten Stichwahl-Urteil geht das Gericht nun aber nicht etwa davon aus, dass derart schwerwiegende Veränderungen eingetreten wären oder bevorstünden. Wieder und wieder betont es, dem Gesetzgeber stehe bei der Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse ein weiter Prognosespielraum zu. Der Gesetzgeber begründe seinen Entschluss, die Stichwahl abzuschaffen, vor allem damit, dass die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl nach seiner Vorhersage gegenüber dem ersten Wahlgang in so vielen Fällen so stark absinken werde, dass die Legitimation der Bürgermeister und Landräte in Zweifel geraten werde. Auf dem Weg zu dieser Einschätzung habe sich der Gesetzgeber aber nicht gründlich genug damit auseinandergesetzt, dass die „Zersplitterung“ des Parteiensystems in NRW zunehme und deshalb möglicherweise eine wachsende Anzahl von Bürgermeistern und Landräten mit zusehends niedrigeren Stimmenanteilen ins Amt gewählt werden wird. „Nicht das Ergebnis der Prognose, sondern das Prognoseverfahren verfehlt die verfassungsrechtlichen Anforderungen“ (S. 53).
4. Die Verfasser des Sondervotums halten den Richtern, die das Urteil tragen, vor, dass sie ihre eigene Ankündigung, den Prognosespielraum des Gesetzgebers zu achten, nicht einlösten. Der Gesetzgeber habe sich im Prognoseverfahren keinerlei Versäumnisse zuschulden kommen lassen. Insgeheim messe die Richtermehrheit dem zwangsläufig höheren Stimmenanteil bei einer Stichwahl größeres Gewicht bei als der nicht selten niedrigeren Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang. Genau darauf stütze sie ihre Entscheidung, obwohl eine derartige Wertung dem Gericht doch auch nach Bekunden der Richtermehrheit nicht zustehe. In der Tat setzt der Entschluss, welchen Aspekten man in einem Prognoseverfahren mit welcher Gründlichkeit nachgeht und – um ein Bild der Mehrheitsbegründung zu zitieren – welche Quellen man bis zu welcher Tiefe ausschöpft, ein Vorverständnis davon voraus, auf welche Informationen es in welchem Maße ankommt. Das Vorverständnis der Richtermehrheit weicht augenscheinlich von dem der dissentierenden Richter und des Gesetzgebers ab. Einmal mehr entsteht der Eindruck, dass die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf prozedurale Kriterien – mag sie noch so gut gemeint sein – dem Gesetzgeber doch keinen größeren Spielraum belässt, sondern die Wertungen nur verdeckt, die der Gerichtsentscheidung zugrunde liegen.
5. Das Urteil unterscheidet sich immerhin wohltuend von anderen Judikaten deutscher Verfassungsgerichte zum Wahlrecht, weil es jeden Anschein eines Anti-Parteien-Affekts vermeidet. Es verzichtet auf den skandalisierend einsetzbaren Begriff der „Entscheidung in eigener Sache“ und erwähnt eher beiläufig, dass Wahlrechtsänderungen gesteigerte Missbrauchsrisiken bergen. Ein Gericht, das mit rot-grüner Richtermehrheit ein mit schwarz-gelber Parlamentsmehrheit beschlossenes Gesetz aufhebt, ist auch nicht in der Position, über parteipolitische Motive anderer viele Worte zu verlieren – selbst wenn es Zufall sein sollte, dass sich die parteipolitische Ausrichtung der Richter mit ihrem Stimmverhalten deckt. Außerdem sieht das Gericht davon ab, irgendwelche Begründungspflichten des Gesetzgebers zu behaupten, für die es im geltenden Recht auch überhaupt keine Anhaltspunkte gibt. Für den Gesetzgeber bestünden „keine besonderen Anforderungen an die Dokumentation“ seiner Erwägungen (S. 51). Bei der mündlichen Urteilsbegründung löste sich die Gerichtspräsidentin an dieser Stelle von ihrem Manuskript, um ihre Aussage zu betonen.
Jenseits verfassungskonformer Auslegung
6. Eine andere Neuregelung hat der Verfassungsgerichtshof erwartungsgemäß aufrechterhalten: Für die Frage, wie stark der Zuschnitt von Wahlbezirken abweichen kann, kommt es ab der nächsten Kommunalwahl nicht mehr auf die Anzahl der Einwohner an, sondern auf die Anzahl der Deutschen und der Unionsbürger, die in einem Wahlbezirk ansässig sind. Diese Entscheidung ist deshalb so unspektakulär wie richtig, weil es die Rechte der (aktiv und passiv) Wahlberechtigten sind, aus denen sich die Maßstäbe für den Zuschnitt von Wahlbezirken überhaupt erst ergeben. Dann muss es zulässig, wenn nicht geboten sein, die Bemessungsgrundlage auf die Wahlberechtigten zu begrenzen. Dass dabei die nicht wahlberechtigten Minderjährigen mitgerechnet werden, hält der Verfassungsgerichtshof für unbedenklich, weil und soweit ihre Anzahl von Wahlbezirk zu Wahlbezirk nur ganz geringfügig abweiche. Das Ergebnis war durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2012 praktisch vorgegeben.
7. Für verfassungswidrig hält der Verfassungsgerichtshof eine Regelung, die die Antragsteller gar nicht angegriffen haben: Bislang durfte die Anzahl der Einwohner in einem Wahlbezirk um 25 Prozent nach oben und nach unten abweichen. Das ganze Ausmaß der zulässigen Abweichung wird erst deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der größte Wahlbezirk 1,67-mal so viele Einwohner beherbergen konnte wie der kleinste Wahlbezirk. Statt aber die Regelung für nichtig zu erklären, schreitet das Gericht zur „verfassungskonformen Auslegung“: Abweichungen von 15 Prozent seien stets zulässig, Abweichungen von 25 Prozent nur in Sonderfällen, die die örtlichen Wahlausschüsse zu rechtfertigen hätten. Letztlich macht das Gericht aus einer „25“ eine „15“ und erfindet eine Ausnahmeregelung hinzu. Selbst wer sich nicht zu den prinzipiellen Gegnern der „verfassungskonformen Auslegung“ zählt, dürfte die Grenze des methodisch Zulässigen in diesem Fall für überschritten halten. Das Gericht unternimmt eine Normkorrektur, zu der es nicht ermächtigt ist. Art. 66 und Art. 68 der Landesverfassung verleihen die Gesetzgebungskompetenz einzig dem Landtag und dem Volksgesetzgeber – ein Befund, den niemand bestreitet, aber nicht jeder beachtet.
Neues Jahr, neues Wahlrecht?
8. Was bedeutet das Gerichtsurteil nun für das neue Jahr? Die Bediensteten in den nordrhein-westfälischen Rathäusern und Kreishäusern werden die Taschenrechner und Landkarten zücken. Neun Monate vor dem Wahltermin im September müssen sie den Zuschnitt der Wahlbezirke überprüfen und Abweichungen von mehr als 15 Prozent beheben – es sei denn, es gelingt ihnen, eine solche Abweichung zu rechtfertigen. Der Verfassungsgerichtshof gibt zu verstehen, dass dieses Kunststück nur selten glücken wird. Nimmt man ihn beim Wort, ist es nicht unausweichlich, dass im neuen Jahr wirklich Stichwahlen stattfinden werden. Nur das Prognoseverfahren soll fehlerhaft sein, nicht das Ergebnis der Prognose. Wahrscheinlich aber wird der Gesetzgeber vor der nächsten Kommunalwahl keinen neuen Anlauf wagen, die Stichwahl abzuschaffen. Allerdings könnte er einen Vorsatz für die Zeit danach fassen: eine Reform des Kommunalwahlrechts, die neben der Abschaffung der Stichwahl auch Ersatz für die Sperrklausel vorsehen könnte, die der Verfassungsgerichtshof bereits 2017 beanstandet hat.
Zitat: “Insgeheim messe die Richtermehrheit dem zwangsläufig höheren Stimmenanteil bei einer Stichwahl größeres Gewicht bei als der nicht selten niedrigeren Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang.”
Hier kommt ein dichotomes Denken zum Ausdruck, welches problematisch ist. Leider scheint bei den allermeisten Richtern, Politikern und Kommentatoren noch nicht die Erkenntnis angekommen zu sein, dass zwischen der herkömmlichen Stichwahl und First-Past-the-Post sehr wohl ein Wahlsystem existiert, welches garantiert höhere Stimmenanteile bei der Stichwahl mit garantiert gleichhohen Wahlbeteiligungen in beiden Wahlgängen kombiniert. Die Rede ist von der Integrierten Stichwahl. Herr Lenz, kannten Sie diese Lösung bisher nicht oder warum haben Sie sie in Ihrem Beitrag nicht erwähnt? Ich frage das aus ehrlichem Interesse, weil es mir ein Rätsel ist, warum dieses vorteilhafte Wahlverfahren in Deutschland noch immer dermaßen ignoriert wird.
Auch die das Urteil tragende Richtermehrheit hätte sich viel Kritik ersparen können, wenn sie die Integrierte Stichwahl näher untersucht hätte. Denn dieses Wahlverfahren leistet einerseits exakt das, was CDU und FDP mit ihrer Initiative nach eigenem Bekunden erreichen wollten. Doch im Unterschied dazu achtet es auch den vom Gericht dargelegten Grundsatz, dass Wahlen im Normalfall mittels einer absoluten Mehrheit entschieden werden sollten, wohingegen Wahlsiege mit bloß relativer Mehrheit nur ein Notbehelf seien, falls partout keine absolute Mehrheit erzielt werden könne. Erst die Berücksichtigung der Integrierten Stichwahl als diejenige der drei Wahlsystem-Alternativen, die den im Demokratieprinzip enthaltenen Integrationsgedanken in jeder Hinsicht am besten realisieren kann, hätte die Argumentation des VerfGH NRW wirklich wasserdicht gemacht.
Ich mache Sie auf meinen vor kurzem erst erschienenen Aufsatz “Sperrklausel und Ersatzstimme im deutschen Wahlrecht” (NVwZ 2019, S. 1797-1802) aufmerksam. Wenn Sie ihn lesen, werden Sie mich als Sympathisanten Ihres Vorschlages erkennen. In meinem Artikel hier geht es mir lediglich um eine erste Einordnung des Stichwahl-Urteils und noch nicht um Lösungsvorschläge.
In der Tat dürfte damit sich bis zur Kommunalwahl 2020 nichts mehr gesetzgeberisch tun.
Richtig gegen die Stichwahl war aus eigener Erfahrung ohnehin nur die CDU. Die FDP ist ja ohnehin meist nicht betroffen: Dort spekuliert man allerdings wohl, dass man bei etwa gleich starken Kandidaten als Prestigeerfolg in Düsseldorf den OB-Posten holen könnte – was wohl leichter fallen würde, wenn man in die Stichwahl kommt.