Drehen am Fiktionalisierungsventil
Das Esra-Urteil hat die literarische Praxis in unserem Land erheblich verändert. Was ein Roman „darf“ und was nicht, schätzen wir heute anders ein als vor diesem Urteil. Ich möchte hier nicht noch einmal die Historie der Esra-Prozesse nachzeichnen und auch nicht darüber räsonieren, ob die daraus hervorgegangenen Urteile, insbesondere jenes des Bundesverfassungsgerichts, begrüßenswert oder betrüblich erscheinen. Ich will lediglich ein paar Anmerkungen dazu machen, wie sich die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Leitsätze auf die schriftstellerische Praxis ausgewirkt haben und weiter auswirken.
Die ersten drei dieser Leitsätze gaben und geben den verfassungsrechtlichen Status Quo wieder, der schon zuvor weitgehend unumstritten galt. Wenn man über die Auswirkungen des Esra-Urteils in der schriftstellerischen und verlegerischen, und damit auch in der juristischen Praxis spricht, ist insbesondere der vierte Leitsatz von grundlegender Bedeutung. Auch er liest sich zunächst einmal wie eine blitzsaubere juristische Lösung:
Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.
Das sind, so scheint es, klar und nachvollziehbar formulierte Abwägungskriterien, die jeden zweifelsfrei erkennen lassen müssten, in welchem Fall die Kunstfreiheit, in welchem das Persönlichkeitsrecht den Vorrang bekommen müsste. Leider fußen sie jedoch selbst auf zwei Fiktionen. Erstens, dass der Autor mit seinem Roman ein Abbild der Realität erschaffe. Zweitens, dass der Autor das Maß oder den Grad bestimme, in welchem sich „Wirklichkeit“ und „ästhetische Realität“ zueinander befänden.
Die unter anderem von Thomas Mann in „Bilse und ich“ vertretene Position, auf die im abweichenden Votum des Mephisto-Urteils noch Bezug genommen wurde, ist nach dem Esra-Urteil endgültig Geschichte. Sie lautete: Ein Roman schaffe immer eine eigene, neue Wirklichkeit, sei also gerade nicht im Verhältnis Realität zu Abbild zu erfassen, sondern nur als in sich abgeschlossene, eigene Welt, die der sogenannten Wirklichkeit noch so viel als Vorbild zu verdanken haben möge, dazu aber in keinerlei Beziehung mehr stehe, weil er eben kein Abbild sei, sondern etwas Eigenes.
Einem Schriftsteller muss diese Ansicht schon deshalb gefallen, weil sie im Roman, in Fiktion überhaupt, nicht nur eine umständliche Methode sieht, um auf die „Realität“ zu zielen. Die Fiktion ist ein neu geschaffener Teil dieser Realität, das Ergebnis eines schöpferischen Aktes. Das Problem dieser Ansicht ist, dass sie die soziale Wirkung des so entstandenen Werkes schlichtweg leugnet, sofern sie nicht ausschließlich im Kunstgenuss besteht. Jede andere Lesart hält sie letztlich für illegitim. Wer sich sonach in einem Roman wiedererkenne, gar beleidigt, geschmäht, in seiner Ehre, seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sehe, habe schlichtweg nicht verstanden, dass nicht von ihm, sondern von einer Romanfigur die Rede sei, die ausschließlich in der Sphäre des Romans existiere und nur als solche in unserer Wirklichkeit.
Das Bundesverfassungsgericht ist dem nicht gefolgt. Zwar erkennt es einerseits an, der Roman schaffe eine eigene, von der Wirklichkeit abgelöste Realität, sagt aber zugleich, dass diese auf jene zurückwirke. Und nun kommt der Kunstgriff, der scheinbar Klarheit schafft. Zwischen dem Maß dieser Ablösung von der Realität und der Intensität der Persönlichkeitsrechtsverletzung bestehe eine Wechselbeziehung. Das Problem ist nur, dass sich dieses „Maß“ der Ablösung nicht messen lässt, ebenso wenig wie die „Intensität“ der Verletzung. Es wird an dieser Stelle implizit eine Objektivierungsmöglichkeit behauptet, die nicht existiert.
Wie müsste man sich den Schriftsteller nach diesem Urteil bei seiner Arbeit vorstellen? Wenn das Persönlichkeitsrechtsverletzungsmanometer in den roten Bereich steigt, einfach das Fiktionalisierungsventil ein bisschen weiter aufdrehen? Schriftstellern und Lektoren liegt bei ihrer Arbeit kein in alle denkbaren Richtungen ausermittelter Sachverhalt vor, wie dem Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung. Wenn sie mit der Arbeit an einem Roman beginnen, wissen sie buchstäblich nicht, wovon sie reden. Natürlich weiß ein Autor, welche Anleihen von „wahren Geschichten“ er für seine Texte benützt. Aber woher soll er wissen, wie die komplizierte, und nur scheinbar von objektiven Kriterien geleitete Abwägung, von der das Bundesverfassungsgericht spricht, am Ende ausgehen wird? In der Praxis behilft man sich deshalb zumeist mit dem Begriff der „Wiedererkennbarkeit“. Ist sie gegeben, muss der Text geändert werden, denn nur dann ist man „auf der sicheren Seite.“ Damit jedoch schießt man weit über das Ziel hinaus.
Der dritte Leitsatz des Esra-Urteils stellt ausdrücklich fest: „Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein“. Von diesem Recht bleibt jedoch nicht mehr viel übrig, wenn niemand wissen kann, wie weit es geht, und man deshalb besser die Finger davon lässt.