18 November 2021

Digital Services Act: Europaparlament diskutiert Netzsperren gegen Plattformen

Die Beratungen über den Digital Services Act (DSA) nehmen eine besorgniserregende Wendung. Im Ringen um eine gemeinsame Verhandlungsposition des Europaparlaments schlägt die Berichterstatterin Christel Schaldemose laut dem Tagesspiegel vor, dass Behörden die vollständige Sperrung von Online-Plattformen anordnen dürfen. Sogenannte ‚Netzsperren‘ sind bereits umstritten, wenn sie als letztes Mittel gegen Webseiten zum Einsatz kommen, die überwiegend aus illegalen Inhalten bestehen. Der aktuelle Vorschlag stellt jedoch alles bisher Dagewesene in den Schatten, denn er sieht Netzsperren nicht als ultima ratio, sondern als einstweilige Maßnahme vor. Auf das Verhältnis von legalen zu illegalen Inhalten auf einer Plattform kommt es dabei nicht an – vielmehr sollen Behörden die Sperrung einer Plattform bereits dann anordnen können, wenn deren Betreiber wiederholt gegen Vorschriften des DSA verstößt. Dieser wenig durchdachte Vorschlag sprengt die Systematik der Sanktionen im DSA und ist mit den Grundrechten unvereinbar.

Copy/Paste-Gesetzgebung

Ein Ziel des DSA ist es, große Technologiekonzerne an das Gemeinwohl zu binden. Zwar definiert das Gesetzesvorhaben Regeln für alle Intermediäre, vom Internetzugangsanbieter bis zum nichtkommerziellen Diskussionsforum, doch ein ganzes Kapitel widmet sich den „Very Large Online Platforms“ (VLOPs), also reichweitenstarken Plattformen vom Kaliber Facebook oder Amazon. Damit diese sich an die neuen Vorgaben halten, braucht es ein starkes Rechtsdurchsetzungsregime und wirksame Sanktionen. Die EU-Kommission hat aus den Problemen mit der Durchsetzung der Datenschutzgrundverordnung gelernt und einen ambitionierten Vorschlag vorgelegt. Doch die Möglichkeit, Plattformen ohne richterlichen Beschluss ganz vom Netz zu nehmen war darin bisher – vermutlich auch aus grundrechtlichen Erwägungen – nicht enthalten.

Vor diesem Hintergrund mag es zunächst nachvollziehbar erscheinen, dass die Berichterstatterin des Europaparlaments offenbar die bestehende Internetregulierung durchkämmt und daraus die härtesten Sanktionsinstrumente in den DSA kopiert hat. Der Netzsperren-Vorschlag stammt praktisch Wort für Wort aus der EU-Verordnung 2017/2394 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden. Bereits in diesem Kontext war die Einführung von Netzsperren ein Fehler: Zwar kommen diese nur als ultima ratio zur Abwendung schwerer Schädigungen kollektiver Verbraucher*inneninteressen zum Einsatz (beispielsweise wenn eine Webseite lebensgefährliche Produkte verkauft), aber die Einführungen von Netzsperren weckt immer Begehrlichkeiten, diese auf weitere Situationen anzuwenden.

Genau diese Befürchtung bewahrheitet sich nun durch die arglose Übertragung der Regelung vom Verbraucherschutzrecht in den DSA: Was ursprünglich als Maßnahme gegen Webseiten gedacht war, die illegale, gefährliche Produkte anbieten, mutiert nun zu einer Sanktion für Verstöße von Plattformen, die womöglich überhaupt keine illegalen Inhalte hosten. Bereits wenn ein Plattformbetreiber wiederholt gegen Transparenzpflichten verstößt oder es versäumt, einen Rechtsvertreter in der EU zu benennen, können Aufsichtsbehörden eine vollständige Plattformsperrung anordnen. Das Missbrauchspotential ist immens. Sollte das Parlament diesen Vorschlag aufgreifen, begibt es sich auf Kollisionskurs mit der Rechtsprechung des EuGH und EGMR.

Repressive Maßnahmen getarnt als Gefahrenabwehr

Der Kompromissvorschlag der Berichterstatterin erweitert die Tatbestands- und die Rechtsfolgenseite für einstweilige Maßnahmen gemäß Art. 41 und 55 DSA. Die zuständigen Behörden, also die nationalen DSA-Aufsichtsbehörden, die sogenannten „Digital Services Coordinators“ (DSCs) und die Kommission sollen einstweilige Maßnahmen nicht mehr nur zur Vermeidung der Gefahr schwerwiegender Schäden, sondern auch bei wiederholten Verstößen gegen Regelungen des DSA ergreifen können. Der Text erweitert also den Anwendungsbereich der einstweiligen Maßnahmen um eine repressive Komponente. Die einstweiligen Maßnahmen können danach nicht mehr nur zur Abwehr drohender Gefahren, sondern auch zur Ahndung wiederholter Verstöße verhängt werden.

Diese Ausweitung des Tatbestands geht mit der Einführung einer (nicht abschließenden) Aufzählung möglicher Maßnahmen auf Rechtsfolgenseite einher – die alle auf die Verhängung von Netzsperren hinauslaufen. Art. 41 und 55 DSA erlauben den DSA-Aufsichtsbehörden den Zugriff auf Dritte, wie Internetzugangsanbieter, Hosting-Provider und Domain-Registries, um Websites und Apps der Plattformen vom Netz zu nehmen. Die Aufsichtsbehörden können dafür explizit einzelne Domains von den Internetzugangsanbietern (in Deutschland etwa die Telekom, Vodafone oder 1&1) sperren oder auf eine Website der Behörde umleiten lassen. Auf diese Art und Weise setzen große Internetzugangsanbieter in der Clearingstelle Urheberrecht im Internet (CUII) Netzsperren gegen vermeintlich strukturell urheberrechtsverletzende Websites freiwillig um. Die rechtsstaatlichen Bedenken gegen diese Form der privaten Rechtsdurchsetzung haben wir hier bereits erläutert.

Der Kompromissvorschlag geht darüber noch hinaus und erlaubt der DSA-Aufsicht, Registries und Registraren die Sperrung von Websites aufzugeben. Registries und Registrare verwalten die Zuordnung von Domainnamen zu numerischen IP-Adressen. Wenn Registry oder Registrar die Verknüpfung von Domain und IP-Adresse aufheben, ist eine Website unter ihrem Namen für niemanden mehr erreichbar. Diese Maßnahme ist also nicht auf die Internetzugangsanbieter einer bestimmten Jurisdiktion beschränkt, sondern wirkt weltweit. Der Kompromissvorschlag erlaubt außerdem die Inanspruchnahme von Hosting Providern. Ergänzend zur Website-Sperre können die Aufsichtsbehörden damit zum Beispiel auch die Entfernung von Apps aus den jeweiligen App-Stores anordnen.

Der Kompromissvorschlag verwandelt also eine ursprünglich rein präventive, einstweilige Maßnahme in ein präventiv-repressives Superinstrument. Der Text sieht keine Eingrenzung auf bestimmte Verstöße vor, sodass die DSA-Aufsichtsbehörden die Plattformen bei jedwedem wiederholten Verstoß vollständig und für einen unbestimmten Zeitraum vom Netz nehmen könnten. Die kurzzeitige Facebook-Outage am 4. Oktober 2021, bei der die Dienste von Facebook für wenige Stunden nicht erreichbar waren, zeigt, wie schwerwiegend diese Maßnahmen für Plattformen und Nutzer*innen gleichermaßen sind.

Grundrechte der Nutzer*innen ignoriert

Dies zeigt die gravierendste Schwäche des Vorschlags auf: Die einstweiligen Maßnahmen betreffen nicht nur die Plattformen, sondern auch ihre Nutzer*innen. Der Katalog finaler Sanktionsmaßnahmen in Art. 41 DSA kam bislang ohne diese Kollateralschäden aus. Die Anordnungsbefugnisse in Art. 41 Abs. 2 lit. a–e DSA richten sich unmittelbar gegen die Plattformen und können durch Ordnungs- und Zwangsgelder durchgesetzt werden. Bei Verstößen der Plattformen werden also die Plattformen selbst in die Pflicht genommen, ohne dass dies Folgen für rechtmäßige Nutzungen hat. Die Netzsperren betreffen dagegen sämtliche Nutzer*innen einer Plattform und das gesamte Spektrum ihrer grundrechtlich geschützten Interessen. Netzsperren betreffen stets eine Website im Ganzen. Wenn die DSA-Aufsicht eine Netzsperre für ein soziales Netzwerk anordnet, weil es wiederholt rechtswidrige Inhalte nicht löscht, betrifft die Netzsperre also nicht nur diese Inhalte, die Anlass für das Einschreiten waren, sondern auch alle rechtmäßigen Inhalte, die sich auf der Website des sozialen Netzwerks befinden. Staatlich angeordnete Netzsperren stellen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Plattformnutzer*innen dar.

Aus diesem Grund sind Website-Sperren nach der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR nur unter engen Voraussetzungen mit dem Grundrecht der Internetnutzer*innen auf Meinungs- und Informationsfreiheit gemäß Art. 11 der EU-Grundrechtecharta (GRCh) und Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Der EuGH stellte in der Entscheidung UPC Telekabel klar, dass Website-Sperren mit Blick auf die Informationsfreiheit der Internetnutzer*innen streng zielorientiert sein müssen, den Nutzer*innen also die Möglichkeit zum Zugang zu rechtmäßigen Informationen nicht unnötig vorenthalten werden darf (Rn. 63). Dieses Kriterium mag bei illegalen Streaming-Websites (in UPC Telekabel ging es um die Sperrung von kino.to) noch erfüllt sein – bei Plattformen, die überwiegend legalen Zwecken dienen, kann von Zielgenauigkeit indes kaum die Rede sein.

Dem Verbot einer Zeitung oder eines Fernsehsenders vergleichbar

Zudem geht es bei Art. 41 und 55 DSA nicht um die Sperrung schlichter Websites, sondern um die Sperrung des Zugangs zu Plattformen wie sozialen Netzwerken, die für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs von überragender Bedeutung sind. Entsprechend hat der EGMR in vier Kammerentscheidungen 2020 zu Website-Sperren in Russland die Bedeutung der Meinungsfreiheit im Internet betont und entschieden, dass die jeweilige Sperrung gegen Art. 10 EMRK verstoße. Die Sperrung gesamter Websites sei eine „extreme Maßnahme“, die mit „dem Verbot einer Zeitung oder eines Fernsehsenders“ vergleichbar sei (EGMR, Application no. 10795/14 – Kharitonov v Russia, Rn. 38). Sperrmaßnahmen, die als Nebeneffekt wahllos rechtmäßige Inhalte träfen, stellten einen willkürlichen Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit dar. Der EGMR entschied in allen Fällen, dass dieser Eingriff wegen der Pauschalität der jeweiligen Sperrmaßnahme nicht mit Art. 10 EMRK vereinbar war.

Die vollständige Aufhebung des Zugangs zu Plattformen aufgrund einzelner Pflichtverletzungen gemäß Art. 41 und 55 DSA geht noch weit über die vom EGMR entschiedenen Fälle hinaus. Die Bedeutung des Zugangs zu Plattformen für die Meinungs- und Informationsfreiheit kann kaum groß genug eingeschätzt werden. Eine vollständige Sperrung des Zugangs betrifft nicht nur wahllos rechtmäßige Inhalte, sie hebt die Funktion der Plattformen als öffentliche Foren vollständig auf. Die Maßnahmen gemäß Art. 41 und 55 DSA stellen einen Superlativ der Website-Sperren dar, hinter denen die „extremen Maßnahmen“, über die der EGMR entschied, noch deutlich zurückbleiben.

Verfahren ohne Grundrechtsschutz

Es ist erstaunlich, dass der Kompromissentwurf keinerlei verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen vorsieht, weder ist für die Anordnung eine richterliche Entscheidung nötig, noch haben die Betroffenen der Netzsperren einen wirksamen Rechtsbehelf. Damit lässt der Kompromissvorschlag die eindeutigen Vorgaben des EuGH und des EGMR außer Betracht, die angesichts der Schwere des Eingriffs die Notwendigkeit verfahrensrechtlicher Schutzvorkehrungen betonen. Wirksame gerichtliche Rechtsbehelfe für betroffene Nutzer*innen sind nach der Entscheidung des EuGH in UPC Telekabel Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Website-Sperren mit Art. 11 der GRCh. Der EGMR verlangt weitere Schutzvorkehrungen, unter anderem dass die Maßnahmen von einem Gericht oder einem anderen unabhängigen Gremium angeordnet werden, das den Betroffenen rechtliches Gehör gewährt (EGMR, Application no. 10795/14 – Kharitonov v Russia, Rn. 43). Die gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Website-Sperren muss unter anderem klar und vorhersehbar sein, Schutz vor willkürlichen Entscheidungen bieten und den Ermessenspielraum der Behörden begrenzen (EGMR, Application no. 10795/14 – Kharitonov v Russia, Rn. 38 ff).

All das lassen Art. 41 und 55 DSA vermissen. Nutzer*innen sind am Verfahren gemäß Art. 41 und 55 DSA nicht beteiligt, gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Umsetzung der Netzsperren durch Hosting-Provider oder Registries kommt für sie nicht in Betracht. Art. 55 DSA sieht für Anordnungen gegenüber sehr großen Online-Plattformen zwar vor, dass dies im „Einklang mit den Grundrechten der Charta“ geschehen müsse. Angesichts der Grundrechtsbindung der EU- und nationaler Behörden ist diese Formulierung rein deklaratorischer Natur. Ein „mehr“ an Vorhersehbarkeit oder eine Eingrenzung des Ermessens der DSA-Aufsichtsbehörden folgt daraus nicht.

Fazit

Der Vorschlag der Berichterstatterin, dass Aufsichtsbehörden Netzsperren gegen Plattformen als einstweilige Maßnahme verhängen können, ist wenig durchdacht und mit den Grundrechten unvereinbar. Bei aller Sympathie für den Ruf nach harten Sanktionen, die Plattformunternehmen zur Einhaltung europäischer Gesetze bewegen, darf der Gesetzgeber über diesen Wunsch nicht das eigentliche Ziel aus den Augen verlieren – einen Rechtsrahmen für das Internet zu schaffen, der die Ausübung der Grundrechte und den freien, demokratischen Diskurs fördert. Wer Aufsichtsbehörden mit der nuklearen Option einer vollständigen Plattformsperrung ohne Gerichtsbeschluss ausstattet, leistet diesem Ziel einen Bärendienst. Es bleibt zu hoffen, dass die Absurdität dieser Forderung den Verhandlungsparteien im Europaparlament bewusst wird und der Kompromissentwurf schnell wieder in der Schublade verschwindet.


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