19 May 2015

Dublin ist gescheitert: Thesen zum Umbau des europäischen Asylsystems

Wer in Europa Zuflucht sucht, bekommt es mit dem so genannten Dublin-System zu tun: In der Dublin-Verordnung ist geregelt, welcher europäische Staat sich um welchen Asylbewerber kümmert. Das Dublin-System dient von seinem Ursprung im Schengenrecht her primär Staateninteressen. Jeder Flüchtling soll innerhalb des Kooperationsraumes ein Asylverfahren erhalten, die Zuständigkeit dafür soll effizient geklärt werden, wobei zentraler Zuordnungsgrund der Ersteintritt ist (Verursacherprinzip). Die Aufnahme-, Anerkennungs- und Verfahrensstandards innerhalb des Kooperationsraumes sollen überall menschenrechtsgerecht sein, abgelehnte Asylbewerber sind rasch abzuschieben. Gegen irreguläres Betreten soll der Kooperationsraum effizient abgesichert werden, ein Anspruch Schutzsuchender auf reguläres Betreten ist nicht vorgesehen.

Dieses System ist gescheitert. Flüchtlinge stranden unter unzumutbaren Bedingungen in Transitstaaten oder sterben auf der Suche nach Schlupflöchern zu Tausenden, das Schlepperwesen blüht. Die innereuropäische Zwangszuordnung übergeht humanitäre Zuordnungsinteressen, zusammen mit fortdauernd unterschiedlichen Anerkennungschancen, Aufnahmebedingungen und Lebenschancen in den Dublin-Staaten führt das zu irregulären innereuropäischen Wanderungen, untertauchenden Schutzsuchenden, aufwendigen behördlichen und gerichtlichen Mehrfachbefassungen, langfristig getrennten Familien und suboptimalen Integrationsverläufen. Die fehlende Lastenteilung führt zum Boykott des Systems auch durch die Ersteintrittsstaaten. Dass inzwischen mehr Menschenrechtsschutz erstritten worden ist, hat das Dublin-System aufwendiger gemacht. Soweit es nicht ohnehin einem Vollzugsdefizit anheimfällt, wird es immer mehr zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens.

Das Scheitern des Dublin-Systems beruht auf der Missachtung eine Reihe von teils menschenrechtlich radizierten Prinzipien, von denen sich ein System der koordinierten Wahrnehmung von Flüchtlingsverantwortung leiten lassen sollte, wenn es denn human, solidarisch und effizient sein will. Diese Prinzipien kommen in unterschiedlichen Rechtsquellen zum Ausdruck und lassen sich als übergeordnete Gesetzmäßigkeiten plausibel machen. Ich leite sie hier nicht her, sondern benenne sie nur: Das Mindeststandardprinzip besagt, dass Schutzsuchende nicht einem Staat zugeordnet werden dürfen, dem es an einem Mindestmaß an Menschenrechtsschutz fehlt. Das Prinzip lag durch die Fiktion der innerhalb des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ überall menschenrechtsgerechten Verhältnisse lange Jahre im Dornröschenschlaf, durch die Rechtsprechung des EGMR zu Griechenland ist es wiederauferstanden. Das Erreichbarkeitsprinzip besagt, dass der Schutzstaat, dem jemand zugeordnet wird, für ihn auf zumutbare Weise erreichbar sein muss. Im Dublin-System ist das meist unproblematisch. Das Verbindungsprinzip besagt, dass ein Schutzsuchender ggf. demjenigen Staat zugewiesen werden sollte, zu dem er Sonderverbindungen hat. Verbindungsinteressen werden derzeit im Dublin-System nur in sehr engen Grenzen berücksichtigt. Das Effizienzprinzip besagt, dass die endgültige Zuordnung möglichst rasch und unaufwendig geklärt werden sollte. Im Dublin-System ist das wie gesagt nicht der Fall. Das Lastenteilungsprinzip besagt, dass bei der Verteilung der Schutzsuchenden die Belastbarkeit der beteiligten Staaten berücksichtigt werden sollte. Sowohl im Dublin-System als auch in der globalen Verteilung von Flüchtlingsverantwortung harrt es noch der Implementation. Das den Dublin-Raum beherrschende Verursacherprinzip ist als Leitlinie der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung nicht nur nicht rechtlich geboten, sondern hinsichtlich Humanität, Solidarität und Effizienz kontraproduktiv.

Die europäischen Abgrenzungspraktiken (Visapolitik, Zäune, Frontex, Carrier-Sanktionen, Nachbarschaftspolitik) sind Ausdruck des fehlenden globalen Lastenteilungskonsenses und Reaktion auf Wanderungsbewegungen angesichts global allzu ungleich verteilter Lebenschancen. Legale Zugangsmöglichkeiten zu schaffen ist angesichts der tödlichen Realfolgen dieser Praktiken ein Gebot der Humanität. Rechtlich zwingend ist die Beachtung des refoulement-Verbots, des Verbots der Kollektivausweisung und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz überall dort, wo effektiv Hoheitsgewalt ausgeübt wird, auch auf dem Mittelmeer. Für Kooperationen mit Drittstaaten gilt, dass auch europäische Beihilfehandlungen zum drittstaatlichen Umgang mit Schutzsuchenden menschenrechtsverletzend sein können. Im Auge zu behalten ist hier insbesondere das Menschenrecht auf Ausreise. Zukunft haben Kooperationsformen mit Drittstaaten, die sich der Fluchtursachen- und der Lastenteilungsproblematik stellen und den Standardaufbau unterstützen. Als inhuman, destabilisierend und letztlich ressourcenverschwendend werden sich Kooperationsformen herausstellen, die sich auf Kontrolle, Abwehr und Outsourcing beschränken.

Für die Angleichung der Standards und Lebenschancen, innereuropäisch und erst recht global, gibt es keine rasche Lösung. Solange die Asymmetrien fortbestehen, ist u.a. in Europa das Bedürfnis nach Abgrenzung und Aufrechterhaltung der Kontrolle – bzw. angesichts der Vollzugsdefizite: auch nur des Anscheins von Kontrolle – groß. Realistischer als ein plötzlicher Systemwechsel ist ein allmählicher Systemumbau. Wichtiger als die Suche nach der richtigen Lösung ist es insofern, mit Schritten in die richtige Richtung zu beginnen. Diese Richtung lautet: weniger Ressourcen in Abwehr, Abgrenzung und Kontrolle; mehr Ressourcen in den humanen, effizienten und solidarischen Umgang mit letztlich nicht kontrollierbaren Migrationsbewegungen; dazu insbesondere Stärkung des Verbindungs- und des Lastenteilungsprinzips und Abbau von Zuordnungszwängen; Entwicklung von Bewusstsein für die Chancen, nicht nur Lasten, die diese Richtungsänderung mit sich bringt.

Humanitäre Visa und intensivierte Seenotrettung sind erste Maßnahmen, zu denen es gegenwärtig keine humanitär akzeptable Alternative gibt. Seenotrettung und Lastentragung sollten entkoppelt werden. Man stelle sich vor, Nothelfer bei Straßenverkehrsunfällen hätten die Krankenhauskosten zu tragen. Wir würden anfangen, Unfallstellen weiträumig zu umfahren. Genau das findet unter der Herrschaft des Verursacherprinzips im Mittelmeer statt. Humanitäre Visa (Zugang zu einer Vorprüfung in Drittstaaten mit Einreiseberechtigung bei voraussichtlicher Schutzwürdigkeit) gäben auch Menschen eine Chance, die es unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht bis nach Europa schaffen. Aus menschenrechtlichen Gründen und wegen der Gefahr des standardsenkenden Outsourcings ist für Kooperationen mit Drittstaaten zu fordern, dass das Menschenrecht auf Ausreise respektiert wird und dass Flüchtlinge nicht ohne Rechtsschutz in Drittstaaten zurückgedrängt werden, auch wenn es dort Vorprüfverfahren gib. Die Ablehnung in externen Vorprüfungen darf nicht dazu führen, dass Betroffene kein Asylverfahren erhalten, wenn sie dennoch einreisen.

Langfristig human und effizient kann – das zeigen die Dublin-Realitäten – nur ein System der Zuordnung von Schutzsuchenden zu Staaten sein, das mit den Zuordnungsinteressen der Schutzsuchenden arbeitet, nicht gegen sie. Das spricht, solange nicht die Zwangszuordnung überhaupt aufgegeben wird, mindestens für eine deutliche Stärkung des Verbindungsprinzips: Wichtige, unterstützende, integrationsförderliche Sonderverbindungen von Schutzsuchenden zu bestimmten Staaten sollten bei der Zuordnung berücksichtigt werden, auch jenseits kernfamiliärer Beziehungen.

Ohne konsentierte Lastenteilung – auch das zeigen die Dublin-Realitäten – kann ein Kooperationssystem nicht dauerhaft effizient sein. Es etablieren sich systemunterlaufende Praktiken zu Lasten der Schutzsuchenden und der Staaten. Das gilt nicht nur für innereuropäische Kooperationen. Anstelle einer maximalen Abgrenzungsorientierung Europas sollte folglich auch die globale Lastenteilung stets mitbedacht und international thematisiert werden.

Lastenteilig wäre die Aufnahme von Schutzsuchenden nach prozentualen Anteilen, die mit Rücksicht auf Belastbarkeit kalkuliert sind. Hierfür ist aus Menschenrechts- und Effizienzgründen zu fordern, dass bei der Verteilung humanitäre Zuordnungsinteressen berücksichtigt werden – insbes. Mindeststandardprinzip und Verbindungsprinzip – und effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Als Zwangszuordnungssystem wird eine personelle Quotenlösung bürokratisch sein und wegen der ungleichen Standards an Effizienzgrenzen stoßen. Die diskutierten Reformalternativen (insbes. freie Asylwahl; europäische Freizügigkeit anerkannt Schutzberechtigter) wären als (teil)zwanglose Zuordnungssysteme unter Humanitäts- und Effizienzgesichtspunkten vorzuziehen, werfen unter ungleichen Standards aber Lastenteilungsfragen auf und erfordern ein derzeit schwer durchsetzbares Ausmaß an mitgliedstaatlicher Kontrollaufgabe. Letzteres gilt auch für – teils noch wenig durchdachte – Ansätze, Asylverfahren und/oder Aufnahmeleistungen zu zentralisieren statt zu harmonisieren.

Solange man sich zu einem Systemwechsel noch nicht entschließen kann, sollte mindestens mit Schritten in die richtige Richtung, im Sinne eines allmählichen Systemumbaus, begonnen werden: Das Verbindungsprinzip sollte durch eine Klausel gestärkt werden, wonach Dublin-Überstellungen ausscheiden, wenn Schutzsuchende zum Inland (großzügiger als bisher definierte) Sonderverbindungen haben, zum Zielstaat aber nicht. Zur Stärkung des Lastenteilungsprinzips wäre einstweilen eine Kombination von „weiter wie bisher“ mit rechnerischer Quote und ggf. finanziellem Überlastungsausgleich denkbar. Unterstützt werden sollten als Einstieg in grundsätzlichere Neuorientierungen partielle, systemisch innovative Ansätze wie Zuteilung begrenzter Kontingente nach Quote (z.B. für Empfänger humanitärer Visa, auf hoher See gerettete Schutzsuchende, resettlement-Flüchtlinge) oder zwangreduzierende Pilotprojekte mit nur einem Teil der Dublin-Staaten (z.B. Absprachen, wechselseitig auf Dublin-Überstellungen zu verzichten).


One Comment

  1. Nora Markard Tue 19 May 2015 at 18:50 - Reply

    Gewohnt pointiert und klug geschrieben – leider ohne das von mir so geliebte St. Florians-Prinzip! Dieses aber steckt in dem ebenfalls sehr schönen Aufsatz “Das Verbindungsprinzip im fragmentierten europäischen Asylraum”, der bald in der EuR 3/2015 erscheint und allseits zur Lektüre empfohlen sei.

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