03 December 2009

EGMR korrigiert Karlsruhe in Sorgerechtsfrage

Schon wieder rumpeln Straßburg und Karlsruhe in einem Fall aneinander, wo es um die Rechte unverheirateter Väter geht. Die deutsche Regelung, wonach uneheliche Väter nach der Geburt nicht gegen den Willen der Mutter ein gemeinsames Sorgerecht durchsetzen können, hatte das Bundesverfassungsgericht 2003 gebilligt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dagegen hält dies für eine Diskriminierung (Art. 14 EMRK) unehelicher Väter sowohl gegenüber Müttern als auch gegenüber ehelichen Vätern und obendrein für einen Eingriff in deren Recht auf Familienleben (Art. 8 I EMRK).

Das zentrale Argument des Bundesverfassungsgerichts (Erster Senat) war im Grunde der alte römische Rechtsgrundsatz: Mater semper certa est. Bei unverheirateten Eltern sei der Vater oft gar nicht klar, oder jedenfall nicht da oder sonstwie herrschten schlampige Verhältnisse. Das Wichtigste sei, dass das Kind einen handlungsfähigen gesetzlichen Vertreter hat. Daher gehe es in Ordnung, die Mutter in solchen Konstellationen zu bevorzugen und die Rechte der Väter hintanzustellen.

Ich will da gar nicht richten: Dass es für das Kind nicht gut ist, wenn sich Vater und Mutter vor Gericht um das Sorgerecht prügeln, leuchtet mir ein; dass es für den Vater furchtbar ist, wenn die Mutter ihm die Sorge für sein Kind einfach vorenthalten kann, genauso. Das ist eine der heikelsten und schwierigsten Konstellationen, die das Recht überhaupt zu regeln unternimmt.

Aber offenbar sind es gerade solche ultra-hard cases, die zu Kollisionen zwischen Verfassungsgericht und EGMR führen. 2004 hatte das BVerfG (allerdings der Zweite Senat) im Görgülü-Beschluss geurteilt, dass die deutschen Familienrichter die EGMR-Rechtsprechung zwar beachten müssen, andererseits aber keinesfalls “schematisch vollstrecken” dürfen – letzteres, um den Vorrang des Verfassungs- vor dem Völkerrecht zu verteidigen. In Straßburg kam das nicht gut an. EGMR-Präsident Lucius Wildhaber erinnerte damals im Spiegel daran, dass sich die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik aus der EMRK auch auf das bundesdeutsche Verfassungsrecht erstrecke und mahnte, dass man schließlich auch der Türkei auf die Finger steige, wenn diese ihre nationale Souveränität über ihre EMRK-Verpflichtungen zu stellen versuche.

In seinem jetzigen Urteil bemüht sich das Straßburger Gericht erkennbar, die Kollegen aus Karlsruhe nicht zu reizen. Die Gründe des BVerfG-Urteils werden sämtlich als erwägens- und bedenkenswerte Gesichtspunkte aufgeführt. Nur leider sei im Ergebnis halt kein Grund erkennbar, warum man deshalb ganz generell und umfassend Vätern verweigern sollte, ihren Fall gerichtlich prüfen zu lassen. Im konkreten Fall sei von schlampigen Verhältnissen keine Rede, die Vaterschaft stehe fest, der Vater habe anfänglich mit Mutter und Kind zusammengelebt und sich die ganze Zeit über um das Kind und sein Verhältnis zu ihm gekümmert.

Da ist schon was dran.

Bleibt nur zu hoffen, dass das BVerfG die Korrektur hinnimmt und nicht bei nächster Gelegenheit zum Gegenschlag ausholt. Das wäre weder Vätern noch Müttern noch Kindern zu gönnen.

Interessant ist auch, dass der EGMR sich offenbar als eine Art Heger und Pfleger einer gemeinsamen europäischen Grundrechtekultur begreift: Die EMRK sei ein lebendiges und entwicklungsfähiges Instrument und müsse den Gegebenheiten der Gegenwart mit ihrer wachsenden Zahl unehelicher Kinder angepasst werden. Zwar gebe es keinen europäischen Konsens, aber “the common point of departure in the majority of Member States appears to be that decisions regarding the attribution of custody are to be based on the child’s best interest and that in the event of a conflict between the parents such attribution should be subject to scrutiny by the national courts” (RNr. 60).

Zum Hintergrund des Falls Miriam Hollstein in der Welt.

Update: Das Bundesjustizministerium weiß offenbar nicht so recht, wie es reagieren soll. Eine Studie, die gegebenenfalls Reformbedarf durch die zunehmende Normalisierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften ermitteln soll, wird erst 2010 fertig sein. Aus der Pressemitteilung:

Der Gerichtshof beurteilt nicht die abstrakte Gesetzeslage, sondern einen Einzelfall. Angesichts der Bandbreite von rechtspolitischen Möglichkeiten wird das Bundesjustizministerium die Debatte über gesetzgeberische Änderungen jetzt sorgfältig und mit Hochdruck führen.

“Sorgfältig und Mit Hochdruck Debatte führen” verpflichtet zu nix, kann aber andererseits nie schaden…


3 Comments

  1. egal Thu 3 Dec 2009 at 13:32 - Reply

    Ein gutes Urteil. Die jetzige Regelung ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Dass Karlsruhe dies dann auch noch abgenickt hatte, machte diese Regelung nicht besser.

    Sowieso war das deutschsprachige Europa der einzige Bereich, wo sich das noch halten konnte. Alle anderen Länder vergeben das gemeinsame Sorgerecht unabhängig vom Familienstatus. Schon peinlich, dass Deutschland für die Entstaubung des Familienrechts Hilfe von außen bekommen muss.

  2. Dietrich Herrmann Fri 4 Dec 2009 at 00:03 - Reply

    Man kann Karlsruhe und den anderen Akteuren nicht den Vorwurf machen, sie hätten 2003 leichtfertig beraten und entschieden. In der mündlichen Verhandlung wurden neben den Beteiligten des Ausgangsverfahrens allerhand Experten, Vertreter von Fachvereinigungen und Lobby-Organisationen gehört. Nach flüchtiger Lektüre des 2003-Urteils scheint mir der Kern des Urteils – und damit auch des Dissenses mit dem heutigen Beschluss aus Straßburg (so, oder “Strasbourg”, aber bitte nicht “Strassburg”; dieser Hinweis sei mir als Süddeutschem gestattet) – eine sogenannte Tatsachenfeststellung zu sein.
    In Rn. 49f. schreibt das Gericht: “Diese Zahlen (aus der Studie eines Vaskovics von 1997) lassen nicht darauf schließen, dass nichteheliche Kinder inzwischen in der überwiegenden Zahl der Fälle in eine häusliche Gemeinschaft von Mutter und Vater hineingeboren werden. Auch für die Annahme, dass der Vater eines nichtehelichen Kindes bei dessen Geburt zusammen mit der Mutter in der Regel die Verantwortung für das Kind tragen will, fehlen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte.”

    Ich glaube, genau über die Einschätzung der Tatsachen liegt heute ein deutlich anderer Konsens vor, der dann eben auch zu anderen Schlussfolgerungen führt. Im Grunde muss man den Karlsruhern, aber auch den beteiligten Akteuren im Vorfeld der 2003-Entscheidung, den Vorwurf machen, nicht hinreichend die Tatsachen und selbstverständlich auch die Prognosen hinsichtlich wahrscheinlicher weiterer Entwicklung in der Gesellschaft bedacht zu haben. Gewiss konnte und kann man nicht erwarten, genaue Prozentzahlen zu prognostizieren, wieviele nichteheliche Kinder nach ihrer Geburt mit beiden Elternteilen zusammenleben (diese Statistik als ein Indikator für die Absicht nicht verheirateter Eltern, gemeinsam für das Kind zu sorgen), aber den Akteuren hätte auch 2002/03 klar sein können, dass wir in der Gesellschaft zunehmend heterogenere gelebte Vorstellungen und Modelle des familiären Zusammenlebens vorfinden, ohne dass ein bestimmtes als dominant kategorisiertes Modell damit als Grundlage für eine rechtliche Regelung genommen werden kann, die dann aber auch andere, alternative Lebensmodelle erfasst. Dies war, so würde ich behaupten, auch 2002 schon absehbar.

    Der Fall macht also zum einen deutlich, welche bedeutende Rolle die Ermittlungen von Tatsachen und die Prognose künftiger Entwicklungen für den Ausgang eines Falls haben.

    Zum anderen zeigt der Fall, wie sich gerade in gesellschaftlichen Dingen Einstellungen, aber auch bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten verändern. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht – vor allem als Gericht, dass für sich die Letztentscheidungskompetenz reklamiert – sich gegenüber solchen Veränderungen offen zeigen muss. Konkret heißt das, dass einerseits selbstverständlich dem Gesetzgeber bei veränderten Rahmenbedingungen die Veränderung einer zuvor als verfassungsgemäß beurteilten Norm möglich ist (Also – in Übereinstimmung mit E 77, 84 (1. Senat 6.10.1987; anders immer noch der 2. Senat – (unverständlich)) – KEIN Normwiederholungsverbot). Gleichzeitig müssen natürlich auch die Instanzgerichte bei vorliegenden Fällen stets die Verpflichtung wahrnehmen, die Aktualität bestimmter Annahmen von Verfassungsgerichtsentscheidungen zu überprüfen und ggf. erneut vorzulegen, auch wenn Karlsruhe – freilich unter Berücksichtigung anderer Rahmenbedingungen – zuvor eine sachlich verwandte Verfassungsbeschwerde oder Richtervorlage abgewiesen hat.
    Als ebenso für Verfassungsinterpretation verantwortliche Akteure müssen wir als Gesetzgeber, als Instanzrichter, als Bürger die Möglichkeit wahrnehmen, durch neue Gesetze, durch Richtervorlagen oder durch Verfassungsbeschwerden mit dem Gericht in Diskurs zu treten. Ohne neue Gesetze, ohne Richtervorlagen, ohne Verfassungsbeschwerden können die Karlsruher gar nichts machen.
    In Rn. 28 der Entscheidung von 2003 hatte die Bundesregierung zugesagt, sie werde die Entwicklung weiter beobachten. War wohl eher eine Floskel. Hätten die das ernster genommen, wäre Deutschland (und zwar allen drei Gewalten, aber auch der Öffentlichkeit) nun eine Blamage erspart worden.

    Drittens nun zum EGMR:
    Ein paradigmatisch idealer Fall für Straßburg, haben da doch die innerstaatlichen Akteure offenbar “gepennt”, wenn man das mal so flapsig sagen kann. In einem so offensichtlich erscheinenden Fall stellt sich die Frage nach der Hierarchie der beiden Gerichte und ihrer Entscheidungen nicht: Allem Anschein nach hat Straßburg offenbar das bessere Argument auf seiner Seite – so jedenfalls meine Wahrnehmung der ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit. Wenn jetzt deutsche Akteure den Straßburger Richterspruch akzeptieren und in der Folge die Rechtslage in Deutschland korrigieren, so hat dies prima facie nichts mit dem Konkurrenzverhältnis zwischen Straßburg und Karlsruhe zu tun, sondern einfach, weil die Straßburger Argumentation überzeugender erscheint als die des Karlsruher Urteils von 2003.
    Gelingt es den Straßburgern jedoch, mehrerer solcher Fälle zu “finden”, kann das mittelfristig auch positive Auswirkungen auf seine Deutungsmacht haben – gerade in Konkurrenz zu Karlsruhe.

  3. Dietrich Herrmann Mon 7 Dec 2009 at 14:49 - Reply

    Das SPon-Interview mit einem Betroffenen ist doch recht erhellend:

    http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,665585,00.html

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