EGMR: Kruzifix-Urteil reloaded
Bald eineinhalb Jahrzehnte ist es her, dass das BVerfG für seine Verhältnisse unerhörte Dresche bezog für sein Kruzifix-Urteil, wonach “Lernen unter dem Kreuz” mit der Glaubensfreiheit nicht-christlicher Schüler und dem Erziehungsrecht nicht-christlicher Eltern kollidieren kann.
Jetzt kommt aus Straßburg ein Urteil, das in die gleiche Richtung zielt: Geklagt hatte eine Italienerin, die ihre beiden Söhne laizistisch erziehen will und sich daran durch das Kreuz im Klassenzimmer gehindert sah. Vor den italienischen Behörden und Gerichten hatte sie kein Glück, weil diese – Italia felice! – kurzerhand befanden, das Kreuz sei ein Symbol italienischer Geschichte, Kultur und Identität, ein Zeichen von Toleranz und Gleichheit und Freiheit und, jawoll, der säkularen Werte der italienischen Verfassung.
Der EGMR sah das anders: Mit einem Kruzifix im Klassenzimmer würden die Schüler
feel that they were being educated in a school environment bearing the stamp of a given religion.
Der italienische Staat, so die Richter laut Pressemitteilung,
was required to observe confessional neutrality in the context of public education, where attending classes was compulsory irrespective of religion, and where the aim should be to foster critical thinking in pupils.
Auf die jesuitischen Begründungen der Instanzgerichte, warum das mit dem Kreuz prima mit der Religionsfreiheit vereinbar sei, reagiert man in Straßburg leicht säuerlich:
The Court was unable to grasp how the display, in classrooms in State schools, of a symbol that could reasonably be associated with Catholicism (the majority religion in Italy) could serve the educational pluralism that was essential to the preservation of a “democratic society” as that was conceived by the Convention, a pluralism that was recognised by the Italian Constitutional Court.
Ich zähle zwar das Kruzifix im Klassenzimmer nicht zu den dringlichsten Menschenrechtsproblemen, die wir in Europa haben. Und für atheistische Glaubenskrieger, die nach dem Motto “es gibt keinen Gott und ich bin sein Prophet” handeln, habe ich wenig übrig. Aber gerade in einem Staat wie Italien, wo das Verhältnis zwischen Kirche und Staat immer noch ein politisches Issue ist, finde ich eine solche Entscheidung richtig und begrüßenswert.
Spannend wird, ob sich jetzt ein ähnlicher Proteststurm gegen Straßburg entwickelt wie 1995 gegen Karlsruhe.
Die deutsche EGMR-Richterin Renate Jaeger, die 1995 als Richterin am BVerfG am Kruzifix-Urteil mitgewirkt hatte, war diesmal nicht beteiligt.
Die Informationen, die ich über die Entscheidung und ihre Hintergründe habe, sind dürftig; deshalb will ich bei meinem Kommentar viele denkbare Aspekte außen vor lassen.
1. Es handelt sich ja beim Kruzifix um die Kollision von negativer Religionsfreiheit einerseits sowie positiver Religionsfreiheit (wird zwar immer wieder behauptet, steht aber, so meine ich, eher im Hintergrund) und dem Kruzifix/Kreuz als Symbol andererseits. Kreuz als Symbol für was? Für eine Gemeinschaft, die klassischer Weise eine konfessionell überwiegend homogene war. Bildung und Erziehung lag in vielen Ländern (nicht zuletzt eben auch Italien, Deutschland und USA) in den Händen der Kirchen. Mit der institutionellen Trennung von Kirche und Staat geht den Schulen zwar das kirchliche, nicht notwendiger Weise auch das religiöse abhanden. Zudem werden die Gesellschaften konfessionell und weltanschaulich heterogener, woraus das Potenzial zur Sichtbarwerdung des Konflikts wächst.
Die Frage bleibt offen (das wurde auch in der Auseinandersetzung nach dem deutschen Kruzifix-Konflikt nie geklärt), ob das Kreuz für bestimmte Glaubensinhalte steht (so 1995 die Mehrheit des Ersten Senats, aber auch die katholische Kirche), oder insgesamt für eine zu definierende christlich-abendländische Kultur (so das Sondervotum 1995, aber auch viele politische Kruzifix-Beschluss-Kritiker). Die Folge für die Verfassungsinterpretation ist klar: Als Symbol für Glaubensinhalt wäre es unzulässig; als Symbol für die Kultur vermutlich nicht.
2. Der Grundkonflikt, der sich in Fällen wie Kruzifix, Kopftuch, LER, Schulgebet manifestiert, ist letztlich das Böckenförde-Paradoxon: “Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann” (EW Böckenförde, “Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation” [1967]). Brauchen liberale Verfassungsstaaten Bezugnahme auf Transzendenzen, die systematisch wie historisch vor ihrer Entstehung liegen?
Es hat den Anschein, dass gerade in den letzten Jahren immer mehr Theoretiker diese Frage bejahen (nicht zuletzt Habermas …). Solche Transzendenzen, die nicht notwendiger Weise (wenngleich im mitteleuropäischen Raum seit dem Mittelalter fast ausschließlich) religiös-kirchlicher Natur sein müssen, brauchen dann aber auch ihre Symbole, weshalb man dann irgendwie an Kreuzen oder deren funktionalen Äquivalenzen kaum noch vorbei kommt.
3. Zur Entscheidung des EGMR:
Mir scheint, dass der EGMR die Lektion aus dem Kruzifix-Beschluss und den vielen Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court zu Fragen der Rolle von Religion im öffentlichen Raum nicht gelernt hat:
Solchen Fällen wohnt eine Spannung inne, die ein Gericht nicht einfach mit einem Urteil auflösen kann, gleich wie das Urteil ausfällt. Lösungsmöglichkeiten könnten also sein:
a) den Fall auf der engsten möglichen Grundlage zu entscheiden, d.h. so entscheiden und begründen, dass daraus im Grunde keinerlei Präzedenzwirkung ausgeht, dass die Entscheidung also nicht verallgemeinerbar ist (diese Taktik wendet der Supreme Court inzwischen oft an).
b) in irgendeiner Weise den Ball zurück spielen in die Sphäre der Politik und der Gesellschaft (im konkreten Fall von der europäischen hin zur italienischen! – den Fall soll (in Gottes Namen, möchte man sagen) Italien für sich klären!), sonst zieht das Gericht, wie auch immer es entscheidet, den Protest auf sich, ohne das der zu Grunde liegende Konflikt in irgend einer Weise gelöst wäre. Es ist die Gesellschaft, die solche Fragen bearbeiten muss, das kann nicht im Gerichtssaal geklärt werden. Diese Taktik wendete der Zweite Senat beim Kopftuch-Urteil an, was politisch klug, wenn auch rechtsdogmatisch höchst fragwürdig war (aber wen außer den Staatsrechtlern, so fragt der Politikwissenschaftler, interessiert schon Rechtsdogmatik?).
c) ein “Vergleich” wie bei LER scheint mir schwer vorstellbar, wenngleich nicht unmöglich.
d) letzter Ausweg ist (hilft bei höchstinstanzlichen Gerichten eigentlich immer, wenn es um Fälle an Schulen geht, es sei denn, die Kläger haben viele Kinder) die Klageberechtigung zu hinterfragen – so mogelte sich der amerikanische Supreme Court lange Zeit um Entscheidungen zum Schulgebet etc. herum.
Insgesamt scheint mir (wie gesagt, mir fehlen noch Hintergrund-Infos), dass die Straßburger hier recht unbedarft agiert haben, was verwundert, da z.B. die Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte, ein loses Netzwerk der Verfassungsgerichte, bei ihrer Konferenz 1999 in Warschau aus gegebenem Anlass (Kruzifix-Beschluss) Religionsfreiheit im Verfassungsrecht thematisierte. Institutionelles Lernen Fehlanzeige?
Wie ich gerade bei SPIEGEL online lese, entwickelt sich in Italien gerade die Empörung. Kein Wunder, dass sie nun gegen Europa geht (dass der EGMR keine EU-Institution ist, hat allerdings auch SPIEGEL online zuerst nicht kapiert.
Ich kann da auch nur spekulieren, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich der EGMR durch die Begründungen der italienischen instanzgerichtlichen Urteile (die ich im Original allerdings nicht kenne) herausgefordert fühlte – liest sich ein bisschen so, finde ich. Ich meine, zu sagen, dass das Kreuz geradewegs den säkularen Werte der Verfassung symbolisiert, das geht doch auch echt ein bisschen weit, oder?
Im Übrigen teile ich dieses Misstrauen (wenn ich das beim EGMR denn richtig diagnostiziert habe) gegenüber Beteuerungen, das sei doch alles nur Kultur und keine Religion. Dahinter scheint mir der gleiche Hegemonialanspruch in leichter Verbrämung zu stecken: Wir sind hier Christen und ihr seid Fremde. Leitkultur, ick hör dir trapsen.
Im Übrigen bin ich auch sehr für Judicial Selfrestraint. Dass der EGMR mit solchen Urteilen nichts zu gewinnen hat, sehe ich genauso. Und was die Rechtsdogmatik betrifft, so ist das Urteil ja jetzt nicht gerade ein Schmuckstück subsumtorischen Scharfsinns. Liest sich fast eher wie SCOPUS in extensive mood.
Zur EuGH-Verwechslung: ZEIT Online hatte das zunächst als EuGH-Urteil gemeldet und getwittert. Ironie daran: Ich hatte denen einen Artikel dazu angeboten. Haben sie abgelehnt, sei doch nur ein italienisches Thema und nix für einen Autorenbeitrag. Dann hat irgenein ahnungsloser Nachrichtenredakteur eine Agenturmeldung dazu vergewaltigt, und jetzt haben sie die Blamage, hehe.
Nur kurz ein häufiges Missverständnis aufklärend:
Wenn die Italiener meinen, das Kreuz sei ein Symbol ihrer Verfassung, so geht diese spezifische Logik (für einen Juristen vermutlich schwer verdaulich) folgender Maßen:
“Verfassung” steht für “politische Ordnung”/Gemeinwesen, das wird wiederum identifiziert mit der italienischen Kultur, Nation oder Zivilisation, und schon haben wir es geschafft. Auch wenn die italienische Verfassung vom Text her natürlich säkular ist, so ist sie das in der Realität natürlich nicht, denn für das italienische Verständnis der italienischen Verfassung gehört selbstverständlich die italienische Perspektive dazu mitsamt Geschichte und Tradition, und da kommen wir natürlich ohne den katholischen Subtext nicht aus. Das macht ja gerade das Böckenförde-Paradoxon aus.
Das Grundgesetz ist ja abgesehen von der Präambel und den unbedeutenden Artikeln zum Religionsunterricht auch säkular, und dennoch fühlten sich die Bayern durch den Kruzifix-Beschluss herausgefordert, ihre althergebrachte Ordnung stehe in Gefahr. Es geht also, so wird erwartet, bei der Verfassungsinterpretation nicht nur um die Interpretation des Textes, sondern auch des kulturellen und historischen Kontextes, und der ist eben dezidiert nicht säkular (das gilt übrigens auch für die Menschenrechtscharta).
Noch krasser ist das ja übrigens in Frankreich, wo es – dem Namen nach – nicht um Neutralität, sondern um Laizismus (nicht einmal Laizität) geht. Spannend wird es dann immer, wenn es um die Rechte der “anderen” geht.
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