21 October 2013

EGMR schafft sich das blutige 20. Jahrhundert vom Hals

Kriegsverbrechen aus der Nazi- und Stalin-Ära und andere Entsetzlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts können nur in sehr engen Grenzen zum Gegenstand einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gemacht werden. Das ist die Konsequenz der heutigen Entscheidung der Großen Kammer des EGMR in Sachen Katyn.

In dem Fall geht es um die Ermordung Zigtausender polnischer Offiziere und anderer Angehöriger des Bürgertums durch die sowjetische Geheimpolizei nach dem Überfall Stalins und Hitlers auf Polen 1940. Die Nachkommen der Opfer warteten jahrzehntelang vergeblich darauf, dass dieses Massenverbrechen richtig aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch nach dem Ende der Sowjetunion 1990 und dem Beitritt Russlands zur EMRK 1998 änderte sich das nicht grundlegend.

Die Große Kammer will weder das Massaker noch den Umgang der russischen Behörden danach als Verstoß gegen Russlands Verpflichtungen aus der EMRK gelten lassen. Die Kammerentscheidung, die das noch zumindest teilweise anders sah, hat sie kassiert. Nur den Unwillen Russlands, bestimmte als geheim klassifizierte Dokumente zugänglich zu machen, hat sie verurteilt, was aber den Klägern und der hinter ihnen stehenden polnischen Gesellschaft für ihr Anliegen, ihren ermordeten Angehörigen Gerechtigkeit zu verschaffen, überhaupt nichts hilft.

Der Genozid von Katyn fand 1940 statt, also mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor Russland der EMRK überhaupt beigetreten ist. Die Konvention gilt nicht rückwirkend. Aber wenn ein Mitgliedsstaat nach dem Beitritt ein vorher begangenes Massaker nicht aufklärt und die Angehörigen über das Schicksal der Opfer im Dunklen lässt, dann kann das seinerseits die EMRK verletzen.

Seit 2009 erkennt der EGMR an, dass Art. 2 (Recht auf Leben) auch durch Taten verletzt sein kann, die vor dem Beitritt zur Konvention begangen wurden – wenn diese einen von zwei Tests erfüllen: Entweder muss die Tat eine “echte Verbindung” (genuine connection) zum Inkrafttreten der Konvention aufweisen, d.h. spätestens die Konvention hätte dem Staat tatsächlich Beine machen müssen, die Sache endlich aufzuklären. Ausnahmsweise könne eine Verletzung auch in Frage kommen, wenn das nicht der Fall sei – nämlich dann, wenn das “zum Schutz der Garantien und zugrundeliegenden Werte” der Konvention nötig sei.

Das klingt genauso vage und vieldeutig wie es ist. Und der Katyn-Fall gibt dem EGMR Gelegenheit zu klären, wie er diese Tests genau verstanden wissen will. Das Ergebnis: Er will sie so restriktiv wie möglich verstanden wissen.

Historische Wahrheit allein genügt nicht

Zunächst stellt er klar, dass es den Klägern tatsächlich darum gehen muss, zivil-, straf- oder disziplinarrechtlich die Verantwortlichen zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen. Das bloße Interesse an der historischen Wahrheit genüge nicht.

Restriktiv legt die Große Kammer auch die Tests aus, an die die Rückwirkung der Konvention geknüpft ist. Von einer “echten Verbindung” könne man nur bei Taten sprechen, die nur wenige Jahre vor dem Beitritt passiert sind – nicht mehr als zehn. Und auch dann dürfe es sich nicht um einen Fall handeln, in dem die Fakten im Wesentlichen schon feststehen. Was hier aber der Fall sei.

Ältere Taten kämen nur in Frage, wenn sie den zweiten Test passieren und den Schutz der fundamentalen Werte der Konvention unterminieren. Das sei bei einem Kriegsverbrechen und Genozid wie Katyn zweifellos der Fall. Allerdings habe es die Konvention 1940 überhaupt noch gar nicht gegeben. Taten, die nicht nur vor dem Beitritt, sondern sogar vor der Entstehung der EMRK 1950 liegen, können auf keinen Fall darunter fallen.

Damit hat die Richtermehrheit einerseits die 2009 gesäte Unsicherheit zwar wieder eingefangen und die Rückwirkung der Konvention auf Fälle beschränkt, die tatsächlich noch irgendwie im Wirkungsradius der EMRK angesiedelt sind. Ob sie damit dem Rechtsfrieden einen besonderen Gefallen getan haben, scheint mir allerdings zweifelhaft.

Von wegen Rechtsfrieden

Mit diesem Urteil hat die EGMR-Richtermehrheit eine Chance vergeben, die Konvention ihre befriedende Wirkung entfalten zu lassen, und zwar an einer Stelle, wo dies bitter Not getan hätte. Katyn ist eine offene Wunde am Leib der polnischen Nation, ein genozidales Megaverbrechen, das mitnichten allein auf das Jahr 1940 datierbar ist, sondern jahrzehntelang fortdauerte. Die Angehörigen wurden belogen, bedroht und systematisch um jede Chance gebracht, für die an ihren Vätern oder Ehemännern begangenen Verbrechen irgendeine Gerechtigkeit zu erfahren. Und das hörte auch nach 1990 nicht wirklich auf.

Die Vorinstanz hatte das immerhin noch als unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK qualifiziert. Anders die Große Kammer: Als unmenschliche Behandlung könne man Fälle werten, in denen Regierungen Menschen verschwinden lassen. Da werde den Angehörigen zusätzlich angetan, im Ungewissen über das Schicksal ihrer Lieben verharren zu müssen. Das sei hier aber nicht der Fall. Es sei doch längst zweifelsfrei geklärt, was aus den Opfern geworden ist – sie sind tot.

Die Große Kammer macht noch eine knappe zeremonielle Verbeugung vor dem Leid der Angehörigen der 21.000 ermordeten Polen, um dann festzustellen, dass dies im Interesse der Rechtssicherheit leider kein hinreichender Grund sei, von seiner etablierten Rechtsprechung abzuweichen.

Vielsagende Sondervoten

Dass dies kein normaler Fall ist, zeigen auch die Sondervoten: Der russische Richter und sein polnischer Kollege haben jeder ein Einzelvotum veröffentlicht, und offenkundig haben beide keine Angst davor, in den Verdacht zu geraten, ihre nationale Sichtweise über die neutral-konventionsrechtliche gestellt zu haben. Jedenfalls findet der Russe, dass  im Mehrheitsurteil noch viel zu viel von Rückwirkung die Rede ist, während der Pole seinerseits sich mit den zeitlichen Beschränkungen des Mehrheitsvotums genauso wenig abfinden will wie mit dessen Ergebnissen.

Vier weitere Richter sind aber ebenfalls deutlich anderer Meinung als die Kammermehrheit: Ihnen leuchtet schon mal überhaupt nicht ein, wie die Mehrheit zu ihrem Standpunkt kommt, zum Zeitpunkt des EMRK-Beitritts Russlands 1998 sei die Untersuchung im Wesentlichen schon abgeschlossen gewesen – wenn 2004 die russischen Behörden die Untersuchungsakten bändeweise zu Staatsgeheimnissen erklären und auch sonst das Verfahren vor Ungereimtheiten strotzt.

Generell scheint mir wie offenbar auch dem Minderheitsvotum die Entscheidung von der Überzeugung getragen, es müsse so etwas wie einen “Schlussstrich unter die Vergangenheit” geben – als sei die Aussicht, ein weit zurückliegendes, aber immer noch seine giftige Wirkung entfaltendes Verbrechen auf der Bühne des Gerichts zu reinszenieren, etwas Schlimmes und Verhütenswertes und nicht etwas Reinigendes und Befriedendes.

Das widerspricht nicht nur aller Erfahrung, sondern wirft auch ein schlechtes Licht auf das Selbstbewusstsein dieses Gerichts.

 


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