06 March 2014

EGMR zur FIAT-Affäre: Ein Bußgeld ist Strafe genug

Sie nannten ihn l’avvocato, den Anwalt: Giovanni Agnelli, der legendäre FIAT-Chef und verhinderte Jurist, hätte sich vielleicht über den Sieg gefreut, den seine früheren Geschäftsfreunde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) errungen haben. Weil sie von der Börsenaufsicht bereits mit einem Bußgeld wegen Marktmanipulation belegt wurden, darf gegen sie in der selben Sache kein weiteres Strafverfahren angestrengt werden, urteilte eine EGMR-Kammer in einer gestern veröffentlichten Entscheidung.

Die Gruppe italienischer Industrieller, die es nach Straßburg gezogen hatte, ist ebenso betagt wie illuster: Der 85-jährige Franzo Grande Stevens war früher Vize-Präsident von FIAT (und Juventus Turin). Gianluigi Gabetti, 89 Jahre alt, ein Weggefährte des FIAT-Patriarchen Giovanni Agnelli, und Virgilio Marrone, 67 Jahre, besetzten jahrelang Führungspositionen im Geflecht der Holdings, mithilfe derer die Agnelli-Familie FIAT und weitere Firmen kontrolliert.

In der Sache Grande Stevens u. a. ./. Italien wenden sich die Industriekapitäne a. D. gegen ihre Behandlung durch die italienische Börsenaufsicht Consob und die Justiz. Zuerst hatte die Börsenaufsicht millionenschwere Bußgelder wegen verbotener Marktmanipulation gegen die Beschwerdeführer verhängt – nach deren Aufassung in einem rechtsstaatlich mangelhaften Verfahren. Dann strengte die Staatsanwaltschaft auch noch ein Strafverfahren gegen die Beschwerdeführer an – aus deren Sicht eine verbotene Doppelbestrafung.

Marktmanipulation mit falschen Informationen

Die Börsenaufsicht und die Staatsanwaltschaft gingen gegen Grande Stevens und seinen Kollegen vor, weil diese 2005 mit dubiosen Tricks die bedrohte Hausmacht der Agnelli-Familie bei FIAT verteidigt hatten. Der 30%-Anteil der durch Agnelli kontrollierten Exor-Holding drohte damals teilweise an Banken überzugehen, nachdem der angeschlagene FIAT-Konzern einen Kredit nicht rechtzeitig zurückgezahlt hatte. Mithilfe der US-Investmentbank Merill Lynch besorgte sich daher Exor rechtzeitig weitere FIAT-Aktien, um den Anteilsverlust auszugleichen. Währenddessen ließ Exor öffentlich verlauten, man gedenke nicht, irgendetwas gegen den drohenden Anteilsverlust zu unternehmen. Aus Sicht der Börsenaufsicht hatten Grande Stevens und seine Kollegen die Öffentlichkeit also nicht, oder sogar falsch über die Ankäufe informiert, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet waren.

Schon das Verfahren der Börsenaufsicht missfiel der EGMR-Kammer, weil keine öffentliche Anhörung stattgefunden hatte – ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der verlangt, dass über eine Anklage “öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird”. Doch für die Beschwerdeführer dürfte der Erfolg in diesem Punkt verblassen gegenüber der Bescherung, die ihnen die EGMR-Kammer auf den folgenden Seiten bereitet: Die gegen sie noch anhängigen Strafverfahren müssen eingestellt werden, weil sie gegen das Verbot der Doppelbestrafung (“ne bis in idem”) in Art. 4 des 7. Protokolls zur EMRK verstoßen.

Autonomer Strafbegriff des EGMR

Wenn das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführer gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstößt, müssen also schon die Sanktionen der Börsenaufsicht eine Strafe im Sinne des “ne bis in idem”-Grundsatzes gewesen sein. Eine Lesart, die das italienische Recht explizit ausschließen will: Marktmanipulation und Insider-Trading sind mit Bußgeld bewehrt – “ungeachtet strafrechtlicher Sanktionen”.

Für den EGMR ist eine Strafe aber nicht schon deswegen keine Strafe mehr, weil sie im nationalen Recht “Bußgeld” heißt. Ob ein Strafverfahren vorliegt, beurteilt der EGMR – schon seit 1976 (Engel u. a. ./. Niederlande) – nach drei Kriterien: Wie qualifiziert das nationale Recht das Verfahren? Welcher Art ist das vorgeworfene Delikt? Wie schwer ist die angedrohte Sanktion?

Ganz irrelevant ist das nationale Recht für die Frage, ob ein Strafverfahren obliegt, also nicht. Aber es hat, wie es der Gerichtshof ausdrückt, “nur relativen Wert” – in der Sache Grande Stevens u. a. ./. Italien ist es schlichtweg egal. Denn  unter dem “Bußgeld”-Deckmäntelchen erfühlt der EGMR mit allen Sinnen eine Strafe: Die Sanktionen der Börsenaufsicht funktionierten wie Strafrecht – sie schützten die “Allgemeininteressen der Gesellschaft” und zielten auf die Abschreckung potenzieller Wiederholungstäter. Außerdem hätten die Sanktionen der Börsenaufsicht auch ihrer Schwere nach den Namen “Strafe” verdient: Die Bußgelder waren hoch, außerdem wurden die Betroffenen zeitweise von der Führung ihrer Unternehmen ausgeschlossen und erlitten einen Rufschaden.

Vorbehalt wirkungslos

Da nützt auch der Einwand Italiens nichts, man habe gegen die Anwendung von Art. 4 des 7. Protokolls zur EMRK auf Verwaltungssanktionen einen Vorbehalt eingelegt. Denn diesen Vorbehalt hält die Kammer für unwirksam. Art. 57 Abs. 2 EMRK verlangt nämlich, dass ein Vorbehalt mit einer kurzen Darstellung des Gesetzes verbunden sein muss, für das der Vorbehalt die Anwendung der EMRK verhindern soll – doch genau diese Darstellung hatte Italien nicht beigefügt.

Beim EGMR sorgt die Entscheidung in der Sache Grande Stevens u. a. . /. Italien also für Kontinuität. Der Gerichtshof bestätigt seine “ne  bis in idem”-Rechtsprechung, der ein eigenständiges und weites Verständnis des Strafverfahrens zugrunde liegt. Für einen Bruch aber sorgt die Entscheidung in Italien: Die Affäre um die Marktmanipulationen der FIAT-Holdings ist – zumindest juristisch – erledigt.


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