Eigentumsrecht versus Schutz von Leben und Gesundheit
Wohnungslosigkeit und die Räumung besetzter Wohnungen in der Pandemie
Die Grundregeln für den Infektionsschutz in der Pandemie sind: Abstand halten, Hände waschen und zu Hause bleiben. Für Menschen, die kein Zuhause haben, ist das aber gar nicht möglich. Der schon länger geführte Konflikt um das private Eigentumsrecht und die Wohnungskrise in den Städten verschränkt sich in der Corona-Pandemie mit dem Konflikt um einen gleichen Infektionsschutz. Verschiedene Beispiele zeigen, dass der Staat seinen Pflichten zum Schutz besonders vulnerabler Gruppen gegen das potentiell tödliche und gesundheitsschädigende Corona-Virus nicht ausreichend nachkommt.
Staatliche Schutzpflichten
Wohnungslose leben im öffentlichen Raum und können sich den Gefahren der Pandemie nur schwer durch privaten Rückzug und regelmäßige Handhygiene entziehen. Beengte Notschlafplätze und Massenunterkünfte, die Wohnungslosen für die Nacht zur Verfügung stehen, bieten keinen ausreichenden Infektionsschutz. Viele verbringen die Nacht daher lieber auf der Straße. In der jetzigen Winterzeit kann die Nacht im Freien jedoch zum Kältetod führen. Wohnungslosigkeit wird in der Corona-Krise daher in besonderer Weise zur Gesundheits- und Lebensgefährdung. Der Staat hat gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK eine Verpflichtung, sich schützend vor das Leben und die Gesundheit aller Menschen zu stellen. Wie die staatlich Verantwortlichen der Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nachkommen, ist ihre Entscheidung, sie müssen aber effektive Maßnahmen für einen wirksamen Grundrechtsschutz ergreifen und dürfen das Untermaßverbot nicht verletzen (zur Pflicht der Legislative BVerfGE 88, 203 (254), Schwangerschaftsabbruch II). Nach Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK ist der Staat verpflichtet, alle erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben zu schützen und ein Risiko für das Leben zu vermeiden (EGMR 9.6.1998, 23413/94, Rn. 36, L.C.B./Vereinigtes Königreich; EGMR 20.3.2008, 15339/02, Budayeva ua/Russland, Rn. 128 ff.). In der Gesundheitskrise kommt er diesen Verpflichtungen jedoch nicht ausreichend nach.
Hausbesetzung, Eigentumsschutz und Gesundheitsschutz
Dass der Staat seine Pflichten gegenüber besonders vulnerablen Personen in der Pandemie nicht erfüllt, wird exemplarisch beim unzureichenden Schutz von Wohnungslosen deutlich. Daher kämpfen Wohnungslose und solidarische zivilgesellschaftliche Initiativen in verschiedenen Städten um menschenwürdige Unterkünfte in der Pandemie. In Berlin und Hannover wurden leerstehende Wohnungen besetzt. In Berlin sind rund 30 Wohnungslose am 29. Oktober 2020 in sieben leerstehende Wohnungen in der Habersaathstraße eingezogen, bis sie nach wenigen Stunden polizeilich geräumt wurden. Der Gebäudekomplex in Berlin Mitte war als Schwesternwohnheim der Charité bis 2006 in öffentlicher Hand und wurde dann privatisiert. Die aktuelle Eigentümerin betreibt eine Entmietungspolitik, um die 106 gut erhaltenen Mietwohnungen abreißen zu lassen und durch hochpreisige Eigentumswohnungen zu ersetzen. Der Bezirk Mitte erteilte zunächst eine Abrissgenehmigung. Erst durch den Protest der wenigen verbliebenen Mieter:innen zog der Bezirk Mitte die Genehmigung zurück und stellte eine Rekommunalisierung in Aussicht. Seitdem stehen die entmieteten Wohnungen jedoch leer. Die Besetzung im Oktober sollte den Druck auf den Bezirk Mitte erhöhen, die Wohnungen wieder als Wohnraum für Menschen zugänglich zu machen, die gerade im Winter und in der Pandemie dringend eine Unterkunft brauchen. Dennoch räumte die Polizei die Wohnungen und setzte die Betroffenen wieder auf die Straße.
In Hannover hatte die Stadt zu Beginn der Pandemie rund 100 Obdachlose in einer Jugendherberge, einem Hotel und einem Naturfreundehaus untergebracht. Dieses Programm lief jedoch im Herbst aus. Weil die Stadt nicht handelte, forderte die Initiative „Sonst besetzen wir“ eine menschenwürdige Einzelunterbringung für alle Wohnungslosen. Sie plakatierte in der Stadt „Sonst besetzen wir!“ und später „Jetzt besetzen wir!“. Anfang Dezember beteiligten sich über 800 Menschen an einer Demonstration – unter anderem mit dem Transparent „Stay at Home geht nur mit Zuhause!“. Zeitgleich wurden unbewohnte städtische Häuser der Roten Siedlung in der Schulenburger Landstraße besetzt. Noch am selben Abend wurde von der Polizei geräumt und die Stadt zeigte die Besetzer:innen wegen Hausfriedensbruch an.
An diesen Beispielen wird nicht nur die verfehlte Boden- und Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte deutlich, die die Wohnraumversorgung ökonomischen Interessen unterordnet und Wohnraum zum Spekulationsobjekt macht anstatt Boden und Wohnraum als kollektive Ressourcen für eine angemessene Wohnraumversorgung zu erhalten (z.B. Art. 28 Berliner Verfassung). Es zeigt sich darüber hinaus, dass sich die öffentliche Hand der Verantwortung für den Gesundheits- und Lebensschutz für besonders vulnerable Gruppen in konkreten Konfliktkonstellationen entzieht und bereit ist, das private Eigentumsrecht einer GmbH sowie ihr eigenes Eigentumsrecht über den Schutz fundamentaler Rechtsgüter von Wohnungslosen zu stellen. Der Eigentumsschutz ist, wie Art. 14 GG deutlich formuliert, nicht absolut, sondern wird durch die demokratischen Gesetze und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums beschränkt. Nach den polizeilichen Generalklauseln kann bei gegenwärtiger Gefahr für „Leib und Leben“ der Betroffenen eine sogenannte Obdachloseneinweisung auch gegen den Willen der Eigentümerin erfolgen – jedenfalls befristet bis eine alternative Unterkunft gefunden wurde. Als Alternative kommen die während der Pandemie leerstehenden Hotelzimmer infrage. Diese können von Kommunen zur Einzelunterbringung von Wohnungslosen angemietet werden. Die Räumungen waren also nicht die einzigen staatlichen Handlungsmöglichkeiten. Das Auswahlermessen hätte auch zugunsten einer befristeten Duldung der Besetzungen ausgeübt werden können. Zudem hätte die erneute Obdachlosigkeit der Betroffenen durch konkrete Unterbringungsangebote verhindert werden müssen. Aufgrund der fundamentalen Bedeutung der betroffenen Grundrechte besteht bei drohender Obdachlosigkeit eine Ermessensreduzierung auf Null.
Der Druck der Besetzer:innen hatte inzwischen in beiden Städten – begrenzten – Erfolg. Die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin Mitte forderte in der Dezember-Sitzung das Bezirksamt auf, die unbewohnten Wohnungen zu beschlagnahmen und Obdachlosen als Wohnraum zu überlassen – ob es dazu kommen wird, ist derzeit jedoch fraglich. In Hannover wurden von zwei privaten Stiftungen Hotelzimmer für die Wohnungslosen für vier Monate angemietet. Ab Januar 2021 ist ein Folgeprojekt der Stadt Hannover verfügbar.
Wen schützt der Staat?
Die Beispiele aus Berlin und Hannover zeigen, dass konkrete Kämpfe um Wohnraum wichtig sind und Druck von unten erzeugt werden muss, um die politisch Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen. Solchen Druck wird es weiterhin brauchen. Das machen zwei aktuelle Beispiele aus Hessen zur besonders prekären Lage von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft deutlich. Die Stadt Frankfurt am Main eröffnet obdachlosen Unionsbürger:innen, die nach deutschem Recht keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen haben, im Winter nur Schlafmöglichkeiten in einer U-Bahn-Unterführung und nicht in geschlossenen Räumlichkeiten. In Neustadt hat sich in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete rund die Hälfte der 600 Bewohner:innen mit dem Corona-Virus infiziert – ein Ergebnis der katastrophalen Unterbringungspolitik in der Pandemie. Die politisch Verantwortlichen haben die Gesundheits- und Lebensgefährdung der Geflüchteten bewusst in Kauf genommen. Dies verstößt gegen die Grundrechte der Betroffenen und die daraus folgenden staatlichen Schutzpflichten. Die Nichtinfizierten wurden außerdem unter Massenquarantäne gestellt. Ihnen wurde untersagt, das Gelände zu verlassen. Die pauschale Anordnung der Quarantäne ohne die Prüfung, ob es einen Erstkontakt zu Infizierten gegeben hat, dürfte eine Freiheitsberaubung darstellen und gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verstoßen.
Wen oder was schützt also der verfassungsrechtlich garantierte Sozialstaat? Die Konflikte um privates Eigentum, Wohnraum und Infektionsschutz verweisen – um ein größeres Bild aufzumachen – auf die Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus und seine ungleichheitsproduzierenden Effekte. Sie werfen damit die Frage nach einer neuen sozialen Demokratie auf, die durch kollektive und bedürfnisorientierte Formen des Zusammenlebens dem destruktiven Kapitalismus etwas entgegensetzen kann. Verfassungsrechtlich betrachtet – um das aufgemachte Bild wieder zu verkleinern – darf die Pandemiepolitik sich jedenfalls nicht darin erschöpfen, die Interessen der wirtschaftlich Starken und ihr Überleben in der Krise zu sichern. Vielmehr gewährleisten die Grundrechte in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ebenso wie Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK, dass auch diejenigen ohne starke Lobby in angemessener Weise vor einer Infektion mit dem Corona-Virus geschützt werden. Für Wohnungslose mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft sowie für Geflüchtete kann dies nur die Einzelunterbringung bedeuten – sei es in Hotelzimmern oder in leerstehenden Wohnungen.
Da zitiere ich doch gerne Karl Marx aus seinem Vorwort zur „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.
Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. ”
Das Recht taugt nach dieser Auffassung höchstens als institutioneller Rahmen für ein effizientes Wirtschaften und als Reparaturbetrieb für die Produktionsverhältnisse („Schutz vor Wohnungslosigkeit“). Die Frage im letzten Absatz des Artikels „nach einer neuen sozialen Demokratie“, “die durch kollektive und bedürfnisorientierte Formen des Zusammenlebens dem destruktiven Kapitalismus etwas entgegensetzen kann“, zeugt dagegen meines Erachtens nur von Hybris. Joseph Schumpeter sprach in Zusammenhang mit Kapitalismus von „schöpferischer Zerstörung“. In Hinblick auf den technischen Fortschritt (Künstliche Intelligenz, Gentechnik) wird der Kapitalismus gegenüber „kollektiven und bedürfnisorientierte Formen des Zusammenlebens“ leistungsfähiger sein. Und der Verzicht auf Künstliche Intelligenz und Gentechnik dürfte nur in die Irrelevanz führen. Destruktivität hin oder her.