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05 December 2021

Ein Beschluss mit weitreichenden Folgen

Das Recht auf schulische Bildung nach der Schulschließungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Anerkennung eines Rechts auf schulische Bildung durch das Bundesverfassungsgericht greift weit über die Frage pandemiebedinger Schulschließungen hinaus. Sie stellt das bisher objektiv-rechtlich begründete Bildungsverfassungsrecht auf eine neue Grundlage – das hat dogmatische und praktische Konsequenzen.

Schulschließungen ‚im Schatten‘ der verfassungsrechtlichen Debatte

Während die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangssperren nach der „Bundesnotbremse“ unter Verfassungsrechtler:innen heiß diskutiert und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber mit großer Spannung erwartet wurde, schienen die Schulschließungen nach § 28b Abs. 3 IfSG damaliger Fassung eher eine verfassungsrechtliche Randfrage. Nur einige haben – wie der Verfasser wiederholt, unter anderem auf diesem Blog – darauf hingewiesen, dass es sich um erhebliche Eingriffe in Grund- und Menschenrechte handelt. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat diesen (Gesamt-)Eingriff durch die wiederholten Schulschließungen – in ausführlicher Auseinandersetzung mit Darlegungen von Sachverständigen und Verbänden – nun als „schwerwiegend“ gewertet (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21, 1069/21, u.a. Rn. 153, 199). Im Ergebnis sieht der Senat die Belastungen der Schüler:innen aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens, des fehlenden Impfschutzes und der ‚Abmilderung‘ durch Notbetreuung und Distanzunterricht als „noch“ zumutbar an (Rn. 199). Er zeigt aber auch deutliche Hürden für zukünftige pandemiebedingte Schulschließungen auf. An dieser Stelle kann auf die überzeugenden Analysen von Johanna Wolff und Heiko Sauer verwiesen werden.

Recht auf schulische Bildung – ein „neues“ Grundrecht?

So überraschend die Anerkennung des „Rechts auf schulische Bildung“ und die damit einhergehende ‚Subjektivierung‘ des Art. 7 Abs. 1 GG auf den ersten Blick sein mag: Grundrechtsdogmatisch ist sie zwangsläufig – was sich nicht zuletzt in der Einmütigkeit der Verfassungs:richterinnen widerspiegelt: „Das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht der Kinder und Jugendlichen ist … das subjektiv-rechtliche ‚Gegenstück‘ zur objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG, schulische Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die deren Persönlichkeitsentwicklung dienen“ (Rn. 48). Bei dieser Herleitung handelt es sich um einen Meilenstein für das Bildungsverfassungsrecht. Das wird bei einem Blick in die Kommentarliteratur deutlich: Dort findet sich zwar bei fast allen Kommentator:innen des Art. 7 GG ein kurzer Verweis auf das „Recht auf Bildung“, meist zusammen mit der Bemerkung, das Bundesverfassungsgericht habe die Frage, ob das Grundgesetz ein solches enthalte, bislang offengelassen.  Eine Fortentwicklung des Bildungs- und Erziehungsauftrags systematisch als Komplement eines subjektiven (Grund-)Rechts auf schulische Bildung als Teil des Persönlichkeitsgrundrechts von Kindern und Jugendlichen (dazu Isabel Lischewski) zu denken, geht hingegen auf wenige Vorreiter zurück. Genannt seien Ekkehard Stein, Hans D. Jarass, Christine Langenfeld und Johannes Rux, der sein Lehrbuch zum Schulrecht schon bislang konsequent am Recht auf Bildung orientiert. Dass manche Kommentierung zu Art. 7 GG jetzt in den einführenden Teilen neu geschrieben werden muss, ist in Zeiten des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ zwangsläufig.

Spannend bleibt, welche rechtsdogmatischen Konsequenzen aus dem Beschluss in einzelnen Fragen des Bildungsrechts gezogen werden – abseits von Schulschließungen und ähnlichen abwehrrechtlichen Beschränkungen. Dem Ersten Senat war wohl bewusst, dass die Anerkennung des Rechts auf schulische Bildung grundrechtsdogmatisch breiter angegangen werden musste, weshalb er in der Entfaltung des ‚neuen‘ Rechts – insoweit stimme ich der Analyse von Martin Nettesheim zu – weit über das hinausgegangen ist, was für die Beantwortung der konkret zur Entscheidung stehenden Frage von Schulschließungen erforderlich war. So entfaltet das Gericht das Recht auf schulische Bildung in „verschiedenen Gewährleistungsdimensionen“ (Rn. 44) – und zeigt gleichzeitig deren Grenzen auf. Im Folgenden möchte ich einen ersten, sehr knappen (und damit vorläufigen) Versuch wagen, die weiteren Implikationen des Beschlusses mit Blick auf einige verfassungs- und schulrechtliche Fragen jenseits des Abwehrrechts aufzuzeigen.

Die europa- und völkerrechtliche Rückbindung

Dabei ist zunächst auffällig, wie deutlich das Verfassungsgericht sich beim dogmatischen Ausbuchstabieren des Grundrechts an das europa- und völkerrechtliche Recht auf Bildung rückkoppelt. Das im Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG verankerte und mit dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG korrespondierende Recht stehe, so betont das Gericht, in seinen verschiedenen Gewährleistungsdimensionen „in Einklang mit der völkerrechtlichen Gewährleistung eines ‚Rechts auf Bildung‘ und Unionsrecht“ (Rn. 66). Im Folgenden nimmt die Entscheidung Bezug auf Art. 13 IPwskR, Art. 28 UN-KRK, Art. 2 des 1. ZP EMRK, Art. 22 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Art. 24 UN-BRK sowie Art. 14 EU-GRCh. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Rechtsprechung insbesondere des EGMR zum Recht auf Bildung wesentliche Gewährleistungen bereits entwickelt hat, für die es in der deutschen Verfassungsrechtsprechung (noch) keine Entsprechung gibt, etwa beim Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildungseinrichtungen oder angemessenen Vorkehrungen für Schüler:innen mit Behinderung. Zwar bleibt es weiterhin dabei, dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht dazu verpflichtet sieht, die Rechtsprechung des EGMR zwangsläufig in die nationale Grundrechtsjudikatur zu übernehmen (maßgeblich sind weiterhin die Grundsätze aus der Görgülü-Entscheidung). Es wird aber klar, dass das Gericht – auch wenn es in einzelnen Fällen gegebenenfalls zu anderen Ergebnissen kommen mag als etwa der EGMR – beim Recht auf Bildung hinter den menschenrechtlichen Standards auf europäischer und internationaler Ebene nicht zurückbleiben möchte.

Das wird auch an der Stelle deutlich, wo der Senat auf den UN-Sozial- und Kinderrechtsausschuss zur Corona-Pandemie Bezug nimmt, um einen Anspruch auf effektiven Distanzunterricht bei länger andauernden Schulschließungen als „unverzichtbaren Mindeststandard“ des Rechts auf schulische Bildung zu begründen (Rn. 172). Hier knüpft der Erste Senat an die Judikatur des Zweiten Senats an, der bei Grundrechtsfragen zumindest eine ernsthafte „Auseinandersetzung“ mit den Stellungnahmen der UN-Fachausschüsse verlangt und diesen ein „erhebliches Gewicht“ zuspricht, auch wenn er sie für die Verfassungsrechtsprechung – zu Recht – als nicht verbindlich betrachtet (BVerfGE 151, 1 – Wahlrechtsausschluss, Rn. 65). Überhaupt bemüht sich der Senat erkennbar, seine Rechtsprechung in einen transnationalen, europäischen Verfassungsrechtsdiskurs einzuordnen, wenn er etwa im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit Blick auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in der Corona-Pandemie wiederholt auf die Judikatur des Conseil Constitutionnel, des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs und des tschechischen Verfassungsgerichts verweist (Rn. 123, 135).

Die Gewährleistungsdimensionen und ihre dogmatischen Folgen

Im Maßstäbeteil seines Beschlusses entfaltet der Erste Senat das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG abgeleitete Recht auf schulische Bildung in drei Gewährleistungsdimensionen, die aber nicht als abgeschlossener Katalog betrachtet werden können (das Gericht spricht mehrmals von „verschiedenen“ Dimensionen). So werden beispielsweise die in der allgemeinen Grundrechtsdogmatik anerkannte Schutzpflichtfunktion und auch der Grundrechtsschutz durch Verfahren und Organisation nicht ausdrücklich angesprochen.

Mit Blick auf die Leistungsdimension des Grundrechts betont das Gericht, das Recht auf schulische Bildung enthalte keinen „originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen“ (Rn. 51). In diesem Sinne stellt es in überzeugender Weise die Komplementarität zur staatlichen Schulaufsicht gemäß Art. 7 Abs. 1 GG her. In Bezug auf bildungspolitische Entscheidungen billigt das Gericht der Gesetzgebung traditionell einen „weiten“ bildungspolitischen Spielraum zu, der neben der Struktur und Organisation des Schulsystems, die inhaltlich-didaktische Ausgestaltung, Zugangs- und Übergangsentscheidungen zwischen den Bildungsgängen auch die Festlegung von Bildungs- und Erziehungszielen umfasst (Rn. 54). Deutlich wird, dass das Bundesverfassungsgericht nicht zu einer Arena für Streitfragen der Schul- und Bildungspolitik werden will. So könnten unter Berufung auf das Grundrecht von den Schülerinnen und Schülern weder neue Schulstrukturen verlangt, noch bestehende Strukturen gegen Änderungen verteidigt werden (Rn. 52). Sinnfällig kommt diese Zurückhaltung auch zum Ausdruck, wenn das Gericht bemerkt, aus dem Recht auf schulische Bildung könnten „keine individuellen Ansprüche auf die wunschgemäße Gestaltung von Schule abgeleitet werden“ (Rn. 55). Das wird manche enttäuschen, die hoffen, eine bessere oder gerechtere Bildungspolitik verfassungsrechtlich erstreiten zu können.

Anspruch auf einen „unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung“

Aber natürlich eröffnen sich hier auch verfassungsrechtliche Spielräume für die zukünftige Rechtsprechung. So deutlich die Abgrenzung zwischen den justiziablen Gewährleistungsgehalten des Bildungsrechts auf der einen Seite und der bildungspolitischen „Ausgestaltung“ des Schulsystems in der Entscheidung akzentuiert ist, so fließend sind die Übergänge, wenn es um konkrete Streitpunkte geht – etwa Fragen des diskriminierungsfreien Zugangs zu Bildungsgängen. Das pauschal zu kritisieren, ist unberechtigt. Denn die hierin liegende Unschärfe ist der Grundrechtsauslegung immanent und wird sich – nicht anders als bei anderen grundrechtlichen Gewährleistungen auch – durch die Entwicklung der Judikatur anhand konkreter Fallkonstellationen vermindern.

Das Verfassungsgericht sieht mit Blick auf die Leistungsdimension jedenfalls nur die „unverzichtbaren Mindeststandards schulischer Bildung“ (Rn. 54, 169) geschützt und stellt diese zusätzlich unter „einen Vorbehalt des Möglichen“ (Rn. 56), der aus Sicht des Gerichts auch die Entscheidung umfasst, „ob und inwieweit … die nur begrenzt zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel verwendet werden sollen“ (Rn. 56). Das klingt erstmal so, als ließe sich kaum etwas Konkretes als „unverzichtbarer Mindeststandard“ einfordern. Dass ein so weitgehender Spielraum der Politik aber auch nicht zugestanden werden soll, wird spätestens an der Stelle deutlich, wo das Gericht bei Schulschließungen einen „Anspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf Durchführung von Distanzunterricht“ als einklagbares unverzichtbares Minimum schulischer Bildung anerkennt (Rn. 173) und für zukünftige Schulschließungen deutlich stärkere Anstrengungen, vor allem bei der Digitalisierung, verlangt (Rn. 189-191). Das ist in der Sache gut begründet. Weitergehend wird man – nicht zuletzt in Verbindung mit der Judikatur zum Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Sozialstaatsprinzip) – auch die für den Fernunterricht notwendige digitale Ausstattung zumindest für bedürftige Schülerinnen und Schülern als einklagbares Minimum des Rechts auf Schulbildung ansehen müssen (dazu Felix Hanschmann).

Die Schulbildung, betont das Bundesverfassungsgericht, ist „neben der elterlichen Pflege und Fürsorge eine Grundbedingung dafür, dass sich Kinder und Jugendliche zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft entwickeln können“ (Rn. 58). Diese und weitere Passagen der Begründung (insb. Rn. 50) lassen keinen Zweifel daran, dass das Gericht an seiner Rechtsprechung zur besonderen Sozialisations- und „Integrationsfunktion“ (Böckenförde) der Schule festhalten wird. Auch das ist eine verfassungsrechtliche Richtungsweisung in einer Zeit, wo die Rufe nach einer generellen Anerkennung von Homeschooling als Alternative zur Schulpflicht erneut – auch in Teilen der Verfassungsrechtswissenschaft – lauter werden.

Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum Bildungssystem

Als derivative Leistungs- bzw. Teilhabedimension erkennt das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf „gleichen Zugang“ zu schulischer Bildung. Dieses sieht es als verletzt, wenn bestehende Zugangsvoraussetzungen „willkürlich oder diskriminierend ausgestaltet oder angewendet werden“ (Rn. 60). Ein solches Recht auf Nicht-Diskriminierung hat für verschiedene Bereiche des Bildungsrechts Relevanz. Das wird deutlich, wenn man sich die Rechtsprechung des EMGR zur ethnischen Segregation in Sonderschulen oder zur fehlenden Gewährung von angemessenen Vorkehrungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen – z.B. eine benötigte Assistenz beim Schulbesuch – anschaut. Das Bundesverfassungsgericht verweist hier unmittelbar auf Art. 24 Abs. 2 lit. a bis c UN-BRK und stellt fest, dass dieser „eine Diskriminierung behinderter Menschen beim Zugang zur Schule verbietet, … wobei … angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule zu ermöglichen“ (Rn. 69).

Auch der Verweis auf die UN-Antirassismuskonvention ist ein wichtiger Referenzpunkt. Praktisch wird das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum Schulsystem beispielsweise für asylsuchende Kinder und Jugendliche, die in Erstaufnahmeeinrichtungen oder AnKER-Zentren untergebracht sind und dort häufig nur Bildungsangebote unterhalb einer adäquaten Schulbildung erhalten. 

Kurzes Fazit

Auch wenn die weitere Entwicklung der Rechtsprechung abzuwarten bleibt, so kann die Schulschließungs-Entscheidung des Ersten Senats als richtungsweisend für das Bildungsverfassungsrecht angesehen werden. Zwar werden manche Hoffnungen auf zukünftige ‚bildungspolitische Weichenstellungen‘ aus Karlsruhe schnell enttäuscht werden. Dennoch hat der Beschluss sowohl dogmatisch als auch in seiner praktischen Bedeutung – über das Schulrecht hinaus – das Potenzial, zu einer der ‚großen‘ Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu avancieren.


One Comment

  1. Sebastian Bunse Mon 6 Dec 2021 at 08:59 - Reply

    Auch, wenn mich der Beschluss insgesamt überzeugt, irritiert m.E. die Schließung von Grund- und weiterführenden Schulen vom Senat im Ergebnis gleich beurteilt wird. Dass bei Grundschulen das unverzichtbare Mindestmaß bei Grundschulen im Ergebnis nicht durch Distanzunterricht gewahrt werden konnte (Anspruch auf Kompensation), stellt er ja immerhin fest (Rn. 147 ff.). Einen bitteren Geschmack hat auch die Feststellung, dass an “privilegierten Standorten” (Rn. 146) insgesamt weniger Unterricht ausgefallen ist (Gymnasien ggü. anderen Schularten). Wie verträgt sich das mit der diskriminierungsfreien Teilhabe an schulischer Bildung als Gewährleistungsdimension des “neuen” Grundrechts?

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