15 July 2021

Ein Dilemma, kein Staatsstreich

Eskalationsrhetorik im deutschen Verfassungsrecht, das PSPP-Urteil und das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland

Jetzt ist es also tatsächlich passiert: Das polnische Verfassungsgericht verneint in einem zentralen Bereich die Bindung an Entscheidungen des EuGH. Mit dem prinzipiellen Vorrang des Europarechts steht damit eine der fundamentalen Säulen der europäischen Integration in Frage. Ist der Vorgang vergleichbar mit dem, was das deutsche Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil getan hat? Natürlich nicht. Mehrfach ist bereits (zu Recht) darauf hingewiesen worden, dass das Bundesverfassungsgericht einerseits den Vorrang des Europarechts nicht generell in Frage stellt und andererseits in der konkreten Sache sogar eher mehr statt weniger gerichtliche Kontrolle durch den EuGH einfordert. Gleichwohl ging es auch in diesem Verfahren um die Reichweite des Vorrangs, und auch hier wurde im Ergebnis einer Entscheidung des EuGH (nach weithin vertretener Ansicht aus nicht überzeugenden Gründen) die Gefolgschaft verweigert. Dass die soeben angedeutete Differenzierung zumindest in der öffentlichen (politischen) Debatte keine wirkliche Rolle spielt, wurde denn auch bei der Verkündung der gestrigen Entscheidung deutlich, die an mehreren Stellen explizit auf das Bundesverfassungsgericht Bezug nahm und teilweise sogar auf deutsch erfolgte.

Dass diese Entwicklung im Hinblick auf Rechtsstaatsfragen im Allgemeinen und den Vorrang des Europarechts gerade der Kommission Sorge bereiten muss, kann niemanden überraschen. Die Kommission ist Hüterin der Verträge. Sie soll und muss für deren Einhaltung in den Mitgliedstaaten Sorge tragen. Der prinzipielle Vorrang des Europarechts gehört nach nicht ernsthaft bestrittener Ansicht zu den Prinzipien, deren Geltung die Kommission in diesem Zusammenhang sicherstellen soll.

Dementsprechend wird denn auch schon länger ein scharfes Vorgehen gegen Polen und auch Ungarn eingefordert. Die Europäische Union, so heißt es, könne sich ein solches Verhalten nicht gefallen lassen. Mit der gleichen Vehemenz wird allerdings von einigen und überaus prominenten Stimmen die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland kritisiert.

Nüchtern betrachtet gibt es durchaus gute Gründe, das Vorgehen der Kommission zu kritisieren. Gerade aus politischer Perspektive erscheint es auch aus unserer Sicht nicht sinnvoll auf diesem Wege weiter Öl in das Feuer eines Streites zu gießen, der für die Praxis im Prinzip (vorerst) beigelegt ist – anders als der Streit mit Polen. Andererseits gibt es durchaus Stimmen, die – etwa gestützt auf Vorstellungen des „legal pluralism“ – das Vorgehen der Kommission begrüßen. Es müsse nunmehr darum gehen, mit dem EuGH auch den zweiten Akteur in diesem Streit zu hören und seinen Anspruch auf unbedingten Vorrang noch einmal zu formulieren, um gewissermaßen den Gleichstand wieder herzustellen. Schon unmittelbar nach der Entscheidung des 5. Mai 2020 fanden sich hier auf dem Verfassungsblog Stimmen prominenter Staats- und EuroparechtslehrerInnen, die ein Vertragsverletzungsverfahren einforderten (etwa hier oder hier). So abwegig ist das alles also nicht, was die Kommission hier tut.

Das soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Was man jedoch zumindest als unstrittig ansehen müsste, ist die Dilemmasituation, in der sich die Kommission aktuell befindet. Sie soll einerseits effektiv gegen Polen (und perspektivisch auch Ungarn) vorgehen, darf dabei aber nicht den Eindruck erwecken, im Hinblick auf Vertragsverstöße zwischen den Mitgliedstaaten zu differenzieren. Insofern kann die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland durchaus als geschickt bewertet werden: Dieses muss ja am Ende keineswegs vor dem EuGH landen, es kann sich über Monate hinziehen, ohne dass es jemals zu einer Klage kommt, während die tatsächlich brandgefährliche Situation in Polen parallel um so schneller und effektiver mit allen Mitteln des Europarechts bekämpft werden kann.

Angesichts dieser komplexen Ausgangslage mutet es doch befremdlich an, in welch drastischer Form einige prominente Staatsrechtslehrer das Vorgehen der Kommission kommentieren. So spricht Klaus Ferdinand Gärditz in der FAZ von „einem Staatsstreich von oben“, den die Kommission hier einleiten wolle. Und Andreas Voßkuhle, maßgeblich an der umstrittenen Entscheidung beteiligt, unterstellt der Kommission als tiefere Motivation hinter dem Verfahren sogar den Versuch „auf kaltem Wege“ einen Bundesstaat zu errichten und warnt anschließend sogar vor einem „kollusiven Zusammenwirken“ europäischer Institutionen, vornehmlich der Kommission und dem EuGH, da deren Motivation anders schlicht nicht zu erklären sei. Den EuGH bezeichnet er in dieser Frage zudem als völlig „befangen“.

Nun erweist sich schon die Aussage der Befangenheit als ziemlich weit hergeholt. Sie wurzelt letztlich darin, dass der EuGH hier nicht nur über den Vorrang, sondern auch über eigene Kompetenzen entscheidet. Dass Gerichte die Grenzen der eigenen Zuständigkeit prüfen, ist offenkundig keine Seltenheit und in der Natur der Sache begründet – das Bundesverfassungsgericht tut dies ständig und hat sich anfangs sogar selbstständig zum Verfassungsorgan aufgeschwungen. Zudem: Heißt das, dass das Nichtbefolgen von EuGH-Urteilen in der EU generell sanktionslos bleiben muss, weil es in diesen Fällen keinen unabhängigen Gerichtshof gibt? Dass Polen diese Argumentation aufgreifen wird, dürfte zumindest ziemlich sicher sein. Im Übrigen fragt man sich zwangsläufig, ob nicht möglicherweise Andreas Voßkuhle selbst derjenige ist, der als kommentierender Experte und Verfassungsrechtsprofessor bei solchen Äußerungen in Anlehnung an seine Wortwahl „befangener gar nicht sein könnte“.

Voßkuhle ist nicht länger Mitglied des Bundesverfassungsgerichts. Aber erstens war er es bis vor kurzem und hat als solches an der jetzt vom EuGH ggf. zu untersuchenden Vertragsverletzung wie auch an der anschließenden PR-Kampagne zu ihrer Verteidigung höchstpersönlich und in exponierter Stellung mitgewirkt. Und zweitens hat er die Verhaltensleitlinien unterschrieben, die sich das Gericht 2017 selbst gegeben hat und die aktive wie ausgeschiedene Richter_innen darauf verpflichten, bei der Kritik an internationalen Gerichten Zurückhaltung walten zu lassen. 

Gravierender ist freilich der Umstand, dass die Äußerungen in beiden Fällen dem Terrain von Verschwörungstheorien bedenklich nahe kommen. Für ein „kollusives Zusammenwirken“ von Kommission und EuGH, für Voßkuhle das weit und breit einzig denkbare Motiv für das Vertragsverletzungsverfahren, gibt es keinerlei Anhaltspunkt. Was die Kommission motiviert hat, lässt sich im Gegenteil, wie dargelegt, durchaus nachvollziehen (was nicht heißt, dass man diese Motivation gut heißen muss). Wer wie Gärditz für die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens, in dem es der Sache nach um den seit Jahren im Prinzip etablierten Vorrang des Europarecht geht, wie er seit Jahrzehnten in Vorlesungen gelehrt wird, den Begriff eines „Staatsstreichs“ wählt, muss sich fragen lassen, welche Belege er für die darin implizierte Umsturzabsicht der Kommission anführen kann. Zumal die Prüfung, inwieweit Deutschland hier den Vorrang missachtet hat, nicht ernsthaft als Staatsstreich gewertet werden kann, was sich eben auch aus Gärditz‘ weiterem Beitrag selbst ergibt: Er zeigt darin Wege auf, wie der EuGH diese Rechtskrise unter Rückgriff auf Art. 4 Abs. 2 EUV einer wohltuend sachlichen Lösung zuführen könnte. Dazu, möchte man ergänzen, muss er aber doch erstmal gefragt werden. Wie soll das gehen, wenn schon die Einleitung eines solchen Verfahrens als Staatsstreich gesehen wird?

Die Lage ist komplex, und das Dilemma der Kommission ist real. Darauf sollte man sich unter Verfassungsrechtswissenschaftler_innen jedenfalls einigen können.  Dieses Anerkenntnis klingt allenfalls in Gärditz Ausführungen an. An einer weiteren Eskalation des Konflikts im europäischen Verfassungsgerichtsverbund kann niemand Interesse haben – ausgenommen die Akteure in Polen und Ungarn.


6 Comments

  1. Philipp Thu 15 Jul 2021 at 20:00 - Reply

    “fragt man sich zwangsläufig…”: Allenfalls kurz, denn dann man macht sich klar, dass “befangen” im rechtlichen Sinne nur ein Gericht sein kann, dass über einen Fall zu entscheiden hat…

  2. noobie Thu 15 Jul 2021 at 21:22 - Reply

    Viele schlagen auf das Bundesverfassungsgericht ein, weil es festgestellt hat, dass der EuGH seine Kompetenzen überschritten hat. Sie übersehen dabei, dass die Schuld vielmehr den EuGH trifft. Denn er hat seine Kompetenzen und die Kompetenzen anderer Organe der EU durch seine extensive Auslegung des EU-Rechts überdehnt, indem er dem EU-Recht und seinen Entscheidungen unbedingten und unbegrenzten Vorrang vor nationalem Recht zuspricht. Die Europäische Union kann jedoch schon deswegen nur begrenzte und aus nationalem Recht abgeleitete Kompetenzen haben, weil sie über keine ausreichende demokratische Legitimierung für weitergehende Kompetenzen verfügt; auch ihre demokratische Legitimität ist nur abgeleitet (Das EU-Parlament ist davon ausgenommen; es beherrscht aber nicht die Legislative). Der deutsche Gesetzgeber und wohl auch andere nationale Gesetzgeber dürften daher der EU keine unbegrenzten und nicht kontrollierbaren Kompetenzen übertragen. Mit der extensiven, überdehnenden Auslegung des EU-Rechts hat der EuGH sich und die EU erst angreifbar gemacht. Er stärkt so die Glaubwürdigkeit der — rechtlich nicht haltbaren — Argumente der polnischen Regierung. Dafür ist nicht das Bundesverfassungsgericht verantwortlich, auch wenn es das ausgesprochen hat. Wenn der EuGH bei seinen und den Kompetenzen der EU etwas maßvoller agieren würde, würde er die EU stärken.

    • Kaffeesatzleser Thu 15 Jul 2021 at 22:40 - Reply

      Könnten Sie mal ein Beispiel geben, wo der EuGH die Kompetenzen der EU unsachlich überdehnt hat?

    • Frank Müller Thu 15 Jul 2021 at 23:41 - Reply

      Ich will nicht Ihre allgemeinen Bemerkungen kommentieren, dass der EuGH seine Kompetenzen überdehnt habe, darüber lässt sich trefflich streiten. Im konkreten Fall aber sind die Prügel für das BVerfG sehr berechtig. Das zuvor ergangene EuGH-Urteil als “schlechthin nicht nachvollziehbar” zu bezeichnen und darauf sein Urteil aufzubauen, ist selbst schlechthin nicht nachvollziehbar und von vielen Verfassungsrechtlern – auch hier im Blog – deutlich kritisiert worden.

  3. Sigi Fri 16 Jul 2021 at 08:15 - Reply

    “Gravierender ist freilich der Umstand, dass die Äußerungen in beiden Fällen dem Terrain von Verschwörungstheorien bedenklich nahe kommen.” So kann man auch andere Meinungen diskreditieren.

  4. Kontrollinstanz Fri 16 Jul 2021 at 14:46 - Reply

    „Für ein „kollusives Zusammenwirken“ von Kommission und EuGH, für Voßkuhle das weit und breit einzig denkbare Motiv für das Vertragsverletzungsverfahren, gibt es keinerlei Anhaltspunkt. Was die Kommission motiviert hat, lässt sich im Gegenteil, wie dargelegt, durchaus nachvollziehen (was nicht heißt, dass man diese Motivation gut heißen muss). Wer wie Gärditz für die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens, in dem es der Sache nach um den seit Jahren im Prinzip etablierten Vorrang des Europarecht geht, wie er seit Jahrzehnten in Vorlesungen gelehrt wird, den Begriff eines „Staatsstreichs“ wählt, muss sich fragen lassen, welche Belege er für die darin implizierte Umsturzabsicht der Kommission anführen kann.“

    Die Zuspitzungen von Gärditz und Voßkuhle durch Termini wie Befangenheit oder Staatsstreich basieren auf der Rechtsprechung des EuGH selbst (zu lesen in den entsprechenden fachwissenschaftlichen Publikationen dieser Autoren), der gegenüber dem Handeln der eigenen Organe nie opponiert. Im Gegenteil: Verstöße gegen die GRCh und Europäisches Verfassungsrecht bleiben aufgrund der unebenen Kontrolltiefe und der unzureichenden Kontrolldichte des EuGH (gewollt) unentdeckt. Wer seinen eigenen Organen immer wieder europarechtswidrig den Rücken stärkt handelt zumindest unglaubwürdig.

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