Ein effektives Lieferkettengesetz?
Denkanstöße von der Fachtagung „Lieferkettengesetz – Made in Germany“ im September 2020 von Brot für die Welt, CorA-Netzwerk, ECCHR, Oxfam und ver.di für das Gesetzesvorhaben zu Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette
In den letzten Wochen hat sich die politische Debatte um die Vorlage eines Entwurfes für ein Lieferkettengesetz in Deutschland intensiviert. Derzeit wird auf Minister*innen-Ebene zwischen dem Bundesministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesministerium für Wirtschaft über den Gesetzesentwurf verhandelt, der im Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ angelegt ist. Uneinigkeit besteht aktuell neben Fragen des Anwendungsbereichs vor allem noch über den Haftungstatbestand – soll Haftung für Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferkette Teil des Gesetzes werden, und wenn ja, wie sollen Haftungsnorm und korrespondierende Vorschriften ausgestaltet sein? Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Politik sowie weitere Interessierte haben der Debatte im Rahmen der oben genannten Fachtagung neue Impulse gegeben. Im Kern war die Botschaft von Wissenschaft und Zivilgesellschaft eindeutig: Sollte das politische Tauziehen zu einem Entwurf ohne Haftungsnorm führen, können Menschenrechte und Umwelt durch das Gesetz nicht ausreichend geschützt, und Rechtsverletzungen nicht wirksam verhindert werden.
I. Kontextualisierung von Haftung
Bei der Frage nach der Aufnahme und Ausgestaltung einer Haftungsnorm kommt es neben Schadensersatz im Fall eines kausalen, rechtswidrigen Schadens, vor allem auch auf effektive Prävention potentieller Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferketten deutscher Unternehmen an. Tagungsteilnehmer*innen forderten, dass Haftung und Prävention von Menschenrechtsverletzungen als Gesetzeszweck stärker im Kontext betrachtet werden müssen. Dabei trägt auch die zivilrechtliche Haftung als Element des rechtlichen und faktischen Rahmens für die Leitung eines Unternehmens, der sogenannten Corporate Governance, in erhöhtem Maß zur Steuerung von Unternehmenstätigkeit bei. Vertreter*innen der Rechtswissenschaft wiesen darauf hin, dass der gesetzliche Rahmen die Ansiedlung des Themas menschenrechtliche Sorgfaltspflichten auf Leitungsebene mit sich bringt, wodurch menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten jener Stellenwert zukommt, der für effektive Prävention von Menschenrechtsverletzungen notwendig ist. Da das Lieferkettengesetz, angelehnt an das loi de vigilance aus Frankreich (dazu hier), jedenfalls auch präventiv wirken soll, muss ein effektives Gesetz einen entsprechenden Haftungstatbestand beinhalten, der als unternehmensexterner, rechtlicher Rahmen fungiert und entsprechend behandelt wird.
Außerdem erscheint es darüber hinaus rechtsdogmatisch geboten, auf eine Verpflichtung zur Sorgfalt im Falle eines Verstoßes gegen ebenjene Pflicht, die zur Entstehung eines kausalen Schadens führt, auch entsprechende Haftung festzuschreiben. Damit wird sich die Effektivität des Gesetzes zu großen Teilen an einem entsprechenden Haftungstatbestand messen lassen müssen.
Ein konkreter Vorschlag seitens der Rechtswissenschaft zur Ausgestaltung des gesetzlichen Haftungstatbestandes liegt auch bereits vor (siehe hier). Die Norm sollte gemäß dem Vorschlag in einen objektiven sowie einen subjektiven Tatbestand untergliedert sein und vier Ebenen enthalten, nämlich erstens Haftung für eigenes Handeln und Organhandeln, zweitens Haftung für Anstiftung und Teilnahme, drittens Haftung für Tochterunternehmen in Konzernstrukturen und schließlich Haftung für selbstständig handelnde Geschäftspartner als Profiteure von nicht in unerheblichem Maß erzielten Gewinnen, die beispielsweise angelehnt an das Strafrecht über Verfall oder Gewinnabschöpfung beziffert werden könnten. Ebenso muss der subjektive Tatbestand einer Haftungsnorm regulieren, unter welchen Umständen ein schuldhafter Verstoß vorliegt.
II. Die Beweislastregelung als Indikator für effektive Durchsetzung
Im Lichte der Effektivität des Gesetzesvorhabens muss die Haftungsfrage in Zusammenhang mit der Regelung der Beweislastverteilung gedacht werden. Nach geltenden Beweislastregeln im nationalen Deliktsrecht tragen Anspruchssteller*innen die volle Darlegungs- und Beweislast. Gerade bei potentiellen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in transnationalen Sachverhalten wird jedoch die inhärente Differenz zwischen Beweislastverteilung und Informationszugang außer Acht gelassen, weshalb Wissenschaftler*innen eine komplementäre Betrachtung fordern. Als Lösungsansatz könnte man über eine komplette Beweislastumkehr nachdenken, wodurch Geschädigte lediglich den Nachweis einer Rechtsgutverletzung und eines eigenen Schadens erbringen müssten. Alternativ könnte auch eine Beweiserleichterung im Sinne einer unwiderleglichen Vermutung herangezogen werden, wonach der Antragsgegner den Entlastungsbeweis im Hinblick auf das Vertretenmüssen erbringen muss bzw. den Antragsteller nur eine sekundäre Darlegungslast trifft, zu deren Voraussetzungen jüngst der BGH im Rahmen eines wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB geltend gemachten Schadensersatzanspruchs im Kontext des sogenannten „Dieselskandals“ entschied. Darüber hinaus wäre eine abgestufte Beweislast mit Indizienbeweis denkbar, wie etwa nach § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, welche dem Arbeitnehmer eine Beweiserleichterung hinsichtlich der Kausalität zwischen Arbeitgeberverhalten und Benachteiligung bzw. spezifischer Benachteiligungstendenz in Form einer Absenkung des Beweismaßes gewährt.
Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Enthaftung bzw. Haftungsreduzierung, die sich beispielsweise aus der Mitgliedschaft in einer Multi-Steakholderinitiative (MSI) oder in einem Branchenverband ergeben könnte. Dazu wiesen Wissenschaftler*innen darauf hin, dass in einem ersten Schritt die dogmatische Grundlage einer solchen Haftungsprivilegierung kritisch zu hinterfragen ist, die sich jedenfalls nicht unmittelbar aus der sonst dem BGB zugrundeliegenden Dogmatik der Haftungsprivilegierungen ergibt – wie beispielsweise bei unentgeltlicher oder fremdnütziger Tätigkeit. Des Weiteren ist sodann auch im Lichte der Effektivität zu hinterfragen, ob die Mitgliedschaft für sich genommen überhaupt schon die Sorgfaltspflichtenverwirklichung indizieren kann, oder die Einhaltung nicht vielmehr im Rahmen der Einzelfallprüfung festgestellt werden muss.
III. Anwendbarkeit der Haftungsnorm durch Ausgestaltung als Eingriffsnorm
Damit die im nationalen Recht verankerte Haftungsnorm überhaupt in Fällen von Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferkette zur Anwendung kommt, müsste nach den Regelungen des internationalen Privatrechts bei Schadenseintritt im Ausland deutsches Deliktsrecht Anwendung finden. Gemäß Art. 4 I Rom II-Verordnung ist dies jedoch gerade nicht der Fall, da grundsätzlich bei Schadensersatzklagen aus Delikt das Recht des Erfolgsortes anwendbar ist. Wegen des Anwendungsvorrangs des internationalen Privatrechts auf europäischer Ebene würde auch die Aufnahme einer dem Art. 4 I Rom II Verordnung entgegenstehenden Regelung, die schlicht das Recht des Handlungsortes für anwendbar erklärt, in einem deutschen Gesetzesentwurf ins Leere laufen. Deshalb müsste die Haftungsnorm auf Grundlage des Art. 16 Rom II Verordnung als sogenannte Eingriffsnorm ausgestaltet sein. Eingriffsnormen sind Normen, die so bedeutsam sind für die Wahrung des öffentlichen Interesses des Staates, vor dessen Gerichten der Rechtsstreit ausgetragen wird, insbesondere für die politische, soziale oder wirtschaftliche Organisation, dass sie in jedem Fall zur Anwendung kommen, unabhängig davon, welches Recht auf den Sachverhalt nach europäischem Kollisionsrecht anzuwenden ist. Abermals (vgl. hier) wiesen Vertreter*innen der Rechtswissenschaft darauf hin, dass die Bekundung des gesetzgeberischen Willens der Ausgestaltung als Eingriffsnorm im Gesetzestext oder in der Gesetzesbegründung jedenfalls notwendig ist. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber auch festlegen, ob die Deklaration als Eingriffsnorm die sogenannte „große“ oder „kleine“ Lösung mit sich bringen soll. Im Rahmen der großen Lösung wäre die gesamte deutsche Haftungsnorm anwendbar, im Rahmen der kleinen Lösung nur der entsprechende Sorgfaltspflichtenmaßstab. Rechtswissenschaft und Zivilgesellschaft sprachen sich für die große Lösung aus, da die Kohärenz des Zivilrechtssystems nur durch Anwendbarkeit der gesamten Haftungsnorm zu erreichen ist. Rechtsdogmatisch sind internationaler Menschenrechtsschutz und Schutz der Umwelt außerdem als Aufgaben des Allgemeinwohlschutzes zu qualifizieren und stehen im öffentlichen Interesse der Bundesrepublik, wodurch die Norm zur Eingriffsnorm wird. Nicht zuletzt gaben einige Teilnehmer*innen zu Bedenken, dass aus Gründen der Zweckmäßigkeit ein Gleichlauf von zuständigem Gericht und anzuwendendem Recht wünschenswert ist, was ebenfalls eindeutig für die „große Lösung“ spricht.