03 February 2021

Ein kleiner Meilenstein

Arbeitsschutzstandards im Panelverfahren EU-Südkorea

Am 25. Januar 2021 hat zum ersten Mal ein „Panel of Experts“ auf Initiative der EU über die Verletzung von Standards der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen eines Freihandelsabkommens entschieden. Obwohl es keine rechtlichen Hebel zur Durchsetzung der Entscheidung gibt, setzt der Panelbericht EU-Korea materiellrechtlich neue Maßstäbe. Er stellt eindeutig klar, dass die Nachhaltigkeitsstandards des Freihandelsabkommens rechtliche Pflichten begründen und dass sich die Vertragspartner der Überprüfung im Panelverfahren nicht entziehen können. Durch die Emanzipation der überprüften Arbeitnehmerschutzstandards vom Handelsbezug legt es zudem den Grundstein für zukünftige Streitbeilegungsverfahren, die sich allein gegen die Verletzung von Nachhaltigkeitsstandards richten.

Arbeits- und Sozialstandards

Das Ziel der Förderung und Festigung der Menschenrechte soll die Europäische Union in ihrer auswärtigen Handelspolitik leiten – so folgt es aus Art. 21 EUV iVm Art. 205 AEUV. Wie wenig glaubwürdig dieser hehre Anspruch in der Realität oftmals erscheint, machte erst kürzlich das Medien– und Expertenecho anlässlich des Abschlusses des EU-China-Investitionsabkommen deutlich. Deswegen ist es zunächst eine gute Nachricht, dass letzte Woche zum ersten Mal ein „Panel of Experts“ auf Initiative der EU über die Verletzung von Standards der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen eines Freihandelsabkommens entschieden hat. Im Zentrum des Verfahrens zwischen der EU und Südkorea stand der Vorwurf der Union, Südkorea habe seine Verpflichtungen verletzt, fundamentale Arbeits- und Sozialstandards einzuhalten. Diesen Vorwurf hat das Panel nun teilweise bestätigt.

Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Südkorea (EU-Korea-FTA), welches seit dem 1. Juli 2011 in Kraft ist, war das erste Übereinkommen der sogenannten Neuen Generation von Freihandelsabkommen, die neben klassischen Marktzugangsregelungen auch Verpflichtungen zur Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards und zum Schutz der Rechte von Arbeiter*innen (Trade and sustainable development – TSD-Standards) enthalten. In Bezug auf letztere Verpflichtung statuiert Art. 13.4.3 EU-Korea-FTA:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß ihren Verpflichtungen als IAO-Mitglieder und gemäß der von der Internationalen Arbeitskonferenz auf ihrer 86. Tagung im Jahr 1998 angenommenen IAO-Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen, in ihren Rechtsvorschriften und Praktiken die folgenden Prinzipien grundlegender Rechte zu respektieren, zu fördern und umzusetzen:

a) Vereinigungsfreiheit und effektive Anerkennung des Rechts zu Kollektivverhandlungen,
b) Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit,
c) effektive Abschaffung der Kinderarbeit und
d) Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Verpflichtung, die von Korea und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifizierten IAO-Übereinkommen wirksam umzusetzen. Sie streben beständig und nachhaltig die Ratifizierung der Kernübereinkommen der IAO sowie der übrigen von der IAO als aktuell eingestuften Übereinkommen an.”

Derzeit gibt es zu den vier fundamentalen Rechten der „Erklärung 1998“ acht Kernarbeitskonventionen der ILO, von denen Südkorea aber nur die Hälfte ratifiziert hat. Noch immer fehlen die Kernübereinkommen zu Vereinigungsfreiheit, kollektiven Tarifverhandlungen und Zwangsarbeit. Insgesamt hat Südkorea von allen aktuell gültigen 190 Übereinkommen und 6 Protokollen nur 22 ratifiziert. Das Land, das sonst als ostasiatischer Musterschüler der Demokratie gilt, missachtet die Rechte seiner Arbeiter*innen systematisch. Amnesty International zufolge werden in kaum einem anderen demokratischen Staat weltweit häufiger Gewerkschafter*innen inhaftiert. Behörden können Streiks als illegal erklären und in der Folge können die bestreikten Unternehmen Gewerkschaften auf Schadensersatz verklagen.

Die desolate Situation der Arbeitskräfte in Südkorea war der Europäischen Union bewusst. Dennoch vergingen sieben untätige Jahre, bis sie dem Drängen des EU-Parlamentes im Dezember 2018 nachgab und formelle Konsultationen mit der koreanischen Regierung über die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsstandards aus dem Abkommen einleitete. Nachdem diese erfolglos blieben, beantragte die EU im Juli 2019 die Beilegung durch eine Sachverständigengruppe, ein Panel of Experts, gemäß Art. 13.15 EU-Korea-FTA.

Die Panel-Entscheidung

Das Panel ging methodisch so vor, wie es aus der Streitbeilegung der WTO oder dem internationalen Investitionsschutz bekannt ist. Mit Art. 31 und 32 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) als Auslegungsmaßstab wies das Panel die Versuche Südkoreas zurück, die Vereinbarungen unter Art. 13 EU-Korea-FTA für unverbindlich erklären zu lassen, weil die Auslegung des Abkommens nach Art. 31 WVRK aus Sicht der Sachverständigen weder mehrdeutig war noch zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führte. Das war ein erster kleiner Sieg für die rechtliche Verbindlichkeit der TSD-Standards.

Für ein Streitbeilegungsverfahren nicht ungewöhnlich war auch, dass Südkorea – gestützt auf Art. 13.2.1 EU-Korea-FTA – die Entscheidungskompetenz des Panels bestritt. Südkorea argumentierte, dass gemäß Art. 13.2.1 EU-Korea-FTA sich der Anwendungsbereich des TSD-Kapitels nur auf solche Maßnahmen erstrecke, die einen konkreten Bezug zum Freihandelsverkehr zwischen den Vertragsparteien aufweisen. Ein solcher Nachweis sei der EU nicht gelungen. Für das Panel war dies anhand des Vertragstextes und seiner Systematik jedoch gar nicht notwendig. Denn, so das Panel, Art. 13.4.3 übernehme mit seinem Wortlaut die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in der ILO. Deshalb müsse Art. 13.4.3 auch nach den universellen und verpflichtenden Maßstäben der ILO-Verfassung  interpretiert werden. Diese lasse schließlich keine Begrenzung im Anwendungsbereich der Verpflichtung zu, weil auch die Mitglieder der ILO nicht zu einer Mitgliedschaft mit Vorbehalten berechtigt sind. Auch die Pflichten aus der Erklärung 1998 seien bindend, weil sie Teil der ILO-Verfassung geworden sind, ohne dass ein Staat die dazugehörigen Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 ratifiziert haben muss. Wenn diese mit Referenz auf die ILO-Mitgliedschaft Eingang in ein Freihandelsabkommen finden, seien sie auch in diesem Kontext so zu verstehen. Damit erklärte das Panel die Arbeitsschutzmaßgaben des Art. 13 zu eigenständigen Standards, die eben nicht nur der Ausgestaltung des zwischenstaatlichen Handels dienen. Den Vorwurf Südkoreas, hierdurch eine Rechtsharmonisierung durch die Hintertür erreichen zu wollen und in das „right to regulate“ eingreifen zu wollen, wies das Panel damit dezidiert zurück.

Inhaltlich stellte die EU ihr Panel-Ersuchen auf zwei Beine: Erstens verletzten verschiedene Regelungen des nationalen Arbeitsrechts Südkoreas Verpflichtungen aus Art. 13.4.3 Satz 1 des Abkommens. Das betreffe unter anderem eine zu restriktive Definition des Arbeiter*innen- (Rn. 142 ff.) und des Gewerkschaftsbegriffs (Rn. 198 ff.), die Beschränkung des passiven Wahlrechts für Gewerkschaftsvertreter*innen (Rn. 210 ff.) und ein willkürliches und rechtsstaatswidriges Zulassungsverfahren für Gewerkschaften (Rn. 229 ff.). Das Panel folgte den Vorwürfen der EU in mehreren Punkten (Rdn. 100 ff.) und stellte nochmals klar, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die fundamentalen Rechte bei der Arbeit verbindliche Verpflichtungen eingegangen sind und es sich nicht nur, wie von Südkorea behauptet, um bloße Absichtserklärungen handelt (Rn. 123 ff.; „commit to“). Ebenso eindeutig interpretierte das Panel die daran anknüpfenden Pflichten, die fundamentalen Rechte bei der Arbeit „zu respektieren, zu fördern und umzusetzen“. Die Auslegung ermöglichte es dem Panel, eine Regelung anzuwenden, die oft nur als Optimierungsgebot verstanden wird. Damit könnte es den Weg für künftige Streitbeilegungen geebnet haben.

Zweitens sei Südkorea seiner Ratifikationsverpflichtung gemäß Art. 13.4.3 Satz 3 in Bezug auf die acht ILO-Kernübereinkommen nicht nachgekommen. Die EU griff dabei auf die Begründung der IGH-Entscheidung Pulp Mills on the River Uruguay (Rn. 186 ff.) zurück, dass völkerrechtliche Verhaltenspflichten ebenso verbindlich seien wie Ergebnispflichten. Die Entscheidung des Panels in dieser Frage ließe sich als Patt bezeichnen. Zwar interpretierte es die Pflicht aus Art. 13.4.3 Satz 3 als verbindlich. Die Vertragsparteien seien jedoch nur dazu verpflichtet, sich kontinuierlich und nachhaltig („continued and sustained“) um die die Ratifizierung zu bemühen. Das Panel konkretisierte diese best efforts-Verpflichtung als “higher than undertaking merely minimal steps or none at all, and lower than a requirement to explore and mobilise all measures available at all times”. Südkorea hatte zwar bis 2017 keinerlei Ratifikationsanstrengungen unternommen, seither aber vier der acht Kernübereinkommen ratifiziert. Anhand seines entwickelten Maßstabes konnte das Panel nur zu der Einschätzung gelangen, dass Südkorea jedenfalls nicht vollkommen untätig geblieben war. Darüber hinaus gestand es Südkorea zu, dass die Anpassung nationalen Rechts Zeit brauche. Damit bleibt als salomonischer Wermutstropfen, dass die Ratifikationspflicht als solches zwar verbindlich ist, jedoch nur ein letztlich unbestimmtes Bemühen und keine Ergebnisse erfordert.

Zu wenig Biss? Der Kooperationsansatz der EU im Vergleich zum Konfrontationsansatz in USA vs. Guatemala

Das Panelverfahren im vorliegenden Fall ist nicht zu verwechseln mit dem allgemeinen Streitbeilegungsmechanismus des Freihandelsabkommens nach Kapitel 14 EU-Südkorea-FTA. Wie alle TSD-Kapitel in den EU-Freihandelsabkommen der Neuen Generation unterliegen Fragen, die sich aus Kapitel 13 EU-Korea-FTA ergeben, einem eigenständigen Verfahren (Art. 13.16), das auf Kooperation und Verständigung setzt. Der qualitative Unterschied zwischen den beiden Verfahren wird in der deutschen Sprachfassung terminologisch besonders deutlich: Unter Kapitel 14 trifft ein Schiedspanel Entscheidungen. Im Rahmen von Kapitel 13 spricht eine Sachverständigengruppe Empfehlungen aus und die Vertragsparteien “bemühen [sich] nach besten Kräften”, diese zu berücksichtigen. Werden die Empfehlungen der Sachverständigengruppe nicht beachtet, folgen daraus weder finanzielle noch wirtschaftliche Sanktionen, wie sie im Rahmen von Kapitel 14 auferlegt werden können.

Der Ansatz der EU verhält sich damit diametral zu Freihandelsabkommen der USA, deren TSD-Kapitel neben der Streitbeilegung durch Konsultationen und Arbeitsgruppen auch den Zugang zu Schiedsgerichten vorsehen. Konzeptionell wird dies dadurch erreicht, dass die TSD-Standards eng mit den Handelsvorschriften der Abkommen gekoppelt werden. Diese Verknüpfung hat aber den verhängnisvollen Effekt, dass immer ein Bezug der behaupteten Verletzung von TSD-Standards zum Freihandel zwischen den beteiligten Vertragspartnern erforderlich ist. Mit anderen Worten: Eine Verletzung von TSD-Standards muss sich nachweisbar auf die Preisbildung im grenzüberschreitenden Handelsverkehr auswirken.

Die erste Klage der USA wegen der Verletzung von Arbeitsschutzstandards gegen Guatemala vor einem Schiedsgericht endete entsprechend verheerend: Einerseits konnte sie die hohen Beweishürden eines Schiedsgerichtsverfahrens nicht überwinden, schlimmer war andererseits, dass das Panel für einige Sachverhalte eine Verletzung der Arbeitsschutzstandards des Abkommens anerkannte, aber den notwendigen Bezug zum zwischenstaatlichen Handel nicht feststellen konnte. Nach fast sieben Jahren Streitbeilegung wurde die Klage letztlich abgewiesen. Diese Klippen hat die EU durch die Ausgestaltung der TSD-Kapitel in ihren Abkommen erfolgreich umschifft. Ihre Herangehensweise ermöglichte es, die Arbeitnehmerschutzstandards gegenüber Südkorea als selbstständige, nicht handelsbezogene Vereinbarungen in einem für Nachhaltigkeitsstandards spezifischen Streitbeilegungsverfahren  geltend zu machen. Auch wenn Südkorea keine Sanktionen drohen, ist es doch öffentlich gebrandmarkt.

Zu wenig zu spät oder besser spät als nie?

Was folgt nun aus der Entscheidung? Da die Europäische Union keinerlei rechtliche Hebel zur Durchsetzung in der Hand hat, ist sie auf die bereitwillige Mitwirkung der südkoreanischen Regierung angewiesen. Diese wiederum verfügt seit dem Erdrutschsieg der Demokratischen Partei unter Präsident Moon Jae-in im April 2020 über eine absolute Mehrheit und könnte die notwendigen Reformen auch gegen den Willen der Oppositionsparteien durchsetzen. Innerstaatlich behindert jedoch das Festhalten an der allgemeinen Wehrplicht vor allem die Ratifikation der ILO-Konventionen über die Abschaffung der Zwangsarbeit (Übereinkommen Nr. 29 und 105). Eine Kurskorrektor in dieser Frage gilt angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den nordkoreanischen Nachbarn als wenig wahrscheinlich.

Ungewiss ist auch, inwieweit der Panelbericht Signalwirkung für die übrigen Handelspartner in Ostasien entfalten kann. Singapur und Japan müssen jeweils noch zwei, Vietnam ein ILO-Übereinkommen in innerstaatliches Recht umsetzen. Der Panelbericht könnte hierbei möglicherweise die Argumentationsbasis von parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich für stärkere Arbeitnehmer*innenrechte einsetzen, stützen. Wie ist es aber mit China, welches wie Südkorea erst vier Kernarbeitskonventionen ratifiziert hat? Die Bedeutung von unverbindlichen Sachverständigenberichten dürfte in einer politischen Kultur, in der zivilgesellschaftliche Graswurzelbewegungen im Keim erstickt werden, verschwindend gering sein.

Das Panelverfahren EU-Korea wirft auch ein Schlaglicht auf das begrenzte Wirkungspotential des kooperativen Ansatzes, der grundlegend auf demokratische Meinungsbildungs- und Diskursprozesse in den Vertragspartnerstaaten angewiesen ist. Die Europäische Union wird sich verstärkt mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob und wie sich TSD-Standards effektiv durchsetzen und Verstöße gegebenenfalls sanktionieren lassen. Dazu gibt es bereits vielversprechende Ansätze. Die anstehende Reform der EU-Handelshemmnisverordnung Nr. 654/2014 etwa soll zu einer Überarbeitung des Durchsetzungsmechanismus führen, in dessen Rahmen die EU-Kommission beabsichtigt “[to] pay equal attention to alleged breaches of the trade and sustainable development provisions of EU trade agreements as to alleged breaches of market access systems”. In eine ähnliche Richtung geht ein Vorschlag des Europäischen Ausschusses der Regionen, im Falle der Missachtung von ILO-Kernarbeitsnormen und anderen TSD-Standards Sanktionen zu ermöglichen (ABl EU C 324/21, Rdn. 41). Das grundlegende Problem, Nachhaltigkeitsstandards in konsensfähiger Weise zu konkretisieren und anhand eindeutiger Kriterien nachprüfbar zu machen, löst das natürlich nicht.


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