06 May 2016

“Ein Land hat ein Recht darauf, regiert zu werden”

Vier Monate nach den Wahlen muss das spanische Parlament schon wieder aufgelöst werden, weil keine potenzielle Regierung eine Mehrheit bekommen kann. Man hat den Eindruck, dass das häufiger wird in Europa: In Irland hat es Monate gedauert, in Belgien 2011 sogar eineinhalb Jahre, bis endlich eine Regierung zustande kam. Was passiert da? Wird Europa immer unregierbarer?

Das ist das erste Mal in Spanien, dass das Parlament nach den Wahlen wieder aufgelöst werden muss. Der Grund dafür ist einfach: Das Abgeordnetenhaus war ganz anders zusammengesetzt als früher, mehr Parteien sind vertreten, einige völlig neue, insbesondere Podemos im linken Flügel des Parlaments, und Ciudadanos grob in der Mitte. Die alte Konstellation zweier großer politischer Lager, in der sich Sozialisten und Partido Popular mit dem Regieren abwechseln, ist vorbei. Über diese Lager hinweg Koalitionen bilden zu müssen, ist für uns ganz neu, jedenfalls auf Staatsebene. Wir haben keine großen Erfahrungen damit.

Haben die Parteien versagt?

Die Parteien haben nicht genug getan, dafür zu sorgen, dass das Land am Ende eine Regierung hat. Ein Land hat, wenn man so will, ein Recht darauf, regiert zu werden. Die politischen Parteien nehmen in der spanischen Verfassung eine sehr privilegierte Stellung ein. Gleich an deren Anfang wird ihnen die Rolle zugewiesen, den politischen Pluralismus und den Volkswillen zum Ausdruck zu bringen und Hauptinstrument der politischen Beteiligung zu sein. Diese privilegierte Stellung setzt auch Pflichten voraus. Eine ihrer Pflichten ist, ihre partikularen legitimen Interessen nicht übermäßig in den Vordergrund zu stellen. Daran hat es gefehlt.

Was kann das Verfassungsrecht tun, um diesem Recht des Volkes, regiert zu werden, zur Geltung zu verhelfen?

Dieses „Recht regiert zu werden“ ist nicht buchstäblich zu verstehen, sondern als Denkansatz. Dass das Verfassungsgericht etwas ausrichten kann, kann ich mir schwer vorstellen, so wie die Verfassung im Moment beschaffen ist. Aber stellen Sie sich vor, dass beim nächsten Mal die Wähler genau dasselbe Parlament wählen: was dann? Jeder weiß, dass die Entwicklung der letzten Monate sich nicht wiederholen kann.

Was wird da diskutiert in der Rechtswissenschaft in Spanien?

Der Publizist und Politologe José Ignacio Torreblanca hat kürzlich über die negativen Folgen des konstruktiven Misstrauensvotums geschrieben. Die Parteien scheuen dafür zurück, eine Minderheitsregierung zuzulassen, weil es so schwer ist, sie wieder loszuwerden. Vielleicht ist das deutsche Vorbild, dass man den Premier nur stürzen kann, wenn ein anderer eine Mehrheit hat, in dieser Konstellation keine so gute Idee.

Gibt es auch Vorschläge, das Wahlrecht zu ändern?

Die Überlegung, eine Prämie für den relativen Sieger einzurichten und so die Mehrheitsfindung sicherzustellen, wie es etwa in Italien oder in Ungarn gemacht wird, gibt es in Spanien nicht. Ohne die Verfassung zu ändern, könnte man zum Beispiel die Zahl der Sitze im Abgeordnetenhaus erhöhen und die Proportionalität entsprechend verbessern. 100 der 350 Sitze werden paritätisch auf die Provinzen verteilt. Deren Bevölkerungen sind aber extrem unterschiedlich groß; Madrid und Barcelona sind Millionenprovinzen, einige Provinzen zählen dagegen um die hunderttausend Einwohner. Ob das die im vorigen Dezember entstandene Situation entscheidend verändern kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Die Entwicklung geht also mehr in die deutsche Richtung – Verhältniswahl und Koalitionsregierungen – als in Richtung Frankreich, das immer auf klaren Mehrheiten bestehen würde?

Die Idee, sich an Frankreich in der Beziehung zu orientieren, ist gar nicht präsent. Normalerweise sollten alle im Parlament vertretenen Parteien miteinander reden können und sich wenigstens als „Gesprächspartner“ betrachten. Da wäre bestimmt manches von Deutschland zu lernen.

In Belgien hatte man den Eindruck, dass die Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung auch damit zu tun hatten, dass ein Teil des politischen Spektrums schlicht kein Interesse an einem funktionalen Zentralstaat hat. Gibt es so etwas auch in Spanien, wenn man etwa an die Nationalisten aus Katalonien oder dem Baskenland denkt?

Nein. Was es vielmehr gibt, sind Berechnungen, wer von Neuwahlen in welchem Umfang profitieren könnte. Das hat eine Rolle gespielt. Was die letztendlich gescheiterte Regierungsbildung angeht, so hätten etwa die katalanischen und baskischen Nationalisten eine von den Sozialisten angeführte Regierung ermöglichen können und wären vermutlich auch dazu bereit gewesen. Aber auch da hat es Widerstände gegeben, sowohl seitens der Partei Ciudadanos wie auch bis zu einem gewissen Grad seitens der Sozialisten.

Von der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung hat man in letzter Zeit nicht mehr viel gehört. Wie wird diese Debatte Ihrer Einschätzung nach weitergehen?

Es stimmt, dass man davon außerhalb Spaniens weniger gehört hat. Und lassen wir beiseite, ob das Wort „Debatte“ zutrifft – schön wäre es, wenn es hier passte! Eines jedenfalls ist sicher: Die Einheit der Nation ist in der Verfassung eine klare Sache. Nach Artikel 2 gründet sich die Verfassung auf die Einheit der spanischen Nation. Sie ist also eine Art Verfassungsvoraussetzung. Wie in Schottland ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, ist in Spanien verfassungsrechtlich unvorstellbar. Und daran kann man selbst durch Verfassungsänderung schon rechtlich äußerst schwer etwas ändern, geschweige denn politisch.

Es gibt also keinen legalen Weg zur Unabhängigkeit Kataloniens?

Nicht mit dieser Verfassung. Es ist ein wenig wie die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zum europäischen Bundesstaat nach der Lissabon-Entscheidung. Das ginge nur mit einer neuen Verfassung.

Der Weg, über Art. 146 GG den Schritt in den europäischen Bundestaat zu gehen, war ja von manchen in Karlsruhe wohl auch als eine Art Ventil intendiert: Kann man machen, aber halt nur auf diesem Wege. So sehen Sie das auch in Bezug auf die katalanische Unabhängigkeit?

So eine Vorschrift wie Art. 146 GG ist schon ungewöhnlich. Aber, ja, so könnte man das sehen.

Spanien ist ja ohnehin längst kein Einheitsstaat mehr, wie etwa Frankreich. Die Regionen haben viele autonome Rechtssetzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Wird Spanien zu einem Bundestaat wie Deutschland?

Spanien steht in punkto Einheits- oder Bundesstaat zwischen Frankreich und Deutschland, ist aber auch hier entschieden näher an Deutschland. Wir stehen sozusagen in der Vorhalle zur Bundesstaatlichkeit. In vielen Beziehungen sind wir schon ein Bundesstaat und sogar stärker dezentralisiert als manche Bundesstaaten etwa in Südamerika. Das Problem ist: was für Katalonien und das Baskenland gilt, das gilt dann auch weitgehend für den Rest des Landes. Und das Autonomiebestreben ist von Region zu Region sehr unterschiedlich ausgeprägt. Nehmen wir das Beispiel Hochschulen: Ein separates System in Katalonien oder im Baskenland wäre wohl vorstellbar. 17 verschiedene Systeme – so viele „Comunidades Autónomas“ gibt es gegenwärtig – würden weder ihren Kapazitäten noch ihrem Willen entsprechen.

Wäre es denkbar, das System asymmetrisch zu gestalten? In Frankreich gibt es zum Beispiel Sonderregelungen für die Überseegebiete, während in Deutschland das gleiche Kompetenzgefüge für alle Bundesstaaten gilt. Warum nicht ein System à la carte, mit verschiedenen Autonomiegraden ?

„À la carte“ klingt ein bisschen wie Gutdünken, und so ist es dann auch wieder nicht. Aber ein asymmetrisches Modell finde ich nicht nur denkbar, sondern sogar unvermeidlich. In der spanischen Verfassung ist bis zu einem gewissen Grad eine Unterscheidung stillschweigend angedeutet zwischen dem, was wir die nacionalidades historicas nennen – also Katalonien, Baskenland und Galicien –, und dem Rest. Aber die Entwicklung des sogenannten „proceso autonómico“, der in den Jahren unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Verfassung stattfand, hat diesen Weg nicht verfolgt. Tatsache ist, dass der Gedanke der Asymmetrie auf Staatsebene äußerst unpopulär bleibt.

Obwohl in weiten Teile des Landes also kein Interesse an mehr Autonomie besteht, so wäre doch eine verbreitete Haltung feststellbar, wonach jedwede Verdichtung der Autonomie prinzipiell immer überall im Lande gelten sollte. Ist das korrekt?

Ja, so könnte man es beschreiben. Es gibt in einem regionalen Autonomiestatut sogar einen Zusatzartikel, der auf eine Art Meistbegünstigungsklausel hinausläuft. De lege ferenda ist der Trick sicher Asymmetrie. Aber das ist zweifellos kompliziert, nicht nur politisch, sondern auch in der rechtlichen Umsetzung. In Großbritannien ist viel von der so genannten Westlothian Question die Rede: Warum sollen die Schotten in Holyrood über ihre eigenen Angelegenheiten und obendrein in Westminster über die entsprechenden britischen Angelegenheiten mitbestimmen können? Asymmetrie ist gar nicht so leicht zu organisieren. Aber andererseits, das ist meine persönliche Meinung, ist sie fast zu einer politischen Notwendigkeit in meinem Land geworden.

Wie in Europa….

Ja, so scheint es. Die Zeiten sind wohl noch nicht reif genug. Aber mal sehen.

Die Fragen stellen Maximilian Steinbeis und Yoan Vilain.


2 Comments

  1. Philipp Mon 9 May 2016 at 10:20 - Reply

    Erfreulich, dass Pedro Cruz Villalón so deutlich für ein asymmetrisches föderales Modell eintritt, das in der Tat die vernünftigste, vielleicht sogar einzige friedliche Lösung für Spanien sein dürfte.

    Die von den Interviewern angesprochene verbreitete Haltung gehört zu den m.e. zwei größten diskursiven Verwirrungen in der spanischen (verfassungs-)politischen Debatte: Dass die zentralistische Position den Topos der staatsbürgerlichen Gleichheit einseitig in Beschlag nimmt um – im Ergebnis übrigens kontraproduktiv – insbesondere die baskische und katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu bremsen. Von dieser Haltung geprägt hat in den aktuellen Verhandlungen über eine Regierungsbildung der sozialdemokratische PSOE die sozio-ökonomische Gleichheit zurückgestellt und sich frühzeitig auf die zentralistisch-neoliberalen Ciudadanos als Partner festgelegt, an Stelle von Podemos.

    (Die zweite große Verwirrung ist, dass sich die autoritäre oder law-and-order Position auf den Rechtsstaat beruft, den sie umdeutet in einen “Staat, in dem die Sicherheitsbehörden konsequent gegen Straftaten vorgehen” [die in Spanien insbesondere auch reine Meinungsäußerungen sein können, die man als Unterstützung von ETA kriminalisiert]. Dieser gefährliche Neusprech hat allerdings auch Deutschland schon erreicht – Stichwort “die ganze Härte des Rechtsstaats”.)

  2. Stephan Mon 9 May 2016 at 20:20 - Reply

    Sehr interessantes Interview, danke.

    Wie bei dem Interview über Österreich ist es sehr schön, mal tiefer gehende Informationen über die politischen Systeme und Denkweisen der anderen europäischen Staaten zu bekommen. Gerne mehr davon.

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