Ein Losverfahren für mehr Solidarität
Spartengewerkschaften vs. das Tarifeinheitsgesetz.
Der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GDL hat ein Stück Gesetzgebung wieder in den Blickpunkt gerückt, das von Anfang an umstritten war und es bis heute ist. Das Tarifeinheitsgesetz hat auf gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung von mehr Diversität sowohl in Belegschaften wie in Betriebsstrukturen letztlich regressiv reagiert, indem es implizit auf ein Recht des Stärkeren setzte. Dagegen wird hier mit dem Vorschlag eines regelmäßigen Losverfahrens allen Gewerkschaften und den von ihnen vertreten Beschäftigungsgruppen eine faire Chance gegeben, ohne die Idee eines effizienten Tarifgeschehens dafür zu opfern. Und zugleich macht sie Spartengewerkschaften dadurch empfänglicher für die Interessen anderer Betriebsangehöriger, stärkt also letztlich die Solidarität unter den Erwerbstätigen.
Was ist die Ausgangslage? Auf der einen Seite gibt es im Grundgesetz in Art. 9 Abs. 3 eine sehr scharfe Formulierung, die für alle Gruppen, auch kleineren, die Bildung von Gewerkschaften sichert: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ Auf der anderen Seite hat das Bundesarbeitsgericht lange die Auffassung vertreten, dass es Arbeitgebern nicht zumutbar sei, in ihrem Betrieb für die gleiche Beschäftigungsgruppe mehrere Tarifverträge mit verschiedenen Gewerkschaften abzuschließen. Das machte sogenannten Spartengewerkschaften wie der GDL, dem Marburger Bund oder der Vereinigung Cockpit das Agieren nicht einfach.
Als das Bundesarbeitsgericht 2010 seine Auffassung änderte, und vom Prinzip der Tarifeinheit zum Prinzip der Tarifpluralität wechselte, konnten diese kleineren, spezialisierteren Gewerkschaften dann stärker reüssieren. Allerdings wurde damit wohl nur eine Entwicklung rechtlich nachvollzogen, die sich faktisch bereits vorher Bahn gebrochen hatte. Es waren die Arbeitgeber, die durch Aufspaltungen und Auslagerungen zum Zwecke von Kostensenkungen nicht zuletzt mit Mitteln wie der Tarifflucht besonders im vorherigen öffentlichen Dienst und in den Dienstleistungen das Gewebe einer zusammenhängenden Belegschaft zerschlissen hatten. Die Deutsche Bahn ist dafür exemplarisch. Es ist schon eigenartig, dass so gut wie niemand nachfragt, warum sich eigentlich die DB, früher Staatsunternehmen und heute noch im vollständigen Bundesbesitz, laut eigener Aussage in nicht weniger als 300 Betriebe, manche Quellen gehen sogar eher von 600 aus, aufgespalten hat. Die gut vergleichbare schweizerische Bahn SBB, ebenfalls eine AG in öffentlicher Hand, kommt dagegen mit nur ganz wenigen Tochterunternehmen aus, in der Mehrzahl davon für Sonderstrecken mit Fremdbeteiligung gegründet.
Die Entwicklung hin zur Anerkennung von Tarifpluralität hat den Spartengewerkschaften neue Freiheiten gebracht, und sie haben ihren erweiterten Handlungsspielraum ganz ordentlich genutzt. Die Konfliktintensität dieser Arbeitnehmer-Vertretungen, deren Mitglieder in einem Betrieb häufig Schlüsselpositionen besetzen, gilt als höher als bei den breit aufgestellten Branchengewerkschaften. Das trieb Arbeitgebern und den im DGB organisierten Großgewerkschaften schnell den Angstschweiß auf die Stirn. Schon 2010 forderten BDA und DGB in einer gemeinsamen Erklärung, dass jetzt der Gesetzgeber eingreifen müsse und eine Tarifeinheit per Gesetz wiederherzustellen habe. Zwar ruderte der DGB auf Druck vor allem von ver.di bald wieder offiziell zurück. Aber nicht wenige DGB-Gewerkschaften sympathisierten weiter mit der Idee, und der Schaden war angerichtet. Die damalige große Koalition beschloss in ihren Koalitionsverhandlungen ein Tarifeinheitsgesetz, und die von der SPD gestellte Arbeitsministerin Andrea Nahles arbeitete es entsprechend aus.
2015 trat das Gesetz in Kraft und landete, wie zu erwarten, vor dem Bundesverfassungsgericht. Das billigte es in einer recht umstrittenen Entscheidung 2017 bei zwei ablehnenden Sondervoten mehrheitlich, verlangte nur kleinere Änderungen. 2018 wurde es deshalb minimal geändert, in einer parlamentarischen Nacht-und-Nebel-Aktion, die manche eher für eine Verschlimmbesserung halten. Prompt zog der auch davon betroffene dbb 2019 deshalb wieder vor das Verfassungsgericht und reichte gleichzeitig noch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, die dort auch angenommen wurde.
Was besagt dieses Tarifeinheitsgesetz im Kern? Es legt fest, dass in jedem Betrieb die gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse bestimmt werden und die Arbeitnehmer-Vertretung mit der relativ höchsten Mitgliederzahl allein tariffähig ist. Das hat einige eigenartige Auswirkungen, von denen zwei zentrale genannt werden sollen. Erstens überlässt es faktisch der Arbeitgeberseite die Definitionsmacht, was einen Betrieb darstellt. Wenn diese eine bisherige Organisationseinheit aufspalten oder mehrere fusionieren wollen, um eine den Arbeitgebern genehmere Gewerkschaft zur Mehrheit zu verhelfen, kann die jetzt quantitativ unterlegene Gewerkschaft nicht wirklich etwas dagegen unternehmen. Zweitens gibt es dadurch geradezu einen Turbo-Anreiz zur Gewerkschaftskonkurrenz. Die Grünen haben das in ihrer Stellungnahme damals völlig richtig gesehen: „Erklärtes Ziel des Tarifeinheitsgesetzes ist, die Kooperationsbereitschaft unter den Gewerkschaften eines Betriebes zu fördern. Angesichts des geplanten Mehrheitsprinzips ist eine solche Wirkung kaum zu erwarten. In den Betrieben mit knappen Mehrheiten müssten alle Gewerkschaften versuchen, unbedingt mehr Mitglieder zu gewinnen, was dem Betriebsfrieden nicht guttun würde.“
Für eine stärker gemeinsame Gewerkschaftspolitik gibt es auch ehrenwertere Begründungen als die arg interessengeleiteten Motive von Arbeitgeberverbänden und den Mitgliederschwund der Branchengewerkschaften. Nicht alle Berufsgruppen haben die gleiche Kampfkraft im Streikfall, der letztlich die Ultima Ratio der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite darstellt. Um ein Beispiel aus dem öffentlichen Dienst zu nehmen: wenn die Ordnungsamts-MitarbeiterInnen als Arbeitskampfmaßnahme keine Strafzettel mehr verteilen, klatscht das Publikum vermutlich eine Zeitlang eher Beifall, wenn aber die Müllwerker streiken und die Tonnen überquellen, ist sofort öffentlicher Druck da. Will man die relative Lohnhöhe von Tätigkeitsgruppen nicht einfach nur nach ihrem möglichen Streikdruck festlegen, sondern vor allem nach Belastung und Qualifikation, schon um auch alle Tätigkeiten künftig ausreichend attraktiv zu halten, ist eine gewisse Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft unabdingbar.
Umgekehrt muss man aber, auch jenseits der Vorschrift des Art. 9 GG, das allen Berufen Organisationsfreiheit zugesteht, von einer faktisch zunehmenden Heterogenität der Erwerbstätigen ausgehen. Die um den Facharbeiter alten Schlags, gerne männlich, biodeutsch und in der Produktion tätig, aufgebaute Branchengewerkschaft trifft heute auf ganz andere Belegschaften. Die Folge ist eine trendmäßige Erosion gewerkschaftlicher Vertretung. 2020 hatten im Westen 47% und im Osten sogar 57% der Erwerbstätigen einen Arbeitsplatz, wo weder ein Branchen- noch ein Firmen- oder Haustarifvertrag galt. Spezialisierte Spartengewerkschaften könnten hier durchaus einen Beitrag leisten, den Gewerkschaftsgedanken wieder attraktiv zu machen. Wenn es denn gelänge, sie auch für die Interessen der anderen Betriebsangehörigen zu interessieren.
Dieses Dilemma aufzuheben wird durch folgenden Vorschlag versucht. Man kann aus Effizienzgründen vertreten, dass je Betrieb nur eine Gewerkschaft und dies auch nur auf Zeit tariffähig sein soll. Aber wer bei konkurrierenden Arbeitnehmer-Organisationen dies konkret ist, könnte künftig durch ein Losverfahren ermittelt werden. Und die Gewinnwahrscheinlichkeit soll dabei proportional der Zahl der aktiven Organisierten sein. Hat also Gewerkschaft A in einem Betrieb z.B. 3.000 Mitglieder und Gewerkschaft B 2.000, dann wäre nicht A immer der Sieger, wie es die jetzige Gesetzeslage vorschreibt, sondern nur mit einer 60%igen Wahrscheinlichkeit, B dagegen mit einer 40%igen. Und natürlich sollen Listenverbindungen mehrerer Gewerkschaften möglich sein, wie sie auch bei Wahlen im parlamentarischen Raum zugelassen sind. Das stärkt die Kooperationswilligkeit im Vorfeld. Hat eine Gewerkschaft oder eine Verbundliste das Siegerlos gezogen, wäre sie für eine festzulegende Periode, z.B. für zwei Jahre, dann aber die alleinig Verhandlungsberechtigte. Sie dürfte dann auch keine Verträge über mehr als zwei Jahre abschließen, um das regelmäßig zu wiederholende Losverfahren nicht zu torpedieren. Zumindest nicht ohne formelle Zustimmung der konkurrierenden Gewerkschaften.
Was wäre an Folgen zu erwarten? Erstens könnten Arbeitgeber durch organisationales Re-Arrangement ihrer Betriebe relativ wenig gewinnen, weil sie damit nur Chancenanteile beeinflussen könnten, nicht aber unliebsame Gewerkschaften von Verhandlungen auf lange Sicht völlig ausschließen. Zweitens bliebe es allen Gewerkschaften unbenommen, um neue Mitglieder auch miteinander konkurrierend zu werben. Das zwingt sie, mehr auf die Stimmen der Arbeitnehmerschaft zu hören und sich weniger als Co-Management der Betriebsleitungen zu verstehen. Aber es wäre keine Existenzfrage mehr, ob man die zahlenmäßig stärkste Organisation im Betrieb ist, sondern verbesserte nur etwas die Chancen bei der nächsten Losziehung. Drittens schließlich wäre ein allzu gruppenegoistisches Verhalten zumindest mittelfristig kontraproduktiv, da die per Los ausgewählte Einrichtung in dieser Zeitspanne für alle Tarifverträge zuständig ist. Denn man verlöre dann enttäuschte Mitglieder aus anderen Gruppen und verringerte somit seine Loschancen in der Zukunft. Das würde auch Spartengewerkschaften solidarisch-integrativer machen und für die Interessen anderer Beschäftigtengruppen offener als heute.
Schwierig finde ich das aber im Kontext von Zentrum Automobil. Diese betiteln sich selbst als Gewerkschaft, sind aber ein rechtsradikales Sammelbecken.
Von einer Tariffähigleit meilenweit entfernt.
Interessierte Idee. Die Prämisse aber stimmt nicht. Bei der Bahn gibt es im wesentlichen 3 relevante Tochterunternehmen (Cargo, Regio, Fernverkehr). Diese haben örtliche Betriebe, die sich über die gesamte Bundesrepublik verteilen. Die Schweiz ist bekanntlich sehr viel kleiner. Außerdem ist Betrieb etwas völlig anderes als Tochterunternehmen. Außerdem sind die Betriebe bei der Bahn per Tarifvertrag mit beiden Gewerkschaften vereinbart, das einseitige Zurechtschneiden durch den Arbeitgeber ist daher nicht der Fall und im Übrigen auch immer nur ein theoretisches Schreckgespenst. Und schließlich: was passiert nach zwei Jahren und anderem Losergebnis? Alles umstellen auf den anderen Tarifvertrag? Und dann nach zwei Jahren wieder zurück? Völlig unpraktikabel und realitätsfern.