Ein paar Geburtstagsfragen an das Bundesverfassungsgericht
Das BVerfG wird 60 heute. Wir alle finden das Gericht super und sind sehr froh, dass es da ist und uns nicht mit den Innenministern dieser Welt alleine lässt. Deshalb vorweg und von Herzen: Alles Gute!
Wenn ich mir aber den schrillen Jubel betrachte, der in dieser Woche allerorten losbricht anlässlich des Karlsruher Jubiläums, möchte ich doch, ohne die Geburtstagsstimmung allzu sehr zu stören, ein paar schüchterne Fragen stellen wollen:
- Als in der ZDF-Sendung neulich, lieber Herr Voßkuhle, begleitet von den Klängen barocker Hofmusik in extenso der Frage nachgegangen wurde, wie die Prachtgewänder Ihrer Kollegen – “siebeneinhalb Meter Stoff im exklusiven Weinrot, Venezia-Futter, die Knopfleiste verdeckt” – gewartet werden, ist Ihnen da nicht ein bisschen mulmig geworden? Oder wie Sie vorher im ARD-Beitrag an der Seite des neben Ihnen herdienernden Frank Bräutigam über die Baustelle im Schlossbezirk stiefelten wie einst König Ludwig in Neuschwanstein – haben Sie sich da wirklich von ganzer republikanischer Seele wohl dabei gefühlt?
- Noch eins, Herr Voßkuhle: Im ZDF-Interview sagten Sie, bei Neuwahlen wäre das BVerfG “im Zweifel aufgerufen, einen verfassungsmäßigen Zustand herbeizuführen”, was das immer noch verfassungswidrige Bundeswahlgesetz betrifft. Und auf die Nachfrage, ob das heiße, Sie wollten es selber machen, wenn die Politik es nicht tue, haben Sie zustimmend genickt. Das habe ich aber schon richtig verstanden, dass Sie nicht vorhaben, die vom Weimarer Reichspräsidenten auf Sie übergegangene Zuschreibung als “Hüter der Verfassung” so auszulegen, dass Sie sich daraus eine Art Not-Gesetzgebungskompetenz auf den Leib schneidern. Oder?
- Als Sie, lieber Heribert Prantl, die letzte SZ am Wochenende dann im Druck gesehen haben, mit der roten Robe ohne Mensch drin, aber mit Engelsflügelchen und unter der beziehungsreichen Überschrift “Die letzte Instanz”, kam Ihnen das nicht im Nachhinein dann doch ein bisschen albern vor? Und dass Sie das BVerfG als “Gnadenort” bezeichnen, wo das “Wunder” des enormen Vertrauens der Deutschen in dieses Gericht gewirkt wurde – meinen Sie nicht, dass Ihnen da ein bisschen was durcheinander geraten ist? Ein Gott, der die von ihm geschaffenen Naturgesetze außer Kraft setzt zum Zeichen seiner Souveränität – war es diese Art Wunder, die Sie da im Sinn hatten?
- Lieber Rolf Lamprecht, auch Ihnen herzlichen Glückwunsch für Ihr Buch “Ich gehe bis nach Karlsruhe”. Ist schön geworden. Völlig zu Recht und in komplettem Einklang mit dem gängigen Narrativ schildern Sie das BVerfG als einen Ort, wo “die Republik … wie eine Klasse von ABC-Schützen … das demokratische Alphabet lernte”. Aber wissen Sie, was ich mich frage? Wie ist das eigentlich heute? Was ist eigentlich im Jahr 2011, wo Adenauer schon bald ein halbes Jahrhundert tot ist, so wahnsinnig demokratisch daran, ein Gelehrten-Gremium aus 16 weisen Männern und Frauen, das im Geheimen debattiert und seine Ratschlüsse ex cathedra verkündet, mehr zu verehren als das eigene Parlament?
So, jetzt will ich aber nicht länger stören. Eine schöne Feier wünsche ich heute abend! Ich gehe nicht hin, bin sowieso erkältet. Ich nehme mir lieber ein gutes Buch, das von Oliver Lepsius et. al. zum “entgrenzten Gericht” zum Beispiel, und mache es mir gemütlich.
Foto: Sugar Daze, Flickr Creative Commons
Das erinnert mich an die Bemerkung:
“Manche Leute schütteln so lange den Kopf über der Suppe, bis sie ein Haar darinnen finden.”
Danke für die Leseempfehlung für “Das entgrenzte Gericht” (ich habe es auf meine Wunschliste gesetzt: http://andreasmoser.wordpress.com/books-my-wishlist/) und gute Besserung!
1. “Was ist eigentlich im Jahr 2011… so wahnsinnig demokratisch daran, ein Gelehrten-Gremium aus 16 weisen Männern und Frauen, das im Geheimen debattiert und seine Ratschlüsse ex cathedra verkündet, mehr zu verehren als das eigene Parlament?
2. “…Ich nehme mir lieber ein gutes Buch, das von Oliver Lepsius et. al. zum “entgrenzten Gericht” zum Beispiel, und mache es mir gemütlich.”
Lustigerweise passen zu diesen beiden Punkten zwei andere jüngere Postings:
1. Sticht Demokratie Menschenrechte?
2. Aus dem Baer-Bericht: “You are not smart enough, we would be smarter.” Man möchte fast hoffen, dass einer der Autoren dieses Bandes es zum Verfassungsrichter bringt, um dann zu sehen, wie er von dort aus seine Stellung interpretiert.
lieber max
so ist es, warum feiert eigentlich nicht der Bundestag seinen 60.? Aber das BVerfG mit allem Pomp. Unbedingt lesen, das entgrenzte Gericht, ist ein wirklich schönes pixi Buch geworden.
Den Glückwünschen schließe ich mich an – den Fragen eher nicht.
Frage Nr 1 impliziert, das Gericht übertreibe es mit der Repräsentation (Roben! nein: Prachtgewänder!). Gewissermaßen im Anschluß an Chr. Schönberger, der sich darüber in seinem ansonsten lesenswerten Beitrag in dem im Beitrag erwähnten Suhrkamp-Bändchen mokiert (S. 26). Man mag diese Roben wie auch jene in der übrigen Justiz albern finden – aber leidet unser Gemeinwesen denn wirklich an einem Zuviel an Repräsentation seiner Institutionen? Und warum sollte das mit der republikanischen Staatsform konfligieren? (Vereinigte Staaten, Frankreich) Und ist nicht die Bereitschaft des Präsidenten, mit einem Reporter einen kleinen Rundgang durch seine Institution zu machen, wirklich ein Beispiel von quasi-monarchischer Abgehobenheit und Bürgerferne? Eher doch das Gegenteil, wenn auch nur vermittelt durchs Fernsehen. Für Kini-Assoziationen muß man wohl ohnehin ein Bayer sein.
Bei Frage 2 stört mich die Hindenburgkeule schon etwas. Es ist ja das Szenario nicht völlig ausgeschlossen, dass die Bundesregierung ihre Mehrheit verliert (bevor ein neues WahlG verabschiedet werden konnte) und es via Art. 68 zu Neuwahlen kommt. Dann wird die Sache wohl doch wieder in Karlsruhe landen, welches durch § 32 BVerfGG ermächtigt ist, vorläufige Regelungen zu treffen (hier: ein provisorisches Wahlrecht). Oder nicht?
Problematische Situation, gewiß. Aber da jetzt wieder im Gestus des Mahners von Weimar zu raunen ist weder originell noch konstruktiv. Muß es aber natürlich auch nicht sein.
PS: Der Titel des Beitrages paßt nicht ganz zum Inhalt…
Die Vorstellung einer wahlgesetzersetzenden Anordnung des BVerfG wird noch irritierender, wenn man das Szenario einmal durchspielt:
Die Einstweilige Anordnung setzt zunächst einen „Streitfall“ voraus, d.h. es muss ein Verfahren beim BVerfG anhängig gemacht werden, in dessen Rahmen das Gericht einen Zustand vorläufig regeln könnte. Nur, welche beteiligtenfähige und antragsbefugte “Partei” sollte sich in welchem Verfahren und mit welchem Antrag an das Gericht wenden? Wir Buerger im Wege der Verfassungsbeschwerde? Oder eine politische Partei im Wege des Organstreitverfahrens? Oder gar Reste des zuvor über Art. 68 GG vom Bundespräsidenten aufgelösten Bundestags? Oder hätten wir uns das ganz anders vorzustellen und das BVerfG würde hier eigeninitiativ tätig?
Wie würde die Entscheidung des Gerichts dann aussehen? Fänden wir unter dem Rubrum eine dem Bundeswahlgesetz nachempfundene Regelung – vielleicht ohne die problematischen Überhangmandate? -, die, nachdem sie vom BVerfG im Internet veröffentlicht worden ist, quasi Gesetzeskraft erlangt? Kann eine einstweilige Anordnung des BVerfG überhaupt Gesetzeskraft erlangen? § 31 Abs. 2 BVerfGG nennt diesen Fall nicht, und die „Vorläufigkeit“ der angeordneten Regelung spricht außerdem dagegen, außerdem tritt die einstweilige Anordnung nach sechs Monaten außer Kraft (§ 32 Abs. 6 BVerfGG).
In inhaltlicher Hinsicht eröffnet das Gedankenspiel freilich interessante Dimensionen: So hätte sich das BVerfG vielleicht gar nicht damit zu begnügen, eine akzeptable Lösung für das Problem des negativen Stimmgewichts zu finden. Könnte es sich aber sogar für ein Mehrheitswahlrecht anstelle der Verhältniswahl entscheiden? Und wer sollte etwas dagegen einwenden können, eine Verfassungsklage gegen die Anordnung des BVerfG wäre ja nicht gegeben.
Schwer vorstellbar, dass eine solche Notanordnung wirklich den gesetzlichen Rahmen für eine Bundestagswahl darstellen können soll, die immerhin den wichtigsten Akt der Vermittlung demokratischer Legitimation in der Bundesrepublik bildet.
Mit Blick auf die ueber 60 Jahre gewachsenen verfassungsrechtlichen Strukturen lassen sich die hier aufgeworfenen Fragen nicht beantworten. Ein BVerfG, das so handelte, wäre nicht das Gericht, das zur Zeit überall bejubelt wird. Zum Glück stellen sich diese Fragen praktisch schon bald nicht mehr, wenn der Bundestag jetzt endlich zu Potte kommt. Bleibt nur noch die Frage, was den Präsidenten dazu bewogen hat, in dieser Sache nicht dieselbe Zurückhaltung zu üben, die ihn sonst auszeichnet.
Mich interessierte es, ob das BVerfG sich vom Papst in punkto “Naturrecht” beraten ließ, und ob wir dementsprechende Rechtsprechung zu erwarten hätten. Als der Papst dies vor dem Bundestag ansprach, begab er sich in klar verfassungswidriges Fahrwasser, aber da eine satte Mehrheit unserer Abgeordneten begeistert applaudierte können wir wohl in Bälde (bedeutet in Verfassungsrechtsfragen einen Zeitraum von 3 bis 10 Jahren) mit einer ordentlichen Neufassung der Menschenrechtsklauseln rechnen. Oder?
;)
@Matthias Kötter
Natürlich würde das Gericht nicht von sich aus tätig werden. Aber würde nicht die auf Art. 38 I (Gleichheit der Wahl) gestützte Verfassungsbeschwerde eines jeden Wahlberechtigten genügen, um den Fall nach Karlsruhe zu bringen?
Warum ein nach Maßgabe einer vorläufigen Regelung abgeändertes Wahlgesetz keine Grundlage für eine Wahl soll sein können, erschließt sich mir nicht. Dass das BVerfG in diesem Fall von einer -ihm durch den Gesetzgeber zugewiesenen- Notkompetenz Gebrauch macht, ist doch per se kein Grund, die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs in Zweifel zu ziehen. Genausowenig die Tatsache, dass der Schritt ohne Präzedenz wäre. Es gibt eben – mit § 32- eine gesetzliche Grundlage. Das kann für manches Regierungshandeln in der letzten Zeit nicht gesagt werden, aber das ist eine andere Geschichte. Anzunehmen ist ferner, dass das Gericht in seiner Weisheit sehr zurückhaltend von § 32 Gebrauch machen würde und eben nicht ein völlig anderes Wahlsystem anordnete.
(Übrigens würde ich auch dem Bundespräsidenten so viel staatspolitische Klugheit zutrauen, in unserem theoretischen Fall den Bundestag nicht aufzulösen, ehe dieser wenigstens noch ein neues Wahlgesetz verabschiedet hat.)
Schließlich kann man sicher geteilter Meinung sein, ob Voßkuhle unbedingt das provisorische Wahlgesetz in seiner Schublade hätte erwähnen müssen. Es spricht immer viel dafür, sich als Richter in derartigen Situationen im Zweifel zurückzuhalten. Andererseits ist es doch wohl auch ein berechtigtes Anliegen, sich im Verfassungsleben gegenüber anderen Staatsorganen zu behaupten. Wenn Bundestag und Bundesregierung meinen, das Gericht in dieser Frage ignorieren zu können, darf dessen Präsident das meiner Meinung nach nicht nur kritisieren, sondern auch einmal andeuten, dass es für die für den Fall der Fälle beschworene Staatskrise einen Ausweg weiß.
Im Übrigen: Wie sollte das Gericht in dem hier in Rede stehenden Szenario sonst handeln?
1. Für eine einstweilige Anordnung wäre ein (bevorstehendes) Hauptsacheverfahren Voraussetzung. Eine auf Art. 38 GG gestützte Verfassungsbeschwerde könnte aber möglicherweise an § 49 BWahlG scheitern. Danach gilt für “Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen”, der Vorrang der nachträglichen Wahlprüfungsverfahrens. Wobei es – vorausgesetzt dessen Voraussetzungen liegen überhaupt vor, was mir jedenfalls nicht selbstverständlich zu sein scheint – wiederum Ausnahmen geben könnte (vgl. BVerfG, 2 BvQ 31/05 vom 13.9.2005, Rn. 7: “Besondere Umstände, wie etwa die herausgehobene staatspolitische Bedeutung der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, die den Senat bewogen hat, Rechtsschutz ausnahmsweise vor Durchführung der Wahl zu gewähren”, unter Hinweis auf BVerfGE 82, 322 und 353.).
2. Das Szenario eines Einschreitens von Amts wegen scheint mir nur unter einem Gesichtspunkt denkbar – dem Erlass von Übergangsvorschriften nach § 35 BVerfGG durch das Gericht. Das ist gängige und problematische Praxis. Selbst wenn man diese Praxis aber für grundsätzlich von § 35 BVerfGG gedeckt erachtet, liegt auf dem Weg zu einer Übergangsvorschrift auch im vorliegenden Fall noch ein Hindernis: Eine Regelung nach § 35 BVerfGG ist dem Gericht nur „in seiner Entscheidung“ möglich, also zusammen mit dem Urteil.
Letzteres ist aber unter Umständen kein Hindernis für jene Gelehrten, die die Berechtigung des BVerfG zum Erlass von Übergangsvorschriften direkt dem GG entnehmen.
Es wäre jedenfalls im Ergebnis wenig einleuchtend, zunächst am Ende eines langen Wahlprüfungsverfahrens die teilweise Verfassungswidrigkeit des BWahlG festzustellen um nun (nach Ablauf der dem Gesetzgeber gesetzten Frist) zu verlangen, wiederum diesen Weg einzuschlagen. Eine ganz unproblematische Möglichkeit scheint mir im Übrigen ein Verfahren im Wege der abstrakten Normenkontrolle zu sein, die auch von jeder Landesregierung beantragt werden könnte (vgl. BVerfGE 52, 63, 80). Daran ändert m.E. auch der Umstand nichts, dass eben die Verfassungswidrigkeit von Teilen des BWahlG bereits festgestellt ist.
@Claudio Franzius: Der Bundestag hat seinen 60. auch gefeiert. Das ist allerdings schon zwei Jahre her. Vielleicht haben Sie das einfach nur vergessen? ;)
[…] the legal/academic community with an abundance of books and articles. Maximilian Steinbeis’ Verfassungsblog provides some guidance on what is worth reading. Apart from that, Verfassungsblog is an excellent […]
wollte gerade auf meinen Post hinweisen, udn jetzt sehe ich ihn schon in trackback – dem ist eigentlich nix hinzuzufügen! Beste Grüße, PB