04 March 2021

Ein Recht auf Impfung?

Zwischen Teilhaberecht und dem Gebot der Kapazitätsausschöpfung

Die verfassungsrechtliche Debatte um die gerechte Priorisierung bei den Corona-Schutzimpfungen verdeckt ein mittlerweile vorrangiges Problem, dem sich Gerichte annehmen sollten: vorhandene Impfdosen finden keine Abnehmer und bleiben ungenutzt. Die Frage der Rationierung des Impfstoffs würde entschärft, wenn zunächst einmal das Verfahren der Verteilung vereinfacht und durchlässiger gestaltet würde. Angesichts der steigenden Zahl ungenutzter Impfdosen sollten Gerichte ein Recht auf Kapazitätserschöpfung durchsetzen können, das nicht unter einem Vorbehalt des Möglichen steht. Ein solches Recht hat das Bundesverfassungsgericht bereits für die Verteilung von Studienplätzen anerkannt.

Impfansprüche vor den Verwaltungsgerichten

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Verwaltungsgerichte die ersten Klagen erreichen würden, in denen Kläger ihr „Recht auf Impfung“ durchzusetzen versuchten. Vereinzelt ging es um Härtefälle, deren Gesundheitsrisiko in der Reihenfolge der Priorisierung nicht ausreichend berücksichtigt worden war. Andere rügten bloß eine Ungleichbehandlung: Ein Rentnerehepaar klagte etwa vor dem VG Gelsenkirchen dagegen, dass gleichaltrige Personen, die in Altenheimen lebten, früher geimpft werden.

Mehrere Verwaltungsgerichte haben nun bereits darauf hingewiesen: Ein Recht auf eine Impfung stehe unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ und könne daher nicht unbegrenzt eingefordert werden (VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 11.1.2021; bestätigt durch: OVG Münster, Beschl. v. 22.1.2021; siehe auch: VG Hannover, Beschl. v. 25.01.2021). Es handelt sich hierbei um eine bekannte Begründungsfigur, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Numerus-Clausus-Urteil einem „Recht auf einen Studienplatz“ entgegenhielt (BVerfGE 33, 303).

Teilhabe- oder Leistungsrecht

Um zu verstehen, was damit gemeint ist und wo in Anbetracht der abgewiesenen Klagen noch Potenzial für ein „Recht auf Impfung“ bleibt, muss zwischen den denkbaren „Anspruchsgrundlagen“ unterschieden werden: einem derivativen Teilhaberecht und einem originären Leistungsrecht (vgl. hierzu die Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung von 1971).

Das Teilhaberecht ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz. Es gewährt nur eine gleiche Chance in der Verteilung dessen, was der Staat bereits an Kapazitäten geschaffen hat. Im Fall der Impfstoffe fordert der Gleichheitssatz deshalb eine willkür- und diskriminierungsfreie Verteilung der vorhandenen Dosen. Dem Normgeber steht bei der Festlegung der Reihenfolge ein weiter Gestaltungsspielraum offen. Die vielfältigen international diskutierten Vorschläge für eine gerechte Impfstoffverteilung zeigen an, dass es nicht die eine richtige Reihenfolge gibt. Der Normgeber darf, um die Praktikabilität der Umsetzung sicherzustellen, bei der Festlegung der Priorisierung auch typisieren. Die Typisierung muss nur sachgerecht sein: Deshalb konnte das VG Gelsenkirchen die Priorisierung der Heimbewohner für zulässig erklären. Die Typisierung beruhte auf der sachgerechten Erwägung, dass das Infektionsrisiko in einer Gemeinschaftsunterkunft höher ist als in privaten Wohnungen. Solche Typisierungen nehmen in Kauf singuläre Schicksale in ihrer Eigenkomplexität nicht vollständig berücksichtigen zu können. Typisierungen sind aber letztlich ein unverzichtbares Instrument des modernen Staates, der seine Organisation formal rationalisiert hat und nur auf diese Weise in die Lage versetzt ist, Leistungen wie Schutzimpfungen an die Allgemeinheit flächendeckend und effizient zu verteilen (vgl. Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, S. 31). Ohne diese Typisierungen wäre die erreichte Impfquote wahrscheinlich noch weitaus niedriger, als sie es jetzt schon ist.

Ein Anspruch auf hierüber hinausgehende Dosen, also eine Ausweitung des Vorhandenen, könnte sich nur dann ergeben, wenn den Klägern ein originäres Leistungsrecht auf eine Impfung zustünde. Die einfachgesetzliche Regelung in § 1 Abs. 1 CoronaImpfV ordnet allerdings ausdrücklich an, dass ein Anspruch nur „im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe“ bestehe. Dieser geschriebene Möglichkeitsvorbehalt wäre allenfalls dann wirkungslos, wenn ein grundrechtlicher Anspruch sich einer solchen Einschränkung entzöge. Ein (vorbehaltloses) Leistungsrecht könnte sich aus dem Recht auf Leben ergeben. Immerhin bietet eine Impfung Schutz gegen eine möglicherweise tödliche Corona-Infektion. Die Diskussion darüber, ob ein solches Recht nicht relativierbar sei, also nicht unter einen Vorbehalt des Möglichen gestellt werden dürfe (vgl. die Kontroverse zwischen Habermas und Günther), greift bereits auf die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Verweigerung staatlichen Schutzes vor. Dabei geht es letztlich darum, ob Gesundheit und Leben um jeden Preis zu schützen sind, also sich das entsprechende Recht wie ein „Trumpf“ gegen jedes andere öffentliche Interesse durchsetzt und der Staat ohne jede Einschränkung Schutz bereitstellen muss. Die überzeugenderen Gründe sprechen gegen ein absolutes Recht auf Gesundheit um jeden Preis, dessen Primat letztlich alle anderen Freiheiten ihres Schutzes berauben würde. Die komplexen Trade-Offs, die Gesetzgeber und Regierung bei der Auswahl der richtigen Maßnahmen unter Bedingungen unsicheren Wissens zu treffen haben, sind angesichts der unzähligen Interessen, die um knappe Ressourcen konkurrieren, weiterhin nur politisch zu entscheiden. Die „richtige“ Entscheidung lässt sich nicht aus Fakten ableiten und zu einer Frage wissenschaftlicher Erkenntnis umstilisieren (lesenswert hierzu: Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, Stuttgart 2021). Der Vorwurf, die Bundesregierung oder die von ihr beauftrage Europäische Kommission hätte „mehr möglich machen“ und wie andere Staaten die Impfstoffe letztlich um jeden Preis einkaufen sollen, berechtigt jedenfalls nicht zu einer eindeutigen Feststellung der Verletzung eines Rechts auf Gesundheit, das insoweit eben doch unter dem Vorbehalt des Möglichen steht.

Das Gebot der Kapazitätserschöpfung

Letztlich muss ein Gericht, das die Verletzung eines „Rechts auf eine Impfung“ überprüfen soll, aber gar nicht zu diesen Abwägungsfragen übergehen. Denn interpersonelle Nutzenvergleiche werden erst erforderlich, wenn überhaupt mehrere Anspruchssteller auf knappe Ressourcen zugreifen wollen. Derzeit scheint das vordergründige Problem aber ein anderes zu sein: vorhandene Impfdosen finden keine Abnehmer und bleiben ungenutzt. Die Frage der Rationierung des Impfstoffs könnte insofern entschärft werden, wenn man zunächst einmal das Verfahren der Verteilung rationalisiert. Das bedeutet unter Umständen auch, auf das ideale Maß an Einzelfallgerechtigkeit zu verzichten und die Typisierung in der Impfreihenfolge noch weiter zu vereinfachen oder sie durchlässiger zu gestalten.

Nicht übersehen werden sollte nämlich angesichts der vielen nicht verabreichten Impfdosen ein anderes – weniger umstrittenes Gebot, nämlich das der Kapazitätserschöpfung. Das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Gebot bereits für die Verteilung von Studienplätzen mehrfach durchgesetzt. Zulassungsbeschränkungen, so die Karlsruher Richter, seien nur dann gerechtfertigt, wenn die „mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten“ erschöpfend genutzt werden (siehe: BVerfGE 39, 258 (266)). Allerdings sei ein entsprechendes Recht auf Kapazitätserschöpfung erst dann verletzt, wenn der Normgeber aus Erfahrungen und Erkenntnissen nicht lernt und die Abstellung von offensichtlichen Kapazitätsverschwendungen unterlässt.

Ein Grundrecht auf ein effizienteres Verfahren

Wer sich im Lichte dieser Rechtsprechung nun einen unbedingten Anspruch auf Impfung erhofft, dürfte enttäuscht werden. Denn die freien Kapazitäten sind schließlich immer noch begrenzt. Ein Gericht könnte lediglich ein Grundrecht auf ein Verfahrendurchsetzen, das die effizientere Ausschöpfung der Kapazitäten sicherstellt – kein Recht auf einen konkreten Impftermin oder einen bestimmten Impfstoff. Verwaltungsgerichte müssten die Verletzung eines solchen prozeduralen Rechts feststellen, wenn der Normgeber (richtigerweise wohl der Bundesgesetzgeber und nicht das Bundesgesundheitsministerium) die bisherige Prozedur trotz evidenter Ineffizienzen nicht umstellt. Die Lernpotenziale treten mittlerweile offen zu tage, weil andere Länder wesentlich effizienter impfen. Selbst Staaten, die bislang nicht als Musterbeispiele in Sachen Effizienz und Funktionsfähigkeit galten (z.B. Serbien und Chile) ziehen an Deutschland vorbei und erreichen höhere Impfquoten. Die Anhaltspunkte für eine ungenügende Kapazitätsausnutzung verdichten sich im Lichte des internationalen Strategievergleichs. Dass die Kapazitäten nicht ausgeschöpft werden, hat auch mit der komplizierten und offenbar noch zu starren Priorisierungsregelung zu tun, die zwar von dem Bemühen getragen ist, ein hohes Maß an Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, die es bislang aber offenbar nicht ermöglicht, unausgeschöpfte Kapazitäten schnell und flexibel an nachrangige Impfgruppen weiterzugeben. Deshalb sollten die Gerichte vom Normgeber auch verlangen, informierte Prognosen darüber anzustellen, ob eine praktikablere Priorisierungsregelung, die eine flexiblere Verteilung erlaubt, nicht in kürzerer Zeit wesentlich mehr Impfungen ermöglichen würde. In Staaten, die effizienter impfen, sind die Rentner, die vor dem VG Gelsenkirchen geklagt haben und die gleichaltrigen Heimbewohner längst geimpft und eine Klage erübrigt sich. Es sollte evident sein, dass dieses praktikable Verfahren, in dem „besser einzelne zu früh“ geimpft werden, einem komplizierten Verfahren, in dem „ja keiner zu früh“ geimpft wird, vorzuziehen ist. Die Ausschöpfung vorhandener Kapazitäten fordern zu dürfen, entspricht dem Minimal-Gerechtigkeitskriterium der Pareto-Effizienz: Wenn Vorteile zugunsten des einen ohne Nachteile zulasten anderer erreicht werden können, wäre es pareto-inferior und deshalb nicht zu rechtfertigen, die Verteilung dieser Vorteile (Impfungen) zu verweigern (siehe: Pareto, Manuel d’économie Politique). In einer Verhältnismäßigkeitsprüfung entspricht dieses Kriterium dem der Erforderlichkeit. Eine Verweigerung von Impfdosen ist nicht erforderlich, wenn vorhandene Kapazitäten gar keinen anderen Abnehmer finden, der auf sie verzichten müsste. Gerichte können nicht erforderliche Vorenthaltungen eines Impfstoffs sanktionieren, ohne überhaupt zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne übergehen zu müssen.

Ein entsprechendes Gebot effizienterer Kapazitätserschöpfung ließe sich auf diese Weise wirkungsvoll durchsetzen, ohne dass Gerichte ihre Kompetenzen überschreiten würden. Denn die Durchsetzung dieses Gebotes verhindert nur eine Verschwendung bzw. das Liegenlassen vorhandener Kapazitäten. Ein entsprechendes Urteil würde den Gesetzgeber zu keinen Mehrausgaben zwingen. Das Gericht griffe also nicht in budgetäre Entscheidungen ein, die politisch zu entscheiden wären. Ein Recht auf ein Verfahren, das ungenutzte Kapazitäten effizienter verteilt, darf deshalb nicht unter den Vorbehalt des Möglichen gestellt werden.


6 Comments

  1. Henrik Eibenstein Thu 4 Mar 2021 at 11:23 - Reply

    Vielen Dank für den schönen Beitrag!

    M.E. zu Recht kommen Sie deutlich auf die starre Prioisierungsregelung zu sprechen und fordern folgerichtig die “Typisierung in der Impfreihenfolge durchlässiger zu gestalten”. Das (zur Festlegung der Periodisierung ohnehin nicht zuständige) Bundesministerium für Gesundheit hat der Möglichkeit flexiblerer Praxisanwendung allerdings mit Wirkung vom 8.2.2021 einen Riegel vorgeschoben. Während § 1 Abs. 2 S. 1 CoronaImpfV bis dahin noch normierte, dass die Länder und der Bund den vorhandenen Impfstoff so nutzen sollen(!), dass die Anspruchsberechtigten in der festgelegten Reihenfolge berücksichtigt werden, ist aus dem “sollen” seither ein “haben zu” geworden. Dass man damit auch besonderen Härtefällen, etwa im zuvor möglichen Wege einer Interpretation der Vorschrift als intendiertes Ermessen, ein vorzeitiges Impfangebot unmöglich macht, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
    Für eine grundlegende Klärung bedürfte es einer Vorlage an das BVerfG durch ein mit entsprechenden Fragen befasstes VG im Wege der konkreten Normenkontrolle jedoch nicht; sie wäre sogar unzulässig (die CoronaImpfV ist kein tauglicher Vorlagegegenstand).

    • Lino Munaretto Thu 4 Mar 2021 at 19:27 - Reply

      Vielen Dank, für die Ergänzung und einen natürlich ganz richtigen Hinweis. Die CoronaImpfV ist kein tauglicher Vorlagegegenstand. Hier ist eine Korrektur angebracht.

      • Henrik Eibenstein Thu 4 Mar 2021 at 22:52 - Reply

        Lassen Sie mich bitte anmerken, dass mein Kommentar keineswegs belehrend daherkommen sollte; was auch umso befremdlicher anmuten würde nachdem ich nun bemerke, dass es keine gute Idee zu sein scheint, leichthin „Priorisierung“ am Handy zu tippen… :-)

    • Dr. P. Stuermer Fri 5 Mar 2021 at 21:19 - Reply

      Gehe 100% konform.
      Man wird sich fragen müssen, wie die Länder hier ihre flexiblen Regelungen auf sichere Füße stellen wollen, wenn es bei der gegenwärtigen Formulierung der Coronaimpfverordnung bleibt.

  2. Anna Leisner-Egensperger Thu 4 Mar 2021 at 16:43 - Reply

    Bei unzureichender Kapazitätsausnutzung trifft die zuständigen Behörden im Rahmen der Erfüllung derivativer Leistungsrechte in der Tat eine Pflicht zur unverzüglichen Kapazitätsausschöpfung. Ein Unterschied zur Studienplatzvergabe besteht allerdings darin, dass bei Aufdeckung ungenutzter Kapazitäten im Bereich der Schutzimpfungen überdies der “Kernbereich der Leistungspflicht” i.S.d. von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geforderten Mindestversorgung betroffen ist (BVerfGE 115, 25 [49]). Daher bleibt zu hoffen, dass der Staat seiner diesbezüglichen Schutzpflicht für das Leben auch ohne gerichtlichen Druck nachkommt.

  3. Jens Fri 5 Mar 2021 at 15:19 - Reply

    Ist es eigentlich sonnenklar, dass ein Ungeimpfter kein Recht auf die Zweitdosis eines (schon) Erstgeimpften haben kann (bei Impfstoffen mit doppelter Dosis und recht wirksamer Erstdosis), solange beide um knappe Impfressourcen konkurrieren ?

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