Ein Recht nur für Kinder?
Das Recht auf Bildung im Schulschließungsbeschluss des BVerfG im Lichte der Kinderrechtsdebatte
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf schulische Bildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit pandemiebedingter Schulschließungen heute festgestellt und damit erstmals bestätigt, dass es Grundrechte gibt, die nur und explizit für Nicht-Erwachsene gelten. Stellt das in dem Beschluss erstmals vorgestellte Recht auf Schulbildung aber tatsächlich ein genuines und ausschließliches Kinderrecht dar? Und was bedeutet die Entscheidung für den anhaltenden Kinderrechtediskurs?
Über die Frage, ob explizite Kinderrechte ins Grundgesetz gehören, wird seit Jahren intensiv gestritten, und dieser Streit kann sowohl auf politischer als auch auf juristischer Ebene als festgefahren bezeichnet werden((für den juristischen Diskussionsstand vgl. Kirchhof, NJW 2018, 2690 sowie Hohmann-Dennhardt, FPR 2012, 185)). Die scheidende Große Koalition hatte sich in im Koalitionsvertrag vorgenommen, Art. 6 Abs. 2 GG um einen entsprechenden Passus zu ergänzen, war damit aber in diesem Sommer gescheitert. Manche befürchteten, hierdurch werde der Weg für erhebliche staatliche Eingriffe in das Elternrecht geebnet und das sorgfältig austarierte Verhältnis Eltern-Kinder-Staat gestört. Zum anderen gibt es grundsätzlichen Widerstand gegen die Regelungstechnik, vermeintlich Selbstverständliches unnötigerweise ausdrücklich in den Verfassungstext zu schreiben((vgl. – sehr differenziert – Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 501, sowie hier und hier; Kritik am Gesetzesentwurf unter anderem auch hier)).
Daneben stellte sich die Frage, welche Rechte denn ausschließlich (!) für Kinder und Jugendliche gelten sollten. Schließlich wenden sich die Grundrechte des Grundgesetzes in aller Regel nicht an konkrete Personenkreise (die explizite und exklusive Nennung etwa von Müttern in Art. 6 Abs. 4 GG als regelbestätigende Ausnahme). Wenn es keine „Erwachsenengrundrechte“ gibt, warum sollte das Grundgesetz umgekehrt Rechte enthalten, auf die sich nur Kinder berufen können? Kommt es nicht vielmehr auf eine Auslegung und Anwendung der existierenden Grundrechte entsprechend den Voraussetzungen und Bedürfnissen nicht-erwachsener Menschen an?
Dies ist die Folie, vor der das Bundesverfassungsgericht nun in seinem Beschluss ausdrücklich von einem Grundrecht nur der Kinder und Jugendlichen spricht. Eine solche Lesart des Beschlusses ist zwingend, nicht nur nach der vom Gericht gewählten Formulierung sowie des Bezugs auf die unter Art. 7 Abs. 1 GG fallenden Schulformen, die eben in der Regel nicht von Erwachsenen besucht werden. Das Karlsruher Gericht begründet insbesondere die Reichweite und den Stellenwert des Rechts auf Schulbildung, indem es die spezifische Bedeutung des Schulbesuchs für die intellektuelle und soziale Entwicklung und das körperliche und seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen auf Basis der Sachverständigenstellungnahmen herausarbeitet. Die Elternrechte, die von einigen Beschwerdeführer*innen ebenfalls geltend gemacht worden waren, seien in Abgrenzung zu den Kinderrechten im Großen und Ganzen weniger stark betroffen (Rn. 200-221).
In seiner Herleitung des Rechts auf Schulbildung stellt das Gericht zunächst auf das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG ab, wobei es mehrfach betont, dieses sei ein „eigenes“ Recht der Kinder (Rn. 45, 46). Auch hebt es in diesem Zuge hervor, dass der Staat gegenüber Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen besonders zur Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung verpflichtet sei. Hieraus und aus der Rolle, die der Staatsgewalt in Art. 7 Abs. 1 GG zugewiesen ist, folge im Gegenzug auch ein Recht des Kindes, diese Unterstützung in Form von schulischer Bildung zu erhalten (Rn. 48). Der Bezug zum „eigenen“ Persönlichkeitsrecht der Kinder stellt nicht nur klar, dass Kinder von ihren Eltern losgelöste Rechte besitzen. Er eröffnet auch den Blick auf die spezifischen Besonderheiten des Persönlichkeitsrechts von Nicht-Erwachsenen: Diese befinden sich noch stärker als Erwachsene in einem Zustand ständiger Persönlichkeitsentwicklung, für den äußere Einwirkungen jeglicher Art besonders weitreichende Folgen haben und der daher des Schutzes und der Förderung bedarf. Somit erfolgt bereits die dogmatische Herleitung des Rechts auf Schulbildung vor dem Hintergrund kindesspezifischer Erwägungen und macht damit deutlich, dass es sich nach der Vorstellung des Verfassungsgerichts um ein genuines Kinder-Recht handelt.
Dies wird noch deutlicher bei der eigentlichen Argumentation des Gerichts zur Schwere des Eingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Unter ausführlicher Auswertung der verschiedenen Fachstellungnahmen arbeiten die Karlsruher Richter*innen heraus, wie sich die Schulschließungen sowohl in Form von Digitalunterricht als auch von komplettem Schulausfall auf die intellektuelle und soziale Entwicklung ausgewirkt haben (Rn. 137-144);((zu einer rechtlichen Einordnung der pandemischen Auswirkungen für Kinder vgl. bereits hier)). Auch betonen sie, dass gerade Grundschulkinder sowohl aufgrund besonderer Schwierigkeiten in der Distanzlehre als auch aufgrund des frühen Entwicklungsstadiums besonders negativ betroffen waren (Rn. 148). Diese Argumente untermauern weiter die „Kindesspezifität“ des Rechts auf Schulbildung: Ein wesentlicher Teil seines Gewichts im verfassungsrechtlichen Sinne folgt gerade aus dem kindesspezifischen Entwicklungsstadium und dem Stellenwert, den Bildung in diesem einnimmt.
Schließlich greift das Bundesverfassungsgericht auch auf den – in seiner Konstruktion und Umgrenzung notorisch schwer fassbaren – Begriff des Kindeswohls zurück: Die Belastung der Familien in der Pandemie bei gleichzeitigem Wegfall der Schule als Ausweich- und Schutzraum sowie Kontrollinstanz gefährde das körperliche und geistige Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen erheblich (Rn. 150-152).
Nach alldem ist klar, dass das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich des Rechts auf Schulbildung auf Kinder und Jugendliche beschränken möchte. Eine Erweiterung etwa auf erwachsene Analphabet*innen, Bildungsangebote für Geflüchtete oder erwachsene Menschen mit Behinderung steht demnach aus Sicht des Gerichts nicht im Raum. Nach der Konzeption in der Entscheidung wird das Recht der Kinder auf Persönlichkeitsentfaltung überhaupt erst aktiviert durch den besonderen Stellenwert der Schule in der kindesspezifischen Entwicklung. Demnach geht das Gericht derzeit nicht davon aus, dass im Bereich der Erwachsenenbildung ähnliche grundlegend persönlichkeitsrelevante Rechte verwirklicht werden.
Die Entscheidung dürfte sich auf den Kinderrechtsdiskurs fraglos signifikant auswirken. Unklar scheint aber zunächst, welche Seite der Debatte um Kinderrechte im Grundgesetz das „neue“ Grundrecht argumentativ für sich wird fruchtbar machen können. Gegner*innen einer Verfassungsänderung könnten sich nunmehr erst recht darauf berufen, dass explizite Kinderrechte im Grundgesetz nicht nötig sein können, wenn das Bundesverfassungsgericht auch beim jetzigen Stand scheinbar ohne große Probleme ein Kinderrecht auf schulische Bildung herleiten kann. Sie könnten zudem in Frage stellen, ob das vom Gericht so benannte Recht auf Schulbildung ein eigenständiges Grundrecht darstellt oder sich bei Lichte betrachtet doch lediglich aus einer kindgerechten Anwendung von Art. 2 Abs. 1 GG ergibt.
Aber auch für Befürworter*innen einer Änderung bietet der Beschluss argumentatives Futter. Denn zum einen hat das Recht auf Schulbildung, obwohl es nicht im eigentlichen Sinne vom Bundesverfassungsgericht „geschaffen“ werden musste (oder konnte), sein Potential als rechtliches Argument erst dadurch gewonnen, dass niemand Geringeres als das Bundesverfassungsgericht es ausgesprochen hat. Wenn dieses Recht in Zukunft fruchtbar gemacht werden wird, um beispielsweise die Rechte von armen Kindern und Jugendlichen oder solchen mit Behinderung auf Bildungsteilhabe geltend zu machen, so wird der Schulschließungsentscheidung hierfür zu danken sein. Dies zeigt die argumentative Macht und das emanzipatorische Potential, die in der der expliziten Benennung von Rechten stecken. Möglicherweise überspitzt ließe sich vertreten: Wenn die potentiell verfassungsändernden Gesetzgeber*innen existierende Grundrechte bewusst nicht-benennen, erschweren sie vielfach deren Wahrnehmung zum Nachteil der Träger*innen.
Zum anderen zeigt die Benennung eines Kinderrechts auf Schulbildung nach dem oben Gesagten, dass es Rechte gibt und geben kann, die dezidierte Kinderrechte sind. Die neue Entscheidung dividiert einmal mehr das komplexe Verhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern auseinander und betont, dass Ersterer besondere Pflichten gegenüber Kindern hat – und diese wiederum eigene Abwehrrechte gegen ihn. Weitere spezifische Kinderrechte ließen sich auf dieser Basis identifizieren – etwa im Bereich der Beteiligung an für Kinder relevanten Entscheidungen – und der Druck, diese auch als solche in der Verfassung zu benennen, mag wachsen.