13 May 2021

„Ein Rechtsraum heißt ein Rechtsraum“

Interpol, das Verbot der Doppelbestrafung und der EuGH

Niemand darf wegen einer Straftat, wegen derer er bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt werden. Das besagen Artikel 50 der EU-Grundrechtecharta, und Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof den Schutzbereich dieses sogenannten Ne-bis-in-idem-Grundsatzes in mehrerer Hinsicht deutlich ausgebaut: In sachlicher Hinsicht legt er den Begriffs der „Verfolgung“ weit aus. Gleichzeitig, und darin liegt die herausragende Bedeutung des Urteils, spannt er den dadurch vermittelten Schutz derart über den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dass er auch das Verhältnis der Mitgliedstaaten zu Drittstaaten oder -organisationen überschirmt – im hier entschiedenen Fall Interpol. 

In dem Fall geht es um einen deutschen Staatsangehörigen, der von einer US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörde per Interpol mittels einer sogenannten Red Notice gesucht wurde. Eine Red Notice ist nach Art. 82 der Rules on the Processing of Data von Interpol (RPD) ein Ersuchen eines Staats an die Strafverfolgungsbehörden der anderen an Interpol beteiligten Staaten, den Aufenthaltsort einer gesuchten Person zu ermitteln und sie festzunehmen bzw. zu überwachen. Dem Ersuchen der US-amerikanischen Behörden lag ein Haftbefehl wegen Bestechung zugrunde. Wegen der gleichen Vorwürfe hatte aber – so das VG Wiesbaden in seinem Vorlagebeschluss – bereits die Staatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren geführt und eingestellt (§ 153a Abs. 1 S. 1 StPO). Im Jahr 2013 ließ die Bundesrepublik Deutschland ein „Addendum“ zu der – wirksam bleibenden – Red Notice einfügen, wonach das BKA insoweit von der Geltung des Doppelbestrafungsverbots ausgehe. Nichtsdestotrotz befindet sich der Kläger nach wie vor auf den Fahndungslisten der übrigen Mitglied- bzw. Schengenstaaten und damit in Gefahr, festgenommen zu werden.

Die Vorlagefragen des VG Wiesbaden gliedern der Generalanwalt Bobek in seinen Schlussanträgen und ihm folgend der EuGH in zwei Komplexe: Zum einen geht es darum, ob das Verbot der Doppelbestrafung auch den Fall einer Einstellung nach § 153a Abs. 1 StPO abdeckt und ob solche Bedenken auch die anderen Mitgliedstaaten aufgrund von Art. 21 AEUV an der Umsetzung einer Red Notice hindern. Zum anderen geht es um den Datenaustausch mit/über Interpol unter der Geltung der Vorgaben der sog. JI-Richtlinie und dabei insbesondere auf mögliche Auswirkungen eines ne bis in idem-Verstoßes. In diesem Zusammenhang wird auch die seit langem brisante Problematik, ob Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau (i.S.d. Art. 36 bis 38 JI-Richtlinie) verfügt, als eigene Vorlagefrage gestellt, die der EuGH allerdings mangels Entscheidungserheblichkeit als unzulässig verwirft.

Ein und derselbe Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Die Grundaussagen des Urteils lassen sich mit diesen Worten des Generalanwalts zusammenfassen:

„Der Grundgedanke muss derjenige einer Sperre sein. Eine Entscheidung, mit der jede weitere Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem Mitgliedstaat ausgeschlossen wird, muss andernorts in ein und demselben Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dieselben Wirkungen haben, wie sie sie in ein und derselben innerstaatlichen Rechtsordnung hätte. Wenn ferner dieser eine Raum im Inneren existiert, muss dies auch nach außen hin Folgen haben.“

Zur sachlichen Reichweite des ne bis in idem-Grundsatzes hatte der EuGH auch bisher schon (etwa hier, Rn. 48) geurteilt, dass eine Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 StPO grundsätzlich geeignet ist, einen Strafklageverbrauch herbeizuführen, und eine rechtskräftige Ab- bzw. Verurteilung nach Art. 54 SDÜ bzw. Art. 50 EuGrCh darstellt. Entscheidend ist dabei, dass nach dem Recht des Mitgliedstaats eine erneute Strafverfolgung ausgeschlossen ist, eine Prüfung in der Sache (dazu hier, Rn. 34 f.), also nicht allein durch Polizeibehörden erfolgt und die „Vollstreckungsbedingung“ i.S.d. Art. 54 SDÜ (dazu hier) eingetreten ist. Der EuGH geht entgegen dem Vorbringen der beteiligten Regierungen zudem davon aus, dass „verfolgt“ werden i.S.d. Art. 54 SDÜ/Art. 50 EuGrCh nicht notwendig eine von mitgliedstaatlichen Behörden betriebene Strafverfolgung bedeutet. Somit können auch vorläufige Maßnahmen aufgrund einer Red Notice eine „Verfolgung“ darstellen: Entscheidend ist, dass funktional der Strafverfolgung zuzuordnende Maßnahmen in und nicht von einem Mitgliedstaat (i.S. eines mitgliedstaatlichen Strafverfahrens) ergriffen werden.

Dies begründet der EuGH zudem durch die bereits aus seiner Rechtsprechung bekannte Verwandtschaft des ne bis in idem mit dem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV (Rn. 79): Demnach soll Art. 54 SDÜ verhindern, „dass eine Person deshalb, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Gebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird (…) Diese Vorschrift gewährleistet Personen, die nach Strafverfolgung rechtskräftig abgeurteilt worden sind, ihren Bürgerfrieden. Diese müssen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen.“

Diese Zielsetzung ist durch eine Red Notice ebenso bedroht wie durch eine erneute mitgliedstaatliche Strafverfolgung. Daher gehen der Generalanwalt Bobek und ihm folgend der EuGH davon aus, dass Art. 54 SDÜ nicht allein gewährleistet, „dass ein Bürger nicht zweimal in einem Gerichtssaal stehen darf. Er geht darüber eindeutig hinaus. Nach diesem Grundsatz müssen zumindest Maßnahmen verboten sein, die unabhängig von ihrer Bezeichnung nach nationalem Recht die Freiheiten einer Person erheblich einschränken (wie eine Verhaftung oder vorübergehende Festnahme) und deren Ergehen in einem logischen, funktionellen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Strafverfahren steht, auch wenn dieses in einem Drittstaat stattfindet“.

Die „extraterritoriale“ Dimension

Vor diesem maßgeblich durch Art. 21 AEUV geprägten Hintergrund verwirft der EuGH die – von mehreren Regierungen vorgebrachte und auch in der Literatur teilweise vertretene –Ansicht, dass das Verbot der Doppelbestrafung nur die Mitgliedstaaten untereinander bindet und auf ihr Verhältnis zu Drittstaaten und -organisationen keine Wirkung entfalten kann (Rn. 93 f. i.V.m. 86 f.). Nach Art. 54 SDÜ und Art. 50 EuGrCh darf niemand, der in der Union rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen ist, erneut verfolgt werden. Niemand, so Generalanwalt Bobek, beinhaltet weder eine territoriale Beschränkung noch erfasst Art. 54 SDÜ nur von Mitgliedstaaten betriebene Strafverfahren – verboten sind vielmehr alle Arten des Verfolgens durch mitgliedstaatliche Behörden. Denn sonst, so der Generalanwalt, könnte der wirksame Grundrechtsschutz dadurch ausgehebelt werden, dass dritte Stellen eingeschaltet werden. Außerdem müsse, wenn Art. 54 SDÜ schon die mitgliedstaatliche Strafgewalt ausschließt, die Verfolgung für einen anderen Staat erst recht ausgeschlossen sein.

Ferner zieht der Gerichtshof Parallelen zu seiner Rechtsprechung in den Verfahren Petruhhin und Ruska Federacija, wonach ein/e Unionsbürger/in durch ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats am Gebrauch ihres/seines Rechts auf Freizügigkeit gehindert ist und daher die Grundrechtecharta anwendbar ist. Der Generalanwalt hält das Vorbringen der deutschen Regierung, dass diese weite Auslegung des Art. 54 SDÜ die bilateralen Beziehungen von Mitgliedstaaten der Union und Drittstaaten belastet und die Erfüllung völkerrechtlicher Verträge unmöglich machen kann, nicht für durchgreifend. Hierbei verweist er auf die Kadi und Al Barakaat-Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten auch im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen Unionsrecht zu beachten haben und das Primärrecht (einschließlich der EuGrCh) insoweit einen Vorrang genießt, der nicht durch völkerrechtliche Übereinkünfte ausgehebelt werden kann. Dem folgt auch der Gerichtshof, der insoweit seine aktuelle Rechtsprechung zur Bedeutung der Art. 18 und 21 AEUV im völkerrechtlichen Kontext der Auslieferung heranzieht (Rn. 100). Zudem stellt der EuGH im konkreten Fall EuGH fest, dass Art. 87 a) ii) RDP gerade eine Abweichung von den im Regelfall einer Red Notice vorgesehenen Maßnahmen zulässt und so eine Beachtung des Unionsrechts ohne Verstoß gegen die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen möglich ist (Rn. 99).

Kein feststehender Schutzschirm im vorgelegten Fall

Dabei kommt es aber auf die verbindliche mitgliedstaatliche Entscheidung an, dass der Grundsatz ne bis in idem für bestimmte Taten greift. Sie gilt für alle anderen Mitgliedstaaten (Rn. 80, 89). Mit den Worten des Generalanwalts Bobek: „Sobald diese Entscheidung getroffen ist (…), genießt ein Unionsbürger einen gewissen „Schutzschirm“ innerhalb der Union, womit er sich innerhalb der Union frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, wegen derselben Tat(en) strafrechtlich verfolgt zu werden.“ Solange eine solche Entscheidung – wie hier (Rn. 101 ff. i.V.m. 87 f.) – fehlt, sind die (anderen) Mitgliedstaaten jedoch nicht gehindert, eine Red Notice umzusetzen. Dies folgt nach dem EuGH daraus, dass Art. 54 SDÜ nicht das Ziel verfolge, bereits mehrfache strafrechtliche Ermittlungen zu vermeiden und so möglicherweise straffällige Personen straflos davon kommen zu lassen. Das liefe dem Ziel eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zuwider und rechtfertige eine Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit bei Unklarheiten über die Geltung von ne bis in idem (Rn. 86 f.). Diese Auslegung sieht der Gerichtshof zum einen durch Art. 57 SDÜ bestätigt (Rn. 83). Zum anderen verweist er auf die Regelungen über die Europäische Ermittlungsanordnung und über den Europäischen Haftbefehl, die ähnliche Bestimmungen bei Unsicherheiten über die Geltung von ne bis in idem treffen (Rn. 103 ff.).

Dory und der Groundhog Day

Im zweiten Komplex von Vorlagefragen geht der EuGH – anders als der Generalanwalt – davon aus, dass die mitgliedstaatliche Verarbeitung personenbezogener Daten aus einer Red Notice, die Taten betrifft, für die ne bis in idem gilt, bereits aus diesem Grunde mit den Vorgaben der JI-Richtlinie unvereinbar ist. Dies verschafft Art. 54 SDÜ/Art. 50 EuGrCH eine unmittelbare datenschutzbezogenen Wirkungsweise: Steht fest, dass die Vorwürfe, die den Zweck der Verarbeitung personenbezogener Daten darstellen, dem Grundsatz ne bis in idem unterfallen ist diese Datenverarbeitung in dieser Form nicht mehr erforderlich und damit unzulässig. Voraussetzung ist insoweit jedoch, wie gesagt, eine rechtskräftige Entscheidung eines Mitgliedstaats über den Strafklageverbrauch (Rn. 120 f.). Allein dessen Möglichkeit ist wiederum nicht ausreichend (Rn. 116).

Zunächst stellt der EuGH heraus, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die im Wege einer Red Notice übermittelt werden, durch mitgliedstaatliche Behörden in den Anwendungsbereich der JI-Richtlinie fällt (Rn. 109 ff.) und grundsätzlich mit deren Vorgaben, insbesondere den allgemeinen Bestimmungen der Art. 4 und 8 JI-Richtlinie vereinbar ist (Rn. 112 ff.) Danach muss eine Datenverarbeitung insbesondere sachlich richtig und für die Ziele der JI-Richtlinie erforderlich sein.

Nach Ansicht des Generalanwalts heißt die Geltung des Doppelbestrafungsverbots noch nicht zwangsläufig, dass die Mitgliedstaaten die personenbezogenen Daten löschen müssten oder nicht mehr verarbeiten dürften: Aus einer unrechtmäßigen Strafverfolgung folge keine unrechtmäßige Datenverarbeitung. Vielmehr sei die Frage einer rechtmäßigen Datenverarbeitung einzelfallabhängig: So könnten einerseits die in der Red Notice enthaltenen Daten auch zugunsten der betroffenen Person verarbeitet werden, etwa dann, wenn sie mit der Angabe versehen werden, dass für bestimmte Vorwürfe gegen die betroffene Person Art. 54 SDÃœ gilt. Dürfte man das nicht, dann könnte – mit den Worten des Generalanwalts – die Löschung der Daten die Polizei ihres Kurzzeitgedächtnisses berauben – wie Dory aus dem Film „Findet Nemo“ – während sich die betroffene Person in einem anderen Film wiederfände, nämlich „Groundhog Day“: Kontinuierlich vom Murmeltier begrüßt, müsste sie sich immer wieder gegen unberechtigte, gegen ne bis in idem verstoßende Verfolgungen zur Wehr setzen.

Anders der EuGH (Rn. 107 ff., insb. Rn. 120): Mit der Geltung von ne bis in idem für die Taten, aufgrund derer eine Red Notice erlassen wurde, entfällt neben der Befugnis zur „Verfolgung“ auch die Erforderlichkeit einer Datenspeicherung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 JI-Richtlinie. Dies hat zur Folge, dass die betroffene Person ihren Anspruch auf unverzügliche Löschung nach Art. 16 Abs. 2 JI-Richtlinie geltend machen kann und die Daten jedenfalls mit einem Hinweis auf ne bis in idem versehen werden müssen.

Bewertung

Das Urteil verdient Zustimmung. Es reiht sich konsequent in die Rechtsprechung des Gerichtshofs ein und sichert überzeugend den Geltungsanspruch des Unionsrechts auch im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Art. 54 SDÜ/50 EuGrCh i.V.m. Art. 21 AEUV werden so zu einem weiteren Grundpfeiler der „externen“ Wirkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, indem sie die Mitgliedstaaten umfassend binden. Wie dieses Verständnis in der Praxis umgesetzt werden kann, zeigt ein Beschluss des OLG Frankfurt, bei dem eine Sperrwirkung einer Entscheidung italienischer Behörden über die Geltung von ne bis in idem im Hinblick auf ein Auslieferungsersuchen von den Vereinigten Staaten an Deutschland angenommen wurde. Nichts anderes muss in Zukunft für Red Notices von Interpol gelten. Mit seiner Abweichung von den Schlussanträgen des Generalanwalts Bobek im zweiten Komplex der Vorlagefragen stellt der Gerichtshof einen überzeugenden Gleichlauf von den Auswirkungen von ne bis in idem auf die Zulässigkeit einer „Verfolgung“ einerseits und einer Datenverarbeitung zu Verfolgungszwecken andererseits her. Auch so wird die Schutzfunktion von ne bis in idem ausgebaut und das mitgliedstaatliche polizeiliche Handeln strenger rechtsstaatlichen Grundsätzen unterworfen. 


2 Comments

  1. Bauß, Marlen Thu 13 May 2021 at 16:07 - Reply

    Es ist wichtig, dass man sich Gedanken macht , wie man die Doppel Bestrafung abschafft

  2. Vonfernseher Fri 14 May 2021 at 05:30 - Reply

    Für mich klingt das zu allererst nach einem unbedingt notwendigen und begrüßenswerten Baustein für den Grundrechtsschutz in Europa.

    Sogleich stellt sich mir als Laie aber bei den gefährlichen Entwicklungen in manchen EU-Ländern (Ungarn, Polen, Malta,…) die Frage, ob man sich mit einer Art Amigo-Justiz der Strafverfolgung in den Ländern entziehen könnte, deren Bürger oder Institutionen die eigentlichen Opfer von Taten wären. Man konstruiere einen irgendartigen Bezug zum Amigo-Land (so wie es die USA ja oft vormachen), komme der Justiz im eigentlich betroffenen Land zuvor und lasse sich “rauskloppen”. Ist so ein Szenario damit jetzt realistischer geworden?

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