22 September 2021

Ein Verfassungsfossil erwacht

Zum Volksentscheid der „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ und dem transformativen Potential des Art. 15 GG.

Am 26. September werden die Berliner WählerInnen mit der Durchführung eines Volksentscheids zur Vergesellschaftung von Wohnimmobilien verfassungsrechtliches Neuland betreten. Unabhängig von seinem Ausgang wird die Forderung nach der Sozialisierung von Grund und Boden sowohl die Politik wie auch die Rechtswissenschaft noch lange beschäftigen. Das Vergesellschaftungsvorhaben gibt daher Anlass, den transformativen Charakter des grundgesetzlichen Eigentumsschutzes zu betonen, der sich insbesondere in der Auslegung und Anwendung des Art. 15 GG widerspiegelt.

Gegenstand des Volksentscheids

Gegenstand des von der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ angeregten Entscheids ist ein sog. Vergesellschaftungsgesetz, welches durch den Berliner Senat erarbeitet werden soll. Ziel ist es, die Wohnbestände aller profitorientierten Wohnungsunternehmen, die über 3000 Wohnungen im Land Berlin halten, zu sozialisieren. Im Fokus des Vorhabens stehen damit ca. 220.000 Wohnungen, was derzeit ein Achtel des Berliner Wohnbestandes ausmacht. Die vergesellschafteten Immobilien sollen in eine Anstalt des öffentlichen Rechts überführt und unter demokratischer Beteiligung von MieterInnen, Stadtgesellschaft, Beschäftigten und dem Senat verwaltet werden. Die nicht-gewinnorientierte Ausrichtung sowie das Verbot einer Reprivatisierung werden dabei in der Anstaltssatzung verankert.

Anders als ihr Name vermuten lässt, strebt die Trägerin des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ keine Enteignung im verfassungsrechtlichen Sinne an. Sie fordert nicht den bloßen Übergang von Individualeigentum auf einen anderen Träger, sondern beabsichtigt die (partielle) Umwandlung der gewinnorientierten Wirtschaftsordnung in eine gemeinnützige. Die materielle Grundlage des angestrebten Gesetzes liegt daher in Art. 15 GG, der es erlaubt „Grund und Boden […] zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, […] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ zu überführen. Während dem Artikel bei Inkrafttreten des Grundgesetzes noch eine gewisse Bedeutung für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung zugemessen wurde, ist er spätestens während des Kalten Kriegs in Rechtswissenschaft und Politik in den Hintergrund gerückt. Heute wird die Vorschrift sogar als „Verfassungsfossil“ des Grundgesetzes beschrieben.((Depenheuer/Froese in: MKS-GG, Art. 15 Rn. 4 ff.)) Der Volksentscheid, der im Vorfeld bereits fast 350.000 Unterstützungsunterschriften erhielt, könnte sich im Kontext der anhaltenden Wohnungskrise allerdings als Wendepunkt herausstellen und dem vermeintlichen Fossil neues Leben einhauchen.

Was passiert im Erfolgsfall?

Auch wenn der Volksentscheid zugunsten einer Vergesellschaftung ausgeht, so wäre eine Sozialisierung von Wohnimmobilien jedenfalls noch keine unmittelbare Folge des Entscheids. Denn im Rahmen des Entscheids wird nicht über ein konkretes Vergesellschaftungsgesetz abgestimmt, sondern nur darüber, ob der Berliner Senat einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs treffen muss. Zwar hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ der Innenverwaltung bereits im Mai einen Vorschlag für ein Vergesellschaftungsgesetz unterbreitet. Es ist aber unwahrscheinlich, dass dieser oder ähnliche Entwürfe tatsächlich vom Senat übernommen und vom Abgeordnetenhaus beschlossen werden. Bisher äußerte sich der Senat zurückhaltend und kündigte in einer amtlichen Mitteilung zum Volksentscheid an, dass er das Ergebnis als unverbindlich werten werde. Inwiefern sich auch der neue Senat an diese Linie hält, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass der Volksentscheid die anstehenden Koalitionsverhandlungen des Berliner Senats, die Mietenpolitik und nicht zuletzt auch die verfassungsrechtliche Debatte über den Umgang mit der Wohnungskrise maßgeblich beeinflussen wird.

Mit Blick auf die bisherige Debatte und den Gesetzesvorschlag der Initiative sind schon jetzt einige verfassungsrechtliche Streitpunkte abzusehen, deren Beurteilung für die Realisierungschancen des Vorhabens ausschlaggebend sein wird. Uneinigkeit besteht insbesondere in der Frage, in welcher Höhe die betroffenen Unternehmen entschädigt werden müssten und inwieweit die Vergesellschaftung der Wohnimmobilien verhältnismäßig wäre. Ein Blick auf die Prämissen der hierbei vorgebrachten Argumente zeigt, dass der Debatte unterschiedliche Verständnisse der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie zugrunde liegen. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen in der Frage, ob der verfassungsrechtliche Status quo in der Bewahrung oder der Transformation unserer Eigentumsordnung liegt, und sollen im Folgenden dargelegt und auf den Prüfstand gestellt werden.

Der Kampf um den verfassungsrechtlichen Status quo I: Die Entschädigungshöhe

Für die Vergesellschaftung von Wohnimmobilien muss gem. Art. 15 S. 2 GG unter entsprechender Anwendung des Art. 14 Abs. 3 GG eine Entschädigung gezahlt werden, die die Interessen des Einzelnen und die der Allgemeinheit in einen gerechten Ausgleich bringt. Da das Bundesverfassungsgericht bisher weder über die Anwendungsvoraussetzung des Art. 15 GG noch über die Berechnung der Entschädigung verfassungsgerichtlich entschieden hat, variieren die Einschätzungen zur Entschädigungshöhe in Politik und Rechtswissenschaft stark. Während die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ mit einer Summe zwischen 7 und 13 Mrd. € von einer Entschädigung deutlich unter dem Verkehrswert ausgeht, rechnet der Berliner Senat mit einer Kostenobergrenze in Höhe von bis zu 36 Mrd. €, was dem Marktwert der Wohnimmobilien entsprechen soll.

Im Spektrum dieser Einschätzungen finden sich in der Tendenz zwei verschiedene Verständnisse des Art. 15 GG wieder: Wer sich bei der Berechnung der Entschädigungshöhe am Marktwert orientiert, geht von der Prämisse aus, dass eine Sozialisierung nach den Regeln des Marktes zu erfolgen hat. Doch gerade diese Regeln sollen nach Art. 15 GG ausgehebelt werden können. Der Sozialisierungsartikel operiert also auf einer anderen, dem Markt vorgelagerten Ebene. In der Diskussion über die Entschädigungshöhe geht es daher im Kern um die Frage, inwieweit das Grundgesetz einen wirtschaftspolitischen Status quo konserviert und inwieweit es erlaubt, diesen durch eine demokratische Mehrheit in Frage zu stellen, um dabei bewusste Umverteilungseffekte zu erzielen. Seit seiner ersten Entscheidung zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes im Jahr 1954 machte das Bundesverfassungsgericht wiederholt deutlich, dass die Ausgestaltung der Eigentums- und Wirtschaftsordnung inhaltlich offen und Gegenstand demokratischer Aushandlung ist. In Abkehr von einem klassisch abwehrrechtlichen Denken ist das grundgesetzliche Eigentumsverständnis damit nicht auf die Konservierung eines Status quo, sondern gerade auf die Möglichkeit seiner Transformation gerichtet.((Vgl. Röhner, KJ 2019, 16 (21).)) Im Verfassungstext schlägt sich dies zum einen darin nieder, dass das, was als Eigentum unter dem Grundgesetz geschützt ist, gem. Art. 14 I 2 GG überhaupt erst durch die Gesetzgebungsorgane bestimmt wird und damit zwangsläufig einem Wandel unterliegt. Zum anderen spiegelt sich die Offenheit der Eigentumsordnung in dem hier einschlägigen Art. 15 GG wider. Die Vorschrift ist Ausdruck des sog. Bonner Kompromisses zwischen bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten, die beide im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung des Verfassungstextes beteiligt waren. Da sie sich über die wirtschaftspolitische Ausrichtung der neuen Bundesrepublik uneinig blieben, verzichteten sie darauf, im Verfassungstext eine bestimmte Wirtschaftsordnung festzulegen. Mit Art. 15 GG sollte die gemeinwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft ebenso realisierbar bleiben, wie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem. Art. 15 GG geht der Orientierung an Marktmechanismen also bewusst voraus.

Trifft nun eine demokratische Mehrheit die Entscheidung für ein kollektives, nicht-gewinnorientiertes System der Wohnraumversorgung, darf die Anwendung des Art. 15 GG – und damit insbesondere auch die Berechnung der Entschädigungshöhe nach Art. 15 S. 2 GG – zwar von Vertrauensschutz- und Eigenleistungserwägungen, nicht aber von wirtschaftspolitischen Wertentscheidungen geleitet sein.

Der Kampf um den verfassungsrechtlichen Status quo II: Die Verhältnismäßigkeit

Die divergierenden Eigentumsverständnisse haben nicht nur Auswirkungen auf die Berechnung der Entschädigungssumme. Sie wirken sich mittelbar auch auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Vergesellschaftungsvorhabens als solches aus. Erneut stehen sich hier zwei Ansätze gegenüber, die sich bereits in Bezug auf den zugrunde gelegten legitimen Zweck unterscheiden: Während einige die Einführung kollektiver Wirtschaftsformen bereits für sich als legitimes Ziel erachten, gehen andere davon aus, dass die Vergesellschaftung ein hierüber hinausgehendes Ziel verfolgen muss. Demnach habe die Sozialisierung der Berliner Wohnimmobilien einem externen Zweck wie beispielsweise der Erhaltung bezahlbaren Wohnraums zu dienen und könne nur im Hinblick auf diesen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Schnell gelangen VertreterInnen dieses Ansatzes dann zu dem Ergebnis, dass das Berliner Vergesellschaftungsvorhaben weder geeignet noch erforderlich sei, weil es private Investoren vom Wohnungsneubau abhalte und weil beschleunigte Baugenehmigungsverfahren oder der rechtsgeschäftliche Erwerb der Wohnimmobilien milder und gleich effektiv wirkten.((Vgl. beispielsweise Schmidt, DÖV 2019, 508 (510) mwN; Sodann/Ferlemann, LKV 2019, 193 (197); Kloepfer, NJW 2019, 1656 (1661).))

Diese „externe“ Verhältnismäßigkeitsprüfung basiert auf der Prämisse, dass die Vergesellschaftung als solche nicht schon ein verfassungsrechtlich anerkannter Selbstzweck sein kann. VertreterInnen dieses Verständnisses sehen die marktzentrierte Organisation der Wohnraumversorgung, d.h. die profitorientierte Verwertung von Grund und Boden als verfassungsrechtlichen Status quo an, dessen Transformation per se kein legitimes Ziel darstellt. Dass dem Grundgesetz eine solche Festschreibung auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fremd ist, zeigt sich am deutlichsten in Artikel 15 GG selbst. Er erlaubt die Überführung von Grund und Boden in die Gemeinwirtschaft zum „Zweck der Vergesellschaftung“, d.h. zum Zweck der Transformation als solcher. Verhältnismäßig muss das Berliner Vergesellschaftungsvorhaben also nur in der Hinsicht sein, dass es ein auf private Gewinnerzielung ausgerichtetes Wohnsystem in ein kollektives und gemeinwohlorientiertes System der Wohnraumversorgung transformiert. Private Eigentümerinteressen blieben auch nach diesem Verständnis nicht vollkommen unbeachtet, sondern würden im Rahmen der oben dargelegten Grundsätze über eine Entschädigungszahlung Berücksichtigung finden.((In diese Richtung auch Röhner, KJ 2019, 16 (18) mwN.))

Das Eigentum bleibt offen und politisch

Der kommende Volksentscheid ermöglicht in erster Linie eines: Die Kontestation der Verteilungsmechanismen privaten Grundbesitzes durch eine demokratische Mehrheit. Mit Art. 15 sieht das Grundgesetz ausdrücklich die Möglichkeit vor, Verteilungskonflikte auch in Bezug auf das Privateigentum als solches innerhalb der Verfassung auszutragen und das Ergebnis für den demokratischen Willensbildungsprozess offenzuhalten. Es ist gerade diese Möglichkeit, die im Rahmen der Entschädigungsberechnung und der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ernstgenommen werden sollte und nicht durch eine allzu konservative Interpretation der Vorschrift untergraben werden darf.


2 Comments

  1. Paula Newman Mon 27 Sep 2021 at 13:41 - Reply

    Sehr gute Ãœbersicht, vielen Dank. Die notwendige verfassunfgsrechtliche Analyse geht an anderen Stellen zu oft im Gemisch der rechtspolitischen Argumente unter.

  2. Tungay Özcan Sun 12 Dec 2021 at 15:21 - Reply

    Das Recht auf Eigentum ist ein Menschenrecht und nicht etwa einer Mehrheitsentscheidung unterworfen. Wäre die Mehrheit der Maßstab, würde die Mehrheit jedem alles nehmen was er sich erarbeitet hat, wenn man sie denn nur ließe. Die Mehrheit tendiert zum Mitläufertum und versteckt sich in ihrem Begehren zum eigenen Vorteil in der Masse. Die Mehrheit kann also niemals der Maßstab für individuelle Menschenrechte sein. Andernfalls gelte das Gesetz des “Stärkeren” Kraft Masse.
    Kommen wir zum “Argument” der Vergesellschaftung. DW oder Vonovia sind Aktiengesellschaften, es liegt schon im Namen ersichtlich, dass diese bereits vergesellschaftet sind, nur nicht an die “Richtigen”, die sich gern Kraft Masse das Eigentum Dritter aneignen möchten.
    Der giftige Stachel des Sozialismus sitzt noch tief in der Hauptstadt der DDR.

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