07 May 2014

Ein weiterer Schritt zum unitarischen Grundrechtsschutz? Das Pfleger-Urteil des EuGH

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zeigt sich unbeeindruckt von der Kritik an seiner expansiven Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Grundrechte in Åkerberg Fransson. Stattdessen hat sich die dritte Kammer des EuGH in der Rechtsache Pfleger weiter vom engen Wortlaut der EU-Grundrechtecharta emanzipiert. Die Charta sieht in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 vor, dass sie für die Mitgliedsstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. Im Urteil vom 30. April 2014 versteht der EuGH hierunter auch Konstellationen, bei denen ein Mitgliedsstaat von den Grundfreiheiten abweichen will. Damit hält sich der Gerichtshof eine weitere Möglichkeit offen, nur entfernt mit dem Unionsrecht verbundene Sachverhalte seinem Grundrechtsschutz zu unterstellen.

  1. Das Urteil

Im Fall geht es um die österreichische Glücksspielprävention. Wie so viele Mitgliedstaaten verbietet Österreich den freien Handel mit Glücksspielen und erlaubt stattdessen Spielautomaten nur mit einer staatlichen Konzession. Dies eröffnet nicht nur lukrative Einnahmequellen für den Staat, es soll auch der Bekämpfung von Spielsucht und Kriminalität dienen. Bei solchen einschneidenden Marktregulierungen handelt es sich aber auch immer um Beschränkungen der Grundfreiheiten.

In diesem Fall ist die in Art. 56 AEUV gewährte Dienstleistungsfreiheit betroffen. Sie wird dabei – wie alle Grundfreiheiten – nicht schrankenlos gewährt und kann insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden (Art. 62 AEUV i.V.m. Art. 52 AEUV). Und hier kommen nun europäische Grundrechte ins Spiel: Ist die österreichische Glücksspielregelung im Lichte der nach Art. 15 bis 17 GRC geschützten Berufs- und Eigentumsfreiheit grundrechtskonform? Im Ergebnis läuft es auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus, wobei – wie Generalanwältin Sharpston in Rz. 70 ihrer Schlussanträge feststellt – faktisch keine anderen Maßstäben gelten, als sie auch sonst der Rechtsprechung zu Art. 56 AEUV zu entnehmen sind.

  1. Der Kontext

Auf den ersten Blick kann das Urteil nicht wirklich überraschen. Dies signalisiert auch der Gerichtshof, indem er eine Kammerentscheidung für ausreichend und keine Pressemitteilung für nötig hielt. Andererseits widerspricht das Urteil in Pfleger ganz überwiegend dem deutschsprachigen Schrifttum, das ein engeres Verständnis von Art. 51 GRC hat. Dies liegt zum einen sicher daran, dass die deutsche Sprachfassung des Art. 51 GRC mit „Durchführung“ aktiver konnotiert ist, als etwa die spanische Fassung („cuando apliquen“). Darauf weist die Generalanwältin in Rz. 40 hin. Darüber hinaus haben sich gerade die deutschen Europarechtler auf die Entstehungsgeschichte des Art. 51 GRC bezogen. Danach hätten sich im Grundrechtskonvent diejenigen durchgesetzt, die ganz bewusst eine restriktive Fassung befürwortet hatten. Diesen Kritikern sei es ein Anliegen gewesen, einer ihrer Ansicht nach ausufernden Rechtsprechung des EuGH Einhalt zu gebieten.

Der EuGH hat nämlich schon 1991 in der Rechtssache ERT entschieden, dass bei der Berufung auf Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten der europäische Grundrechtsstandard zu beachten ist. Das Gleiche wurde 2003 für den Fall bejaht, dass sich der Mitgliedstaat bei seinem Handeln positiv auf die Grundfreiheiten beruft und dabei Grundrechte missachtet (Schmidberger). ERT und Schmidberger bilden damit seit langem eine eigene Kategorie der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechte, die man „Grundfreiheiten-Konstellation“ nennen kann (vgl. ausführlich hier).

Genau gegen diese Kategorie hatten sich aber die Kritiker im Grundrechtekonvent gerichtet. Zwar hatte das Präsidium des Konvents anschließend noch versucht, diese Einschränkung in den Erläuterungen zur Charta zu korrigieren. Aus Sicht des Konvents war dies aber nur ein Nachhutgefecht. Man hatte sich ja bei der Textformulierung durchgesetzt. Den Erläuterungen dagegen fehlt der rechtsverbindliche Charakter.

Richtig interessant wird der Fall Pfleger dann, wenn man einbezieht, dass der EuGH erst jüngst mit seiner Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Charta böses Blut provoziert hatte. In Åkerberg Fransson hatte er den Begriff der „Durchführung“ so weit verstanden, dass potentiell jede nationale Norm darunter fallen könnte, wenn sie auch nur den Hauch einer Verbindung zu einem europäischen Sekundärrechtsakt aufweist.

Dies hatte das Bundesverfassungsgericht auf den Plan gerufen. Auch in akademischen Vorträgen sind die Mitglieder des ersten Senats sichtlich bemüht, diesem Einfallstor europäischen Grundrechtsschutzes entgegen zu treten.

Es mutet insofern schon fast wie eine Provokation an, wenn der EuGH in Pfleger mehrfach und ausschließlich auf Åkerberg Fransson Bezug nimmt (Rz. 31-34), um die Fortführung seiner ERT-Rechtsprechung schließlich wie selbstverständlich festzustellen (Rz. 35). Statt sich bei Pfleger schlicht auf die alte Rechtsprechung zu berufen, hämmert der EuGH dem Leser den Bezug zu Åkerberg Fransson gewissermaßen ein. Der Gerichtshof zeigt sich also weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Grundrechtskonvent nachhaltig beeindruckt.

  1. Die Bedeutung

Mit Pfleger geht der EuGH einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem Verfassungsgericht. Hatte es ursprünglich zwei Möglichkeiten zur Eröffnung des EU-Grundrechtsschutzes gegeben – die Grundfreiheiten-Konstellation und die klassische Durchführungs- oder Agency-Situation (etwa bei einer Richtlinienumsetzung) – so ebnet der Gerichtshof diesen Unterschied zunehmend ein.

Mit Åkerberg Fransson gilt nunmehr vereinfacht, dass wo Europarecht hinreicht, auch die EU-Grundrechte wirken. Diese simple Formel ist im Prinzip zu begrüßen, da überall dort wo EU-Recht Vorrang genießt, dieser durch Grundrechtsschutz auf EU-Ebene kompensiert werden muss. Zudem würde es wohl nur Europarechts-Geeks gefallen, wenn der EuGH in Zukunft zwischen den verschiedenen Grundrechtsquellen auch bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs differenzierte.

Der Kern des Problems ist aber, dass auf diese Weise die Idee einer föderal inspirierten, beschränkten Grundrechtsinkorporation das Wasser abgegraben wird. Bei Åkerberg Fransson reichte ein sehr entfernter Bezug zu europarechtlichen Vorschriften, um die EU-Grundrechte zu aktivieren. Mit Pfleger wird dieser zentripetalen Tendenz weiter Munition zugeführt. Denn fast jedes Verhalten kann man zumindest potentiell als relevant für die Grundfreiheiten bezeichnen. Es ist schier unmöglich, einen von EU-Grundrechten mit Sicherheit unantastbaren Bereich zu bestimmen.

Bisher hat sich der EuGH zwar selten als Verfassungsgericht in Szene gesetzt, indem er rein nationale Konstellationen zu Grundfreiheits-Konstellationen erklärte (vgl. wiederum ausführlich hier). Wie aber der unbefangene Umgang mit Åkerberg Fransson in Pfleger verdeutlicht, scheint dies für die Zukunft nicht gesichert. Das Bundesverfassungsgericht und diejenigen, die einer unitarischen EU-Grundrechtsordnung skeptisch gegenüber stehen, haben deswegen allen Grund besorgt zu sein.


One Comment

  1. […] sprechen. Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, dass der bisherige europäische Weg der nur begrenzten Inkorporation von EU-Grundrechten so falsch nicht war. Die Abtreibungsfrage scheint noch fest im nationalen […]

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