Eine Agenda unter Druck
Deutschlands frauenrechtliche Agenda im UN-Sicherheitsrat und -Menschenrechtsrat in Zeiten von Corona
In der internationalen Politik und Rechtssetzung rückt die geschlechtersensible Analyse von Krisensituationen stärker in den Fokus. Das Potential einer gleichberechtigten Einbindung von Frauen in der Krisenbewältigung wurde bisher nicht ausgeschöpft; ihrer Schutzbedürftigkeit ist nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Der UN-Policy Brief vom 9. April 2020 zeigt, dass dies auch in der aktuellen Corona-Krise wieder der Fall ist. Missstände wie Gewalt gegen Frauen, prekäre Arbeitsbedingungen in Berufen wie der Pflegearbeit und mangelnde sexuelle und reproduktive Gesundheitsversorgung verschärfen sich unter den Bedingungen der Krise.
Geschlechtergerechtigkeit in Krisensituationen voranzubringen hat sich auch Deutschland für die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat 2019/2020 und im UN-Menschenrechtsrat 2020/2021 zum Ziel gesetzt. Frauen sollen stärker in der Konfliktprävention und Friedenssicherung vertreten sein und sind besser vor sexueller Gewalt zu schützen. Dieses Vorhaben droht nun ins Stocken zu geraten – nicht zuletzt, weil sich die Coronakrise auch auf die Arbeitsweise der UN-Organe auswirkt. Dies ist problematisch. Denn auch wenn es scheint, als ob die Welt zurzeit fast überall stillsteht, ruhen bewaffnete Konflikte nicht. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland nun flexibel auf die Coronakrise reagiert und – vor allem während des Vorsitzes im Juli 2020 – alle Mittel ergreift, um eine transparente und effektive Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrats zu gewährleisten und die frauenrechtliche Agenda damit effektiv voranzubringen.
Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über Deutschlands frauenrechtliche Agenda im UN-Sicherheitsrat und -Menschenrechtsrat (1.) und geht dann auf die Auswirkungen der Coronakrise auf die Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrats ein (2.), um schließlich Optionen aufzuzeigen, welche die Arbeitsweise auch in der Coronakrise möglichst effektiv gestalten (3.).
1. Ein Überblick zur Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit
Die Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit wurde mit der Resolution 1325 im Jahr 2000 ins Leben gerufen. Mit ihr wollten die UN-Mitgliedstaaten Geschlechtergerechtigkeit auf die Ebene der Friedens- und Sicherheitspolitik und des Sicherheitsrats ausweiten, nachdem auf anderen UN-Ebenen schon Verpflichtungen zur Geschlechtergerechtigkeit etabliert waren, etwa die Frauenrechtskonvention CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) von 1979 und die Beschlüsse der Weltfrauenkonferenzen (vor allem die Pekinger Erklärung und Aktionsplattform von 1995). In den letzten 20 Jahren folgten neun weitere Resolutionen, in denen der Sicherheitsrat die UN-Mitgliedstaaten dazu aufruft, die besondere Gefährdung und strukturelle Benachteiligung von Frauen in bewaffneten Konflikten und ihre Unterrepräsentation in Friedensprozessen zu erkennen und zu beseitigen. Die Forderungen und Verpflichtungen umfassen den Schutz vor geschlechtsspezifischer, insbesondere sexualisierter Gewalt in Konflikten, die Teilnahme von Frauen an Friedensverhandlungen und anderen Friedensmissionen und die Beachtung von frauenrechtlichen Anliegen in Friedensvereinbarungen. Die Agenda wird maßgeblich von Erkenntnissen der Friedensforschung getragen, die belegen, dass der Schutz von Frauen sowie ihre gleichberechtigte Mitwirkung in erheblichem Maße zu nachhaltigen Friedens- und Sicherheitsgarantien beitragen.
Deutschland hat sein erstes Jahr der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat bereits dazu genutzt, im Bereich Frauen, Frieden und Sicherheit zwei Resolutionen einzubringen bzw. zu unterstützen. Der Sicherheitsrat hat Resolution 2467 im April 2019 unter deutschem Vorsitz im Zuge der offenen Debatte zum Thema sexualisierter Gewalt in Konflikten verabschiedet. Die Resolution intensiviert die Verpflichtungen der UN-Mitgliedstaaten zu Prävention, Überwachung und Verfolgung von sexualisierter Gewalt in Konflikten, insbesondere durch die Gewährleistung entsprechender staatlicher Strafverfolgungsansprüche sowie durch die Stärkung von Betroffenenrechten. Außerdem sollen Staaten auf sexualisierte Gewalt mittels Sanktionen reagieren können. Die im Oktober 2019 erlassene Resolution 2493 fordert, dass mehr Frauen in Friedensverhandlungen eingebunden werden und dass ausreichend finanzielle Mittel für die Umsetzung der Agenda bereitgestellt werden.
Alle diese Pflichten waren jedoch schon durch frühere Resolutionen vorgegeben oder wenigstens in diesen angelegt. Dass die Resolutionen von 2019 keine grundlegend neuen Verpflichtungen oder Maßnahmen etablieren, liegt vor allem daran, dass sich prominente Mitglieder des Sicherheitsrats – wie die USA – gegen eine progressive Weiterentwicklung von Geschlechtergerechtigkeit auf Ebene des Sicherheitsrats wehren.
Als Zwischenbilanz kann nichtsdestotrotz festgehalten werden, dass Deutschland im Sicherheitsrat bereits Erfolge für die Agenda Frauen, Frieden, Sicherheit erzielt hat. Die stringente Verfolgung der Agenda bleibt jedoch ein wichtiges Ziel für das Jahr 2020, in dem Deutschland im Juli den Sicherheitsratsvorsitz innehat. Dies gilt umso mehr, da die Coronakrise bestehende strukturelle Ungleichheiten bloßlegt und Rückschritte bei den Errungenschaften der Agenda drohen, sobald der Schutz von Frauen in Konfliktsituationen in den Hintergrund tritt. So hält auch die UN in ihrer Veröffentlichung von Anfang April „The Impact of COVID-19 on Women“ fest:
„The effective implementation of the women, peace and security agenda needs to remain a priority through this period. Security Council resolution 2242 (2015) was in fact one of the first Council resolutions to recognize health pandemics as part of the peace and security landscape, and highlight the need for the principles of prevention, protection and equal participation and leadership of women to be part of all responses.”
2. Auswirkungen der Coronakrise auf die Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrats
Aktuell wird die Arbeit für diese Ziele jedoch durch die Corona-Krise wesentlich erschwert. In dem umkämpften Bereich der Frauenpolitik wird ein großer Teil der Arbeit durch zivilgesellschaftliche Bündnisse geleistet, die regelmäßig in Begleitveranstaltungen zu offiziellen Sitzungen und Foren der Vereinten Nationen neue Denkansätze und Vorstöße einbringen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie schränken die Art und Weise ein, durch die politische und rechtliche Entwicklungen auf dem Gebiet von Frauen, Frieden und Sicherheit vor allem durch zivilgesellschaftliche Beteiligung vorangetrieben werden.
Gewöhnlich kommen die fünf ständigen und zehn nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats mehrmals im Monat im Hauptsitz der Vereinten Nationen zu Sitzungen zusammen. Im Fokus der Sitzungen stehen in der Regel bestimmte Regionen und deren entsprechende Konfliktherde, es werden aber immer wieder auch übergreifende Friedens- und Sicherheitsthemen besprochen. Das Organ hat durch die Verbindlichkeit seiner Beschlüsse (Resolutionen) für die UN-Mitgliedstaaten völkerrechtliche Legislativwirkung (Art. 25 der Charta).
Wegen der Corona-Pandemie sind diese analogen Zusammenkünfte aktuell suspendiert. Dies wirkt sich auf die Arbeitsweise des Sicherheitsrates aus, die in einer selbstgegebenen Geschäftsordnung festgehalten (Art. 30 der Charta) ist. Danach finden die formellen Sitzungen in der Regel am Hauptsitz statt, wobei sich die Mitglieder aber auch auf einen anderen Ort einigen können (Regel 5 der Geschäftsordnung). Außerdem sollen zwischen den Sitzungen nicht mehr als 14 Tage liegen (Regel 1 der Geschäftsordnung). Nach Schließung des Hauptsitzes haben sich die Mitglieder nach längerer Debatte darauf geeinigt, die weitere Arbeit des Sicherheitsrates durch Einsatz von Videokonferenztechnologien aufrechtzuerhalten. Die letzte formale Sitzung unter physischer Anwesenheit fand am 12. März statt. Verlautbart durch Schreiben vom 31. März haben sich die Mitglieder auf ein Verfahren zur Verabschiedung von Resolutionen durch Telekommunikationsmittel festgelegt und klargestellt, dass diesen die gleiche Rechtsstellung zukomme, wie Resolutionen, die in der regulären Arbeitsweise verabschiedet wurden. Zwar bleibt unklar, ob die Videokonferenzen als formelle Treffen im Sinne der Geschäftsordnung gelten. Die Praxis des Sicherheitsrates zeigt jedoch, dass die maximale Sitzungspause von 14 Tagen in der Vergangenheit schon häufig überschritten wurde. Solange kein Mitglied das anmahnt, gilt Regel 1 der Geschäftsordnung als einstimmig abbedungen.
Mit der neuen, temporären Arbeitsweise des Sicherheitsrates geht jedoch ein Verlust von Transparenz der grundsätzlich öffentlich abzuhaltenden Sitzungen einher. Zwar hat der Sicherheitsrat darauf bereits reagiert und Übertragungsmöglichkeiten eingerichtet, die einzelne Videokonferenzen per live-stream öffentlich einsehbar machen. Die Nutzung dieser Übertragungsmöglichkeiten ist jedoch abhängig von der Bereitschaft des Mitglieds, das den Vorsitz innehat.
Sind die Sitzungen nicht öffentlich, kann sich eine zeitgleiche zivilgesellschaftliche Diskussion hierzu nicht entwickeln. Dies ist höchst problematisch in einem Bereich, in dem zivilgesellschaftliches Engagement wichtig ist, um politische Prozesse in dem UN-Gremium voranzutreiben. Zivilgesellschaftlichen Initiativen schneidet diese Einschränkung die Möglichkeit ab, Einfluss zu nehmen und den Prozess in der öffentlichen Debatte kritisch zu begleiten.
Hinzu kommt, dass auch die zivilgesellschaftlichen Foren aktuell besonders stark von den Einschränkungen der Corona-Regelungen betroffen sind, da Demonstrationen oder Veranstaltungen mit einer großen Personenzahl in den meisten Ländern nicht möglich sind.
3. Wie kann Deutschland auf die Krise reagieren?
Gerade 2020 sollte im Bereich der Geschlechtergleichstellung in der UN ein Jahr der Jubiläen werden. Die Verabschiedung der Resolution 1325 jährt sich zum 20. Mal und das 25-jährige Jubiläum der Pekinger Aktionsplattform sollte mit den Generation Equality-Foren im Mai und Juli zu zivilgesellschaftlicher Arbeit genutzt werden. Diese Foren sind zunächst verschoben, die Sitzung der Frauenrechtskommission wurde abgesagt, der Umgang mit den jährlichen offenen Debatten im Sicherheitsrat zu sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten und Frauen, Frieden und Sicherheit ist ungewiss. Für die Mitgliedschaft Deutschlands 2020 zeichnet sich somit nicht nur die Aufgabe ab, die Agenda zu Frauen, Frieden und Sicherheit weiter zu verfolgen, sondern eine effektive zivilgesellschaftliche Begleitung dieses Prozesses prozedural auch in Zeiten von Corona zu ermöglichen.
Während des eigenen Vorsitzes im Juli 2020 hat Deutschland die Möglichkeit dafür zu sorgen, die Videokonferenzen des Sicherheitsrats nachhaltig öffentlich zugänglich zu machen, indem sie in den Status formaler Sitzungen erhoben werden (gegebenenfalls durch Änderung der Geschäftsordnung) und damit den gleichen Transparenz-Anforderungen wie analoge Sitzungen unterliegen. Das würde den zivilgesellschaftlichen Kräften zumindest die planbare Möglichkeit geben, die Sitzungen in sozialen Medien zeitgleich kritisch zu begleiten. Darüber hinaus wird es wichtig sein, dass zivilgesellschaftliche Kräfte trotz der Einschränkungen Optionen finden, ihre Debatten und Vorstöße weiterzuführen und vorzubringen. Dies gilt auch auf nationaler Ebene: Hier hat die Bundesregierung schon vereinzelt Vorstöße gezeigt, zivilgesellschaftliche Organisationen in die außenpolitische Arbeit durch Videobriefings einzubinden. Die Informationen über solche Vorhaben müssen jedoch öffentlich zugänglich sein, um eine niedrigschwellige Partizipation der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. In Deutschlands Verantwortung wird es im Juli 2020 stehen, diese Denkanstöße in seiner Arbeit im Sicherheitsrat zu berücksichtigen.