11 December 2015

Eine “Charta der Grundrechte für die digitale Zeit”, und warum wir sie brauchen

“Ich surfe, also bin ich.” Das ist nach der Internet-Milieu-Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet das neue Credo der sogenannten Digital Natives, die bereits jetzt 44 % der Bevölkerung ausmachen und sinnbildlich für die wachsende Bedeutung des Internets in der Lebensgestaltung der Menschen stehen. Auch das Verfassungsrecht reagiert auf diese Entwicklung:  Bereits garantierte oder sich abzeichnende Grundrechte wie etwa die auf die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, auf Internetzugang und dauerhaft hohe Verfügbarkeit, auf Vergessen, auf Schutz vor Surveillance, auf Anonymität im Netz, auf digitales Eigentum, auf digitale Sorglosigkeit und digitale Bildung, auf die Abhaltung digitaler Versammlungen sowie auf politische und gesellschaftliche Partizipation, nicht zuletzt auch ein mögliches Recht auf digitalen Widerstand verdeutlichen die Breite der Digitalisierung der Grundrechte in der Informationsgesellschaft. Das Internet ist heute auch “Grundrechtsverwirklichungsnetz“.

Entsprechend laut werden die Rufe nach neuen Katalogen digitaler Grundrechte. Entsprechende Vorschläge kommen z.B. aus Frankreich, die brasilianische Marco Civil da Internet gilt als erste bereits in Kraft getretene “Internet-Verfassung” der Welt. Vor zwei Wochen forderte auch der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz eine “Charta der Grundrechte für die digitale Zeit”. Jüngst hat Bundesjustizminister Heiko Maas den Vorschlag aufgegriffen und sogar bereits 13 erste Artikel vorgeschlagen.

Macht eine solche Charta aber überhaupt Sinn? Was kann sie leisten? Wie weit soll sie reichen? Und wer soll sie ausarbeiten?

Bei der Frage, wie sinnvoll ein weiterer Grundrechtskatalog wirklich wäre, wird oft auf die normative Kraft der bestehenden Grundrechte verwiesen, die mit entsprechender Auslegung auch eine digitale Dimension bekommen könnten (so etwa die Ansicht der Europäischen Kommission in ihrer Cybersicherheitsstrategie, insbes. S. 18). Braucht es also wirklich noch einen, dazu noch bereichsspezifischen Grundrechtskatalog in Europa oder der Welt? In der Tat hat die Rechtsprechung eine erstaunliche Innovationskraft bewiesen, was die Geltung der Grundrechte im Internet betrifft. So erfand das Bundesverfassungsgericht 2008 das Recht auf die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme oder kurz das Computer- bzw. IT-Grundrecht und deutet zumindest an, dass es Teil des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sein könnte, sich einen Internetanschluss leisten zu können. Es bringt damit möglicherweise bereits ein allgemeines Recht auf Internetzugang auf den Weg, das dann etwa nicht nur Ansprüche auf finanzielle Unterstützung für Hilfsbedürftige, sondern auch Ansprüche zur notwendigen Infrastrukturversorung vermitteln könnte. Daneben hob der EuGH das sogenannte Recht auf Vergessen als besondere Ausprägung des Datenschutzgrundrechts aus der Taufe, was sich politisch zuvor nicht durchsetzen konnte.

Verfassungsrecht und Verfassungstext

All diese Grundrechte sind damit zwar geltendes oder werdendes Verfassungsrecht, sie werden in den Verfassungstexten selbst aber nicht mehr unmittelbar abgebildet. Das Computergrundrecht ist als spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlicheitsrechts im Grundgesetztext ebenso wenig präsent wie seine Grundlage, die auf einer Zusammenschau von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG basiert. Das gleiche gilt auch für das deutsche Recht auf informationelle Selbstbestimmung, obwohl es heute zu den wichtigsten Freiheitsgrundrechten überhaupt zählt. Im kodifizierten Unionsrecht fehlt etwa das Recht auf Vergessen als spezieller Ausprägung des Datenschutzgrundrechts aus Art. 8 GRCh, wobei immerhin letzteres selbst anders als im Grundgesetz in der Grundrechtecharta explizit erwähnt ist.

David A. Strauss fragt im aktuellen Harvard Law Review mit Blick auf die U.S.-amerikanische Verfassung jüngst “Does The Constitution Mean What It Says?” und konstatiert ein immer größeres Auseinanderfallen von Verfassungsrecht und Verfassungstext. Aber nicht nur dort, sondern auch in Europa entfernen sich geltende Verfassungsrechte von den ihnen zugrunde liegenden Verfassungstexten – dies gilt jedenfalls für den Bereich der digitalen Grundrechte.

Diese gegenwärtige und sich zudem verschärfende Unsichtbarkeit digitaler Grundrechtsverbürgungen ist ein Problem, haben doch gerade Verfassungen immer auch eine informierende, wenn nicht gar edukative Funktion mit Blick auf den juristischen Laien. Dies betrifft nicht nur die konkreten juristischen Grundrechtsgehalte, sondern auch die ihnen zugrundliegende, erst einmal nicht-juristischen Wertentscheidungen: Wer im Grundgesetz nichts findet, wird möglicherweise gar nicht auf die Idee kommen, zur Durchsetzung ihres Computergrundrechts überhaupt Rechtsbeistand zu suchen; daneben wird das ungeschriebene Grundrecht aber auch nicht das allgemeine Freiheitsverständnis seiner Träger_innen – unabhängig von seinen ganz konkreten juristischen Detailgehalten – in dem Maße prägen können, wie das ein geschriebenes Grundrecht kann. Den Bürger_innen fehlen dann möglicherweise entsprechende argumentative, sich aus der konkreten Wertentscheidung speisende Ressourcen in gesellschaftlichen und politischen Debatten. Effektiver Grundrechtsschutz ist daher keine exklusive Angelegenheit juristischer Eliten, sie muss die juristischen Laien immer auch mitbedenken und einbeziehen und Grundrechtsverbürgungen deshalb möglichst transparent gestalten.

Dazu kommt, dass die Inanspruchnahme geltender Grundrechte auch im Online-Bereich zum Teil die Grundrechtsdogmatik unnötig verkompliziert hat. Wie man die Schutzbereiche des Fernmeldegeheimnisses, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, des Computergrundrechts sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Auffanggrundrecht beim Zugriff auf Kommunikationsdaten voneinander abgrenzt, bereitet beispielsweise große Probleme. Dies alles lässt sich auch einfacher regeln, wenn man einen Schritt zurückgeht und zu kompliziert gewordene Dogmatik durch eine eindeutigere Kodifikation entschlackt.

Daneben sind bereits jetzt bestimmte Verbürgungen derart eigenartig gegenüber den ihnen zugrunde liegenden klassischen Grundrechten, dass nicht nur aus Bürger_innen-, sondern auch aus eng juristischer Perspektive gerechtfertigt ist, sie als eigenständige Grundrechte zu konzipieren und zu kodifizieren. Das Recht auf Vergessen etwa hat sich bereits sehr weit von seiner datenschutzrechtlichen Grundlage entfernt: Das Datenschutzgrundrecht war eine Erfindung gegen die unverhältnismäßige Datenerhebung seitens des Staates, das Recht auf Vergessen bindet (freilich mediatisiert über das sekundärrechtliche Datenschutzrecht) Private und schützt nicht vor der rechtswidrigen Datenerhebung, sondern vor den Gefahren der Permanenz ursprünglich rechtmäßig erhobener Daten. Seine weitgehende Eigenständigkeit spiegelt sich auch in der rhetorischen Kraft der Bezeichnung dieses Anspruchs als eigenes Grundrecht. Die Medien sprechen hier regelmäßig vom Recht auf Vergessen, nicht vom allgemeinen Datenschutzrecht.

Besonders heikel ist schließlich die Frage, wie weit die Bindungswirkung digitaler Grundrechte reicht. In einem grenzenlosen Internet, das ganz überwiegend private Akteure konstituieren und beherrschen und daneben Hoheitsgewalten für extratrerritoriale Übergriffe nutzen, stellt sich auch die Frage, ob eine auf die öffentliche Gewalt und territorial begrenzte Grundrechtswirkung noch Sinn macht.

Ob man angesichts all dieser Befunde so weit gehen soll, nach den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten der zweiten und den Kollektivrechten etwa auf Umweltschutz der dritten Generation von einer vierten Grundrechtsgeneration des Informationszeitalters zu sprechen, ist heute noch kaum zu beantworten. Deshalb fragt sich auch, ob eine eigene Charta der digitalen Grundrechte das richtige juristische Format ist. Denkbar ist alternativ auch, die geltenden Grundrechtskataloge lediglich zu ergänzen. Jedenfalls aber ist die Zeit in der Tat reif für eine wie auch immer geartete Kodifikation. Im Bereich des digitalen Grundrechtsschutz müssen sich Verfassungstext und Verfassungsrecht wieder stärker annähern.

Ein AGB-Grundrecht

Mit der Kodifikation der bereits durch die Rechtsprechung entwickelten oder angedachten digitalen Grundrechte ist es dabei nicht getan. Neben den eingangs schon erwähnten weiteren möglichen Grundrechten wäre etwa auch über eine Art Grundrecht nachzudenken, das Nutzer_innen mehr Schutz vor digitalen „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ verschafft. Dabei geht es nicht um Datenschutz, sondern um Vertragsfreiheit. Diese ist angesichts der nicht mehr zu bändigenden Flut von AGBs, denen die Nutzer_innen zur Nutzung heute schon fast essentieller Kommunikationsdienste zustimmen müssen, nur noch ein theoretisches Konstrukt. Das wird schon daraus ersichtlich, dass den Nutzer_innen zur Zustimmung oft nur noch ein Link zu den AGB, nicht aber die AGB selbst angezeigt werden. Tatsächlich geben über 60 % aller Nutzer_innen an, AGB und Datenschutzbestimmungen kaum oder gar nicht zu lesen. Die Dienste nehmen sie dennoch in Anspruch, weil die Online-Kommunikation heute zur Lebenswirklichkeit gehört und der Verzicht auf sie schlichtweg zur sozialen Isolation führen würde.

Selbstredend ließe sich auch vieles über Änderungen des geltenden AGB-Rechts auf einfachgesetzlicher Ebene bewältigen. Dennoch ist die Grundrechtsdimension dieser Problematik unverkennbar. Die Grundrechtecharta der EU verbürgt in Art. 38 heute schon den Verbraucherschutz (wenn auch nur als objektiv-rechtlichen Grundsatz und nicht als subjektives Grundrecht), weshalb ein AGB-Recht auf der Grundrechtsebene nicht abwegig wäre. Sinnvoll erscheint es allemal, nimmt es doch eine typische digitale Gefahrenlage für die individuelle Freiheit und damit ein klassisches Grundrechtsthema in den Blick.

Digitale Grundrechte als Spiegel gesellschaftspolitischer Ordnungsvorstellungen

Sicher wirft die Anerkennung neuer Grundrechtsgarantien fundamentale Fragen auf, was für eine Gesellschaft wir wollen. Ein Recht auf digitale Sorglosigkeit etwa würde umfangreiche Schutzpflichten statuieren. Ihm läge ein gewisses paternalistisches Gesellschaftsverständnis zugrunde, weshalb schon ein solches Grundrecht an sich und erst Recht mit Blick auf seine Reichweite sicher sehr umstritten wäre. Ähnlich würde ein Grundrecht auf Anonymität im Netz sicherheitsrechtlich viel Diskussionsbedarf auslösen. Ein Grundrecht auf digitale Bildung wäre mit erheblichen Kosten verbunden, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten wollen muss.

Somit dürften viele dieser Grundrechte umstritten sein. Schon bei ihrer grundsätzlichen Aufnahme muss man sorgfältig abwägen: Die Kodifikation müsste auf solche Grundrechte beschränkt werden, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens fänden. Allerdings könnte man mit entsprechenden Schrankenklauseln vielen Sorgen entgegenkommen.

Innovationen in der digitalen Grundrechtsdogmatik nötig

Die Grundrechte binden nach klassischem Verständnis unmittelbar nur die eigene öffentliche Gewalt, nicht aber Private. Gleichwohl wird das Netz aber vor allem durch eben diese ungebundenen Privaten konstituiert und beherrscht. Daneben agieren ausländische öffentliche Gewalten im grenzenlosen Netz extraterritorial und verletzen die den Grundrechten zugrunde liegenden Werte. Die Grundrechtsdogmatik versucht sich hier mit den Figuren der grundrechtlichen Schutzpflicht und der mittelbaren Drittwirkung zu helfen.

Die mittelbare Drittwirkung kann sich aber nur dort entfalten, wo das Zivilrecht eine entsprechende Auslegung zulässt; und die grundrechtliche Schutzpflicht ist eigentlich eine Ausnahme vom Regelfall des Verständnisses der Grundrechte als Abwehrrechte. Sie verpflichtet nur zu einem Minimum an Schutz und belässt Legislative und Exekutive sehr große Spielräume. Wenn aber die den Grundrechten zugrunde liegenden Werte wie im Online-Bereich nicht mehr vorwiegend durch den Staat, sondern gleichermaßen auch durch Private gefährdet sind, zwingt dies dazu, neu nachzudenken. Eine für den Ausnahmefall geschaffene dogmatische Figur taugt nicht zur Anwendung auf den Regelfall. Im Internet konstituieren und beherrschen private Unternehmen wie Facebook, Twitter und Google schon jetzt nahezu “quasi-öffentliche Räume” und Infrastrukturen. Deshalb muss es möglich werden, netzbeherrschende Akteure unabhängig von ihrer privat- oder öffentlich-rechtlichen Verfasstheit unmittelbar an Grundrechte zu binden. Nur so kann ein hohes digitales Schutzniveau gewährleistet werden. In seinem Google vs. Spain-Urteil behandelt der EuGH Google im Prinzip schon jetzt wie eine grundrechtsgebundene datenverarbeitende Behörde. Auch wenn Art. 8 GRCh hier nach wie vor nur vermittelt durch das europäische Sekundärrecht zur Anwendung kommt, unterscheiden sich die materiellen Rechtsfolgen für Google kaum mehr von denen einer unmittelbaren Bindung durch das Grundrecht.

Daneben müsste die Charta auch das Problem der extraterritorialen Grundrechtswirkung thematisieren, indem sie etwa die klassischen Kriterien der Ausübung von Hoheitsgewalt als die Voraussetzung für die Grundrechtsbindung (s. etwa Art. 1 EMRK) aufgibt und durch passendere Konzepte ersetzt. Denn Grundrechtsbeschränkungen finden im Netz oft gerade nicht nur durch die Ausübung klassischer Hoheitsgewalt im Rahmen eines Subordinationsverhältnisses statt. Viele grundrechtsproblematischen Handlungen erfordern gerade keine Herrschaft ausübende Stellung der jeweiligen Hoheitsgewalt. Ihnen genügt schlichtweg, dass entsprechende technische Mittel und Kompetenzen vorhanden sind, die entsprechende Maßnahmen auch in fremden Herrschaftsräumen unabhängig von der dort statuierten Staatsgewalt ermöglichen.

Der europäische Grundrechtekonvent als Modell

Über eine Kodifikation digitaler Grundrechte nachzudenken ist also sinnvoll. Freilich bedarf es hierfür wegen der ganz unterschiedlichen Interessen einer möglichst breiten gesamtgesellschaftlichen Debatte. Als Vorbild kann hier die Konventsmethode dienen, mit der schon die Grundrechtecharta der EU erarbeitet wurde. Auch hier stießen damals eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Interessen durch unterschiedlich geprägte Rechtskulturen in Europa aufeinander. Dennoch gelang es, einen Grundrechtekatalog zu kodifizieren, der sich nicht nur auf die wesentlichen politischen und bürgerlichen Rechte beschränkt, sondern mit umfangreichen sozial- und kollektivrechtlichen Verbürgungen weit darüber hinausgeht und deshalb die internationale Grundrechtsentwicklung entscheidend mit vorantreibt. Woran man sieht: Es geht oft mehr, als man meint.


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