Eine Konferenz zur Zukunft Europas
Auch die Politik ist gefordert, zur künftigen Verfassung Europas Stellung zu beziehen
Zum diesjährigen Europatag am 9. Mai 2021 wurde von dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, dem Präsidenten des Europäischen Rates und der Präsidentin der Europäischen Kommission eine Konferenz zur Zukunft Europas eröffnet. Die Konferenz zielt darauf ab, den Europäern ein größeres Mitspracherecht darüber zu geben, was die EU tut und wie sie für sie arbeitet.
So wichtig die Anhörung der Bürger Europas auch ist, die Politiker in den Mitgliedsstaaten wie auch auf EU-Ebene sollten sich nicht einfach hinter der Konferenz verstecken und sich ihrer Verantwortung entziehen. Vielmehr sollten sie parallel zur Konferenz gestalterisch tätig werden, indem sie zu ihrem Gegenstand, ihrem Verfahren und ihren Zielen Stellung beziehen. Zu diesen drei Punkten schlägt dieser Beitrag eine Reihe von Denkanstößen vor.
Worum sollte es bei der Konferenz gehen?
Die ins Leben gerufene Konferenz befasst sich vor allem mit Fragen des materiellen Europarechts. Es geht also darum, die politischen Projekte und Prioritäten auszuloten, die in den kommenden Jahrzehnten im Mittelpunkt des politischen Handelns in Europa stehen sollten. Wenig Gewicht wird dagegen auf die Frage gelegt, ob nicht auch die Institutionen, die diese Projekte und Prioritäten mit Leben füllen sollen, einer Erneuerung bedürfen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Konferenz zur Zukunft Europas notwendigerweise und in erster Linie dessen politische Projekte und Prioritäten für die Zukunft in Form eines ehrgeizigen Katalogs von Kompetenzen definieren muss, sowohl was den Umfang als auch was die Natur dieser Kompetenzen betrifft. In der Tat kann die politische Relevanz des Europas von morgen, sowohl nach innen als auch nach außen, nicht nur vom Umfang, sondern auch von der (exklusiven oder nicht-exklusiven) Natur dieser Kompetenzen abhängen.
Ohne ein institutionelles Gefüge und einen Entscheidungsprozess, der die demokratische Beteiligung der Bürger, die organisatorische Effizienz der EU und die Solidarität zwischen den Staaten und Völkern gewährleistet, ist es jedoch mehr als zweifelhaft, ob selbst eine sehr beträchtliche Ausweitung der Europa zugewiesenen Kompetenzen allein zu konkreten Errungenschaften führen kann, die vom normalen europäischen Bürger ohne weiteres als von Europa ausgehend wahrgenommen werden.
Noch bevor die Debatte über die materiellen Fragen in Gang kommt, sollten die Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als “Herren der Verträge” daher, jeder für sich, klar Stellung zu der Frage beziehen, ob ehrgeizige neue politische Prioritäten und Projekte für das Europa der Zukunft tatsächlich durch das alte institutionelle Vehikel verwirklicht werden können, oder ob nicht vielmehr eine neue, stärker integrierte institutionelle Struktur, wie eine Europäische Politische Union (EPU), für die Verwirklichung dieser Prioritäten und Projekte im 21. Jahrhundert geeigneter wäre.
Bekanntlich haben sich die institutionelle Struktur und das Beschlussfassungsverfahren der heutigen EU in aufeinanderfolgenden Etappen entwickelt, und zwar durch die Verabschiedung einer Vielzahl von Verträgen zur Änderung der ursprünglichen Verträge, mit denen die drei bekannten Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG und Euratom) in den 1950er Jahren gegründet wurden. Das Ergebnis ist heute eine institutionelle und beschlussfassende Struktur, die veraltet, undurchsichtig und unnahbar ist und selbst für erfahrene Experten im Gemeinschafts- und EU-Recht schwer zugänglich ist.
Unter diesen Umständen wäre es mehr als logisch, dass wenn nicht alle, so doch zumindest die meisten Mitgliedstaaten darin übereinstimmen, dass sich die EU als selbsttragender politischer Akteur zur Verwirklichung neuer und ehrgeiziger politischer Projekte in Richtung einer neuen institutionellen Struktur entwickeln sollte, die stärker integriert ist als die derzeitige EU, etwa in Form einer Europäischen Politischen Union (EPU). Dieser letztere Weg geht jedoch, ob wir es wollen oder nicht, mit einer gewissen Aufgabe von Souveränität einher.
Es ist daher mehr als vorhersehbar, dass die Frage, ob die Einrichtung einer demokratischen, effizienten und solidarischen EPU unter den gegenwärtigen politischen und geopolitischen Umständen angemessen und notwendig erscheint, in dem einen oder anderen Mitgliedsstaat auf unüberwindliche nationale Widerstände stoßen und am Ende die Gemüter der Mitgliedsstaaten spalten wird. Es scheint sogar, dass dieses Szenario am wahrscheinlichsten eintritt!
Doch wie soeben dargelegt wurde, scheint die Schaffung einer modernen EPU, die auf den Prämissen der Demokratie, der Effizienz und der Solidarität beruht, eine Voraussetzung für den Erfolg des gesamten Projekts einer glänzenden Zukunft für Europa zu sein.
Nach welchem Verfahren sollte die Konferenz vorgehen?
Vor diesem Hintergrund, bei dem die Positionen so grundlegend divergieren würden, nach welchem Verfahren sollten dann die EU-Mitgliedsstaaten, die von der Notwendigkeit der Gründung einer EPU überzeugt wären, in einer Konferenz zur Zukunft Europas vorgehen, um deren Gründung herbeizuführen? Nach dem in Artikel 48 EUV vorgesehenen Revisionsverfahren oder nach dem klassischen Verfahren, das das Völkerrecht für die Ausarbeitung eines völkerrechtlichen Vertrages zur Gründung einer internationalen Organisation bereithält?
Es stimmt, dass alle bisherigen Entwicklungen in der verfassungsmäßigen Struktur der EU nach dem in Artikel 48 EUV festgelegten Verfahren durchgeführt wurden. Dieses Verfahren sieht eine einfache Mehrheitsentscheidung für die Aufnahme von Verhandlungen und grundsätzlich Einstimmigkeit für das Inkrafttreten eines Änderungsvertrags vor. Im Ergebnis begünstigt sie einen gleichmäßigen Fortschritt aller Mitgliedstaaten, aber was das Endergebnis der Verhandlungen betrifft, tendiert sie dazu, den kleinsten gemeinsamen Nenner zum Tragen kommen zu lassen.
Einerseits ist das Revisionsverfahren des Art. 48 EUV aber, wie der Name schon sagt, nur dazu gedacht, Revisionen durchzuführen. Im Gegensatz zu früheren Revisionen mehr oder weniger großen Ausmaßes ginge es in vorliegendem Fall um die Schaffung eines neuen politischen Gebildes, das sich von dem der EU deutlich unterscheiden würde.
Andererseits würde im Falle einer Konferenz zur Zukunft Europas die Befolgung des in Artikel 48 EUV vorgesehenen Revisionsverfahrens, um eine EPU ins Leben zu rufen, deren Erfolgsaussichten stark belasten. In der Tat, wenn es darum geht, Verhandlungen zu beginnen, ist eines von zwei Dingen möglich. Entweder sind die Mitgliedstaaten, die für eine EPU sind, in der Minderheit, dann könnten sie nicht einmal die von ihnen gewünschte Aufnahme von Verhandlungen herbeiführen. Oder diese Mitgliedstaaten werden in der Mehrheit sein und wären dann gezwungen, mit Partnern zu verhandeln, die dem Projekt der Gründung einer EPU ablehnend gegenüberstehen. Wenn zudem das Inkrafttreten eines Änderungsvertrags, der die Errichtung einer EPU vorsieht, von der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten abhängig gemacht wird, kann ein einziger widerstrebender Mitgliedstaat alle Staaten, die eine EPU errichten wollen, als Geiseln nehmen und das gesamte Projekt zum Scheitern bringen.
Aus all diesen Gründen und in Anbetracht der Notwendigkeit, dass Europa sich mit einem neuen demokratischen, wirksamen und solidarischen institutionellen Gefüge ausstattet, täten die Mitgliedstaaten, die von dieser Notwendigkeit überzeugt wären, besser daran, einem alternativen Verfahren zu folgen, das sich im Übrigen am Völkerrecht orientiert und es ihnen ermöglicht, voranzukommen, ohne von den Mitgliedstaaten abhängig zu sein, die zögern, diesen Weg zu beschreiten. Im Gegensatz zu dem in Artikel 48 EUV vorgesehenen Verfahren erleichtert dieses alternative Verfahren (für Details siehe hier) die Umsetzung großer politischer Projekte, die nicht auf Einstimmigkeit stoßen, wenn auch um den Preis eines fehlenden synchronen Fortschritts aller Mitgliedsstaaten. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass dieser Zustand in der heutigen EU nicht ganz unbekannt ist. Dies zeigt sich an den verschiedenen Formen der “verstärkten Zusammenarbeiten“, die bereits innerhalb der EU bestehen.
Welche Ziele sollte eine Konferenz zur Zukunft Europas sowohl institutionell als auch materiell anstreben?
In dieser Hinsicht ist es klar, dass die Ergebnisse der Anhörung der europäischen Bürger in vollem Umfang berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus wird natürlich viel von den spezifischen politischen Kontexten abhängen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt des Beginns möglicher Verhandlungen herrschen, insbesondere in Frankreich und Deutschland. Da das in diesem Beitrag befürwortete alternative Verfahren jedoch nur diejenigen Mitgliedstaaten an den Verhandlungstisch bringen würde, die von der Wünschbarkeit und Notwendigkeit einer EPU überzeugt wären, ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass die Ergebnisse den Erwartungen gerecht werden könnten.
Wie dem es auch sei, auf institutioneller Ebene sollte ein Vertrag zur Gründung einer EPU erstens einen demokratischen, transparenten und effizienten Entscheidungsprozess etablieren. Zumindest sollte dieser Prozess eine viel direktere Legitimation zwischen den Völkern Europas und ihrer europäischen Regierung verankern, als sie heute besteht. Der normale europäische Bürger sollte, wenn er oder sie zur europäischen Wahlurne geht, das Gefühl haben, dass seine oder ihre Stimme einen echten Einfluss nicht nur auf die Zusammensetzung der europäischen Legislative, sondern auch auf die der europäischen Regierung haben könnte. Zweitens sollte das System der Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen an die verschiedenen Institutionen der EPU die grundlegende funktionale Ausrichtung der einzelnen Institutionen stärker berücksichtigen, als dies derzeit der Fall ist. So ist der Rat der EU grundsätzlich als eine zwischenstaatliche Institution konzipiert, die, ähnlich wie der Senat in den Vereinigten Staaten von Amerika oder der Bundesrat in Deutschland, die nationalen Interessen der EU-Mitgliedsstaaten im Gesetzgebungsprozess der EU wahrnehmen soll. Obwohl dies politisch verständlich ist, ist es verfassungsrechtlich befremdlich, dass der Rat, der ursprünglich für eine legislative Funktion konzipiert war, im Laufe der Zeit exekutive Funktionen erhält (dies ist z.B. seit der Einrichtung der Säulen GASP und JI durch den Vertrag von Maastricht der Fall), während die EU-Institution, die gerade für exekutive Funktionen konzipiert wurde, nämlich die Europäische Kommission, außen vor bleibt.
Was die materielle Ebene dann angeht, so sollte die Ausstattung der EPU mit Entscheidungsbefugnissen sowie die Festlegung der Natur dieser Befugnisse (ausschließliche oder nicht ausschließliche Befugnisse, und im letzteren Fall, ob sie geeignet sind, im Laufe der Zeit möglicherweise ausschließliche Befugnisse zu werden, oder nicht) durch den Gründungsvertrag unter Beachtung des Grundsatzes erfolgen, dass jede Übertragung von Befugnissen auf die EPU für die Interessen ihrer Mitgliedstaaten von Vorteil sein muss. In der Tat sollte nicht vergessen werden, dass einer der Hauptgründe für die Existenz einer EPU gerade die Erkenntnis der fortschreitenden Marginalisierung aller EU-Mitgliedstaaten auf der internationalen Bühne und ihre Entschlossenheit ist, dieser Entwicklung wirksam entgegenzuwirken. Aus ähnlichen Überlegungen heraus wurde der EU in der Vergangenheit bereits die ausschließliche Zuständigkeit in den Bereichen der gemeinsamen Handelspolitik oder der Währungspolitik zugestanden. Auf derselben Grundlage könnte eine Konferenz zur Zukunft Europas nun der EPU eine ausschließliche Zuständigkeit im Bereich Migration und Asyl und eine nicht ausschließliche Zuständigkeit, die unter bestimmten Umständen zu einer ausschließlichen werden könnte, im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verleihen. Je nach den Ergebnissen der obigen Analyse könnte die Liste der Kompetenzen, die der EPU zugeschrieben werden, mehr oder weniger lang sein.
Abschließend ist festzuhalten, dass eine Konferenz zur Zukunft Europas:
– sich nicht nur mit materiellen Fragen, sondern auch mit der Errichtung einer demokratischen, effektiven und solidarischen EPU unter den Mitgliedstaaten und Völkern Europas, die dies wünschen, befassen sollte;
– zu diesem Zweck nicht nach dem Revisionsverfahren des Art. 48 EUV, sondern nach einem klassischen Verfahren des Völkerrechts arbeiten sollte, das es denjenigen Mitgliedstaaten, die die Gründung einer EPU befürworten würden, ermöglicht, voranzugehen, ohne von Mitgliedstaaten, die gegen diese Aussicht sind, daran gehindert zu werden;
– zu einer EPU mit starken politischen Institutionen und effektiven Entscheidungsverfahren sowie substanziellen Handlungsmöglichkeiten in einer Reihe von Politikbereichen, einschließlich der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, gelangen sollte.
Anhand der vorstehenden Denkanstöße wäre es gut, wenn neben der Meinung der europäischen Bürger über die Zukunft Europas auch die Politiker in den Mitgliedstaaten wie auch auf EU-Ebene zu der Frage Stellung nehmen würden, ob sie bereit wären, sich für die Schaffung einer demokratischen, effizienten und solidarischen EPU einzusetzen.
Welche politischen Kräfte im heutigen Europa sind bereit, sich für eine solche EPU auszusprechen? Die europäischen Bürger würden das gerne wissen.