Eine Operation nahe am Herzen der Demokratie
„Eine Operation nahe am Herzen der Demokratie”: So bezeichnete Andreas Voßkuhle in der mündlichen Verhandlung die Aufgabe, die Grenzen des parlamentarischen Fragerechts zu konkretisieren.
Die öffentliche Verwaltung hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Europäisierung, Privatisierung, eine wachsende Zahl von unabhängigen Behörden und äußerst offene Regelungsprogramme wie im Regulierungsrecht mögen hier als Stichworte genügen. Dadurch entstehen faktische und rechtliche Probleme für die parlamentarische Kontrolle, etwa im Hinblick auf öffentliche Unternehmen. In diesem Kontext hat jetzt das Bundesverfassungsgericht ein grundlegendes Urteil gesprochen, das das Parlament und insbesondere die Oppositionsfraktionen nachhaltig stärkt. Das Urteil fügt sich in eine längere Serie von Verfahren mit unterschiedlichen Problemen der parlamentarischen Kontrolle ein – vom Einsatz der Bundespolizei im föderalen System bis zu den Grenzen der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste (BVErfGE 139, 194; BverfG v. 13.10.2016, 2 BvE 2/15). Die mit knapp 400 Randnummern gewohnt umfangreiche und in der Sache komplexe Entscheidung wird Politik und Rechtswissenschaft in ihren Einzelheiten noch ausführlich beschäftigen.
Das Gericht hat damit ein lange währendes Verfahren zum Abschluss gebracht. Bereits 2011 von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einigen ihrer Abgeordneten angestrengt, fand die mündliche Verhandlung erst rund sechs Jahre später statt. Von daher erscheint es zwar verfassungsprozessual zutreffend, aber doch etwas befremdlich, einem der Antragsteller ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis zu attestieren, weil er seit ca. sechs Jahren nicht mehr Mitglied des Bundestags ist (Rn. 181 f.). In der Sache geht es um die aus der Sicht der Antragsteller unbefriedigenden Antworten der Bundesregierung in zwei Themenbereichen. Zum einen wurden – in Anschluss an die Finanzmarktkrise und die daraus resultierende neue Regulierung und administrative Praktiken – verschiedene Fragen zur Bankenaufsicht und zur Bankenrettung gestellt. Diese wurden mit unterschiedlichen Begründungen, insbesondere wegen des Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, nicht oder nur pauschal von der Bundesregierung beantwortet. Zum anderen richteten sich die Fragen der Abgeordneten – unter anderem im Zusammenhang mit den Kontroversen um das Projekt Stuttgart 21 und Investitionsentscheidungen der Bahn – auf das Wissen der Bundesregierung in Bezug auf die Deutsche Bahn AG. Auch diese Fragen wurden nur eingeschränkt beantwortet. In beiden Fällen wurden teilweise Unterlagen in der Geheimschutzstelle des Bundestags bereitgestellt. Die Verweigerung der Antworten ohne ausreichende Begründung wird vom Gericht in teilweise deutlichen Worten als Verstoß gegen die Antwortpflichten der Bundesregierung eingestuft.
Kontrolle im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes
Bemerkenswert ist, wie schwer sich das Gericht im Rahmen der Maßstabsbildung mit dem Begriff des parlamentarischen Regierungssystems tut. Dort heißt es: „Das parlamentarische Regierungssystem wird auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments gekennzeichnet“ (Rn. 196). Das ist natürlich nicht falsch. Allerdings verdeckt die Aussage vom Duktus her – auch durch das gleichzeitig stark gemachte Prinzip der Gesamtrepräsentation (Rn. 204) – die funktionslogischen Differenzierungen der Kontrolle im fragmentierten Parlament. Die politische Konfrontation zwischen den regierungstragenden Fraktionen und den Oppositionsfraktionen und die daraus resultierenden funktionalen Zusammenhänge werden in der Entscheidung nicht deutlich, auch wenn die Bausteine durchaus vorkommen. In diesem Zusammenhang lässt sich der Begriff der Kontrolle unterschiedlich verstehen. Einerseits gibt es begleitende Kontrolle oder Mitsteuerung – ausgeübt durch diejenigen Fraktionen, die das „Vertrauen“ in die Bundesregierung haben. Diese Form der Kontrolle wird jedoch meistens so ausgeübt, dass man sie nicht öffentlich beobachten kann. Kontrolle durch die Oppositionsfraktionen funktioniert anders. Ein genuiner Wert der parlamentarischen Kontrolle durch die Opposition liegt in der Herstellung der parlamentarischen Publizität und damit indirekt auch der allgemeinen medialen Öffentlichkeit. Mit einer parlamentarischen Verwaltungskontrolle, die nach der Geheimschutzordnung oder in vertraulichen Gremiensitzungen stattfindet, ist dieser zentrale Wert der oppositionellen Kontrolle verloren. Wie das Gericht formuliert: „Eine unter den Bedingungen der Geheimschutzordnung erlangte Information können die Parlamentarier nicht in den öffentlichen Meinungsbildungsprozess überspielen“ (Rn. 209).
Die Entscheidung offenbart in diesem Zusammenhang auch eine gewisse Untentschlossenheit hinsichtlich der Funktion der Transparenz als Element der parlamentarischen Kontrolle. Einerseits wird betont, dass parlamentarische Verwaltungskontrolle dazu diene, Missstände in der öffentlichen Verwaltung aufzudecken und Verbesserungsbedarf zu identifizieren. Andererseits sei so generiertes parlamentarisches Wissen Grundlage für die Entscheidungsfindung des Parlaments (Rn. 195: Informationen der Bundesregierung als „Voraussetzung für eine sachgerechte Arbeit des Parlaments“). Im Kontext des parlamentarischen Regierungssystems erscheint dies jedenfalls widersprüchlich. Weil die Rechtsetzung maßgeblich durch Vorarbeiten der Ministerialverwaltung geprägt ist und weil die regierungstragenden Fraktionen im Parlament mitsteuern, dienen formelle Instrumente der parlamentarischen Kontrolle wie die Anfragen kaum der Wissensgenerierung zur Entscheidungsfindung. Vielmehr steht im parlamentarischen Regierungssystem die Suche der Opposition nach potentiell skandalisierungsfähigen Sachverhalten, für die die Regierung verantwortlich gemacht werden kann, im Vordergrund.
Legitimationsfunktion parlamentarischer Kontrolle
Das Bundesverfassungsgericht stellt zu Recht die Funktion der parlamentarischen Kontrolle in dieser Entscheidung in den Mittelpunkt. Die Geheimhaltung von Informationen durch die Bundesregierung wird vor diesem Hintergrund auch zu einem Legitimationsproblem (Rn. 199). Dieser Ansatz wird jedoch mit einer Erweiterung der verfassungsrechtlichen Legitimationstheorie erkauft. Trotz aller Kritik an der verfassungsgerichtlichen Konzeption der Verwaltungslegitimation werden nun auch öffentliche Unternehmen in die bekannten Legitimationsmodi eingeordnet (Rn. 221 ff.). Ob das eine überzeugende Fortführung des Modells ist, dürfte einstweilen eine offene Frage sein. Allerdings betont das Gericht selbst, dass der Legitimationszusammenhang unabhängig von den nicht weiter erörterten Anforderungen des Demokratieprinzips dazu dient, den Verantwortungsbereich der Regierung zu bestimmen, welcher hier weit gezogen wird. Das ist die verfassungsrechtliche Antwort darauf, dass trotz aller Ausdifferenzierungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor die Regierung das zentrale Scharnier zwischen Parlament und Verwaltung darstellt. Im Rahmen des Verantwortungsbereichs wird die Grenze der Zumutbarkeit für die Bundesregierung sehr weit gezogen und deren Pflicht zur Rekonstruktion und Beschaffung von Informationen betont. Das Gericht nimmt eine wichtige Weichenstellung vor, wenn es deutlich macht, dass öffentliche Unternehmen eindeutig zum Verantwortungsbereich der Regierung gehören. Angesichts der Vielzahl von Bundesbeteiligungen sind damit auch andere Sachbereiche als der Schienenverkehr und die Finanzmarktregulierung betroffen. Dies dürfte auch eine Ausstrahlungswirkung auf die Kontrolle öffentlicher Unternehmen durch die Landesparlamente und die einschlägige Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte haben.
Begründungspflichten als prozedurales Konzept
Die maßstabsbildende Skizze zu den allgemeinen Grenzen der parlamentarischen Informationsrechte betont neben den klassischen dogmatischen Figuren die Bedeutung der Begründungspflicht der Regierung im Falle der Informationsverweigerung. Hier werden Maßstäbe für den Inhalt der Begründung formuliert (Rn. 253 ff.: „ausführlich“, „plausibel“, „nachvollziehbar“), die angesichts ihrer Offenheit sicherlich zukünftig zu einer Herausforderung für die Ministerialverwaltung werden, aber auch zu neuen verfassungsgerichtlichen Streitfällen führen können. Dies gilt umso mehr, als der Subsumtionsteil fast durchgängig auf die unzureichende Begründung abstellt. Von daher ist noch unklar, wieviel Brot und wieviel Steine das Gericht den Antragstellern geliefert hat.
Detailarbeit bei der DB AG und der Finanzmarktregulierung
Die Musik spielt hier allerdings nicht nur in der Maßstabsbildung, sondern auch in den Details. Die unternehmerische Tätigkeit der Deutschen Bahn AG unterfällt nach der Einordnung des Gerichts dem Verantwortungsbereich der Bundesregierung (Rn. 263 ff.). Die Bahn wiederum kann sich nicht auf Grundrechte berufen. Grundrechtsähnlichen Freiheiten, wie sie teilweise in der Literatur formuliert worden sind, erteilt das Gericht mit Blick auf die Entstehungsgeschichte eine klare Absage (Rn. 276 ff.). Dementsprechend sieht es bei allen Fragen eine Verkennung der Antwortpflichten der Regierung. Es wirft einen detaillierten und sehr regierungskritischen Blick dorthin, wo Informationen absichtlich verschleiert worden sind (etwa Rn. 288 ff. zu den sog. Fulda-Runden der DB AG).
Auch im Hinblick auf die Finanzmarktaufsicht stellt das Gericht fast durchgängig eine Verletzung der Antwortpflichten oder jedenfalls der entsprechenden Begründungsobliegenheiten fest. Zwar ergänzt das Gericht die lange Liste der Funktionsfähigkeitsvorbehalte um die Funktionsfähigkeit der staatlichen Finanzaufsicht (Rn. 312 ff.). Allerdings betont die Entscheidung auch auf rechtsvergleichender Grundlage die notwendige Wirksamkeit der parlamentarischen Kontrolle und wendet sich mehrfach gegen eine begriffliche Interpretation, die faktisch zu einer Bereichsausnahme hinsichtlich der parlamentarischen Kontrolle führen würde (Rn. 314). Dies gilt etwa für die häufig sehr pauschale Argumentation mit den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, für die das Gericht mehr Differenzierung einfordert (Rn. 336 ff.). Insbesondere werden auch hier die Besonderheiten der öffentlichen Unternehmen am Beispiel der HSH Nordbank betont – das werden sicherlich auch manche norddeutschen Landesparlamente die Entscheidung mit Interesse zur Kenntnis genommen haben.
Fazit: Wichtige Stärkung der parlamentarischen Kontrolle
Insgesamt bedeutet die Entscheidung eine wichtige Stärkung der parlamentarischen Verwaltungskontrolle, auch wenn manche der aufgeworfenen dogmatischen Fragen weiterer kritischer Erörterung bedürfen. Für eine Vielzahl ähnlicher Fragestellung im Verfassungsrecht der Länder bietet die Entscheidung zudem über den Verfassungsraum des Bundes hinaus eine wichtige Argumentationsgrundlage. Angesichts der politischen Polarisierung im fragmentierten Parlament sowie der Vielgestaltigkeit der Fragestellungen der parlamentarischen Kontrolle wird es sicherlich nicht lange dauern, bis die nächsten Verfahren zu den Grenzen der gubernativen Auskunftspflicht beginnen. Von daher dienen die Begründungspflichten und das kürzlich eingeforderte „Widerspruchsverfahren“ vor einem Organstreit auch der Verfahrensvermeidung. Im Kontext der Entscheidungen des Gerichts zum Parlamentsrecht stärkt die Entscheidung allerdings auch einen strukturellen Widerspruch, auf den Oliver Lepsius kürzlich hingewiesen hat (Recht und Politik 2016, S. 137 ff.). Während auf der einen Seite die materiellen Rechte insbesondere der Kontrolle vom Gericht gestärkt werden, wird das Organisationsverfassungsrecht häufig sehr kritisch betrachtet. Das kann freilich leicht den Zusammenhang zwischen diesen beiden Dimensionen vernachlässigen. Denn eine effektive parlamentarische Kontrolle mit Fragen in einer Detailtiefe wie den hier verhandelten ruht auf einer stark arbeitsteiligen Binnenorganisation. Nur wenn dadurch eine Spezialisierung erfolgen kann, können einzelne Sachbereiche hinreichend detailliert verfolgt werden, um solche Fragen zu stellen. Insofern darf man auf die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsrecht gespannt sein.