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23 January 2013

„Eine parlamentarisch verantwortliche Regierung für Europa“

Wenn Sie an Europa im Jahr 2023 denken – woran denken Sie da?

Es gibt drei Szenarien, glaube ich. In dem ersten Szenario sehe ich eine europäische Regierung, die nach hartem parlamentarischem Kampf und Versuchen, die Bevölkerung zu ihren Gunsten zu mobilisieren, erklärt, warum diese oder jene politische Entscheidung richtig war. Ich sehe ein Europa, in dem es so etwas wie eine europäische Regierung gibt, gestützt durch das Europäische Parlament, mit einer Zweiten Kammer, in der die nationalen Regierungen vertreten sind. Das wäre attraktiv, und gar nicht so unwahrscheinlich.

Also ganz konventionell das alte Verfassungsmuster, wie es uns aus dem Nationalstaat vertraut ist? 

Moment. Es handelt sich um Gottes Willen nicht einfach nur um einen weiteren Nationalstaat. Das halte ich für praktisch ausgeschlossen. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist für Europa kein Modell.

Und der des 20. Jahrhunderts, globalisierungsoffen und integrationsbereit? Oder andersherum gefragt: Wo hört die Möglichkeit auf, die gewohnten und vertrauten Muster des föderalen Nationalstaats einfach auf die europäische Ebene hochzuspiegeln?

Auf europäischer Ebene wird es nicht die Kompetenzen geben, die wir traditionellerweise mit dem Nationalstaat verbinden. Das Sozialrecht, Altersversorgung und Krankenversicherung zum Beispiel: da kann man sich allenfalls gewisse minimale Harmonisierungen vorstellen, aber die Hauptkämpfe in diesem Bereich werden nach wie vor auf nationaler Ebene stattfinden. Das wird auch für weite Bereiche der Verteidigungspolitik zutreffen. Der tatsächliche Einsatz von Truppen wird auch 2023 nicht in Europa entschieden. Und all das selbst dann nicht, wenn wenn wir auf europäischer Ebene tatsächlich so etwas wie eine parlamentarisch gestützte europäische Regierung hätten, wenn also die Europawahlen echte Wahlen wären.

Beim Sozialstaat würde ich gern mal einhaken. In der Eurokrise hat sich doch gerade herausgestellt, dass wir nicht einfach davon ausgehen können, dass wir soziale Solidarität nur unseren nationalen Mitbürgern schulden.

Der Sozialstaat wird sich nicht einfach auf die europäische Ebene verschieben. Aber es wird Möglichkeiten geben müssen, die Probleme einzelner Mitgliedsstaaten auch durch finanzielle Transfers zu lösen. Dazu gehört notwendig auch die Möglichkeit, auf europäischer Ebene Steuern und Abgaben zu erheben und diese Einnahmen nach Maßgabe europäischen Rechts zu verteilen. Es ist wichtig, dass wir in Europa Kohäsion und Solidarität so organisieren, dass es nicht mehr um Transfers von einem Staat zum anderen geht. Das schafft nur Ressentiments und ist nicht stabil. Es wird aber auch nicht einfach nur eine Replikation des Sozialstaats sein, so dass die sozialstaatlichen Garantien von Arbeitslosenversicherung bis zur Rente auf europäischer Ebene geregelt werden. Das wird eher über Wirtschafts- und Strukturpolitik erfolgen.

Struktur- und Kohäsionsfonds haben wir jetzt auch schon.

Aber auf ungemein niedrigem Niveau. Da reden wir über eine Summe, die ungefähr ein Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts ausmacht. Bei den nationalen Budgets geht es um ganz andere Größenverhältnisse. Ich kann mir vorstellen, dass das europäische Budget – dann aber nicht von Mitgliedsstaaten eingesammelt, sondern durch europäische Steuern und Abgaben – zur Lösung bestimmter sozialer Probleme in den Mitgliedsstaaten eingesetzt werden wird, aber die Grundversorgung wird Sache der Staaten bleiben.

Das heißt, die Nation bleibt primärer Ansprechpartner für mich, wenn ich in Not gerate, aber dahinter weiß ich ein starkes europäisches Backup.

Ja, aber nicht als Reserveansprechpartner, sondern als jemand, der kraftvoll europäische Politik gestaltet und damit de facto auch Umverteilung bewirkt, aber nicht explizit unter dem Label europäischer Sozialstaat.

Kommen wir auf die Verfassungsstrukturen zurück, über die wir anfangs gesprochen haben. Auf welchem Wege würden wir zu einer solchen parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit in Europa kommen?

Zu großen politischen Transformationen gehört immer auch, dass man politische Entrepreneurs hat. Dass man politische Persönlichkeiten hat, die wollen das. Die wollen auf diese Art und Weise Geschichte machen und müssen auf eine Situation stoßen, die das für sie möglich macht, damit sie eine kritische Masse mächtiger Akteure dazu bringen, sie zu unterstützen. Eine solche Lage braucht man. Krisen sind da immer eine gute Situation. Da versteht jeder, dass die Karten neu verteilt werden.

Aber die Eurokrise, die ja nun nicht von Pappe war, scheint dafür vorerst noch nicht ausgereicht zu haben.

Von der Personalseite ist das genau der Bereich, der jetzt fehlt. An ambitionierten Vorschlägen scheitert es nicht, aber am Fehlen von Führungspersönlichkeiten auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das ist eine Rolle, der sich Angela Merkel etwa bislang konsequent verweigert, und es gibt derzeit auch niemand anderen.

Gelöst wurde diese Krise, wenn sie denn gelöst ist, schließlich nicht durch eine machtvolle Führungspersönlichkeit, sondern durch eine dezidiert unpolitische Institution, nämlich die EZB.

Das stimmt. Das Nächste zu einer echten europäischen Führungsfigur in dieser Krise ist vielleicht tatsächlich Herr Draghi (lacht). Aber natürlich wird ein Zentralbankchef keine zentrale politische Figur sein können, wie Europa es brauchen würde, um eine echte politische Transformation zu gestalten. Aber ich bin nicht sicher, ob nicht ein anderer deutscher Kanzler oder auch ein anderer Regierungschef eine solche Rolle hätte spielen können, oder auch ein EU-Kommissar oder Kommissionspräsident.

Welche Schritte wären denn notwendig, um die Voraussetzungen für eine echte Politisierung der EU zu schaffen?

Den ersten Schritt könnten schon einige ambitionierte europäische Parlamentarier tun, zum Beispiel die Chefs der großen Parteien im Europäischen Parlament. Die könnten darauf bestehen, als Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten bei den nächsten Europawahlen 2014 anzutreten.

Das zeichnet sich schon ab, oder nicht?

Ja, zum Teil schon. Die nächste Frage ist, wie sie ihren Wahlkampf organisieren und führen. Nehmen sie ihre Aufgabe ernst, als europäische Führungsfiguren aufzutreten, die eigene politische Programme entwickeln und geeignete Personen um sich zu scharen? Gehen sie wirklich von Staat zu Staat, treten sie mit den europäischen Bürgern und den nationalen Parteiapparaten in Berührung, organisieren sie Koalitionen? Darauf wird es ankommen. Wenn einer das überzeugend tut, geraten alle anderen auch unter Druck, es zu tun. Es gehört also nicht furchtbar viel dazu, das anzustoßen.

Aber einen solchen Wahlkampf kann man nur führen, wenn man das Versprechen, im Fall des Sieges Kommissionspräsident zu werden, auch einlösen kann. Worüber bislang die nationalen Regierungen entscheiden. Werden die sich diese Entscheidung so einfach aus der Hand nehmen lassen?

Wenn z.B. die Sozialdemokraten glaubhaft machen, dass sie im Fall eines Wahlsiegs keinen anderen Präsidenten akzeptieren als ihren Spitzenkandidaten, dann könnte das schon gehen. Die Regierungen schlagen zwar den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vor, aber das Parlament muss ihn wählen. Und wen es nicht wählen will, den brauchen die Regierungen auch nicht vorzuschlagen. Das heißt, man bräuchte für so einen Schritt noch nicht einmal eine Vertragsänderung.

Wäre das auch eine Möglichkeit, die Spirale aus wachsendem Euroskeptizismus in der Bevölkerung und zunehmender Lähmung in den europäischen Institutionen zu durchbrechen?

Auf jeden Fall. Im Moment ist es so, dass wenn auf europäischer Ebene etwas entschieden wird, man dafür oder dagegen sein kann, aber es hat immer den Anschein, als sei es alternativlos. Jedenfalls wird keine Alternative institutionell abgebildet, es ist kein anderes Personal da, keine Opposition, die eine andere Richtung vorschlägt. Das führt dazu, dass wenn alles gut läuft, grosse Teil der eurpäischen Bürgerschaft Europa gegenüber wohlgesonnen sind, wenn es aber schlecht läuft, alle sagen, Europa funktioniert nicht. Dann liegt das Problem nicht in einer bestimmten Regierung oder politischen Richtung, sondern – weil die europäischen Entscheidungen eben als alternativlos dargestellt wurden – sondern eben an der Europäischen Union als Ganzes. Wenn europäische Entscheidungen nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen, wird man dazu neigen, skeptisch zu werden gegenüber Europa. Wenn es dagegen vorher Streit gegeben hat über die Richtung, wenn man die Regierung austauschen kann, dann passiert das nicht. Dieser Mechanismus ist zentral für das Funktionieren jeder Demokratie und die Voraussetzung dafür, das Bürger ein Systems für legitim halten, selbst wenn Sie mit den konkreten politischen Ergebnissen unzufrieden sind. Es gibt keinen Grund, für Europa darauf zu verzichten. Schon in der Gegenwart nicht, und erst recht nicht, wenn man sich vorstellt, was 2023 der Fall sein könnte.

Kommen wir zu den anderen beiden Szenarien. Welche wären das?

Szenario zwei wäre: Es fällt vieles auseinander. Die EU entwickelt sich zurück zu einer luxuriöseren Variante einer Freihandelszone. Das wäre das britische Ideal, jedenfalls das der konservativen Partei. Die dritte Möglichkeit wäre, dass alles im Wesentlichen so bleibt, wie es ist.

Würde das implizieren, dass die Griechen und Spanier und Portugiesen sich dauerhaft darauf einrichten müssen, Befehle ausführen zu müssen, an deren Entstehen sie politisch keinen Anteil haben? Dass sich in Europa eine Struktur aus Zentrum (Berlin) und Peripherie (Athen etc.) etabliert und das Zentrum für das Machen und die Peripherie für das Befolgen von Ansagen zuständig ist?

Sofern das die richtige Beschreibung des Status Quo ist, ist das in der Tat nicht stabil. Bis vor kurzem waren die Mitgliedsstaaten weitgehend autonom, mit einer relativ schwachen Form der Beaufsichtigung und gelegentlichen seltenen Interventionen. Wie das mit ESM und Fiskalpakt weitergehen wird, ob es tatsächlich dauerhaft noch zu starken Interventionen kommt, ist glaube ich noch offen. Das hängt davon ab, wie das gehandhabt wird.

Aber die Wahrnehmung in Griechenland etc. ist jetzt schon so, dass man sich als Befehlsempfänger Berlins fühlt.

Richtig, und im Moment ist diese Sicht vielleicht übertrieben, aber sicherlich nicht ganz falsch. Aber diese Situation ist weder stabil, noch ist es politisch wahrscheinlich, dass sie lange andauern wird. Ich glaube, wir haben den Höhepunktpunkt des Austeritätswahns längst erreicht und können erwarten, dass in den nächsten Jahren der Fokus mehr auf Wachstum und Herstellung eines wirtschaftlichen Gleichgewichts liegen wird. Wobei Austerität nicht völlig aus dem Blickpunkt geraten wird, und das ist auch richtig so. Natürlich ist eine gewisse budgetäre Disziplin wichtig, aber sie hatte mit der Krise nur sehr wenig und in Hinblick auf etwa Spanien oder Irland überhaupt nichts zu tun. Es gibt zunehmend die Einsicht, sogar beim IWF, dass die Kosten einer austeritätsorientierten Politik zu hoch sind. Das wird auch Einfluss haben auf die Art und Weise, wie man den Fiskalpakt handhaben wird.

Fassen wir zusammen: Wir haben a) das Quasi-Föderalismus-Modell, b) das Zurück-zur-Freihandelszone-Modell und c) das Einfach-immer-so-weitermachen-Modell. Welches ist am wahrscheinlichsten?

Das realistischste Szenario ist eines, das alle drei verbindet. Wenn wir Wetten platzieren müssten, würde ich auf eine Welt in 2023 setzen, in der man sagen würde: Sehen Sie, wir haben Recht gehabt, es gibt ganz wesentliche Föderalisierungschritte, von denen wir vorher immer gesagt haben, das geht nur in einem Staat. Andererseits werden die Engländer vielleicht sagen, Gottseidank ist es uns gelungen, für uns zumindest und vielleicht eine Reihe anderer Staaten die EU als eine besonders starke Freihandelszone zu halten. Und dann wird es die Dritten geben, die sagen, im Wesentlichen hat sich nichts geändert, wesentliche Strukturmerkmale der EU, die Sie von einem Staat traditioneller Art unterscheiden, bestehen fort.

Das impliziert, dass sich die EU in verschiedene Verträge oder Vertragsebenen ausdifferenziert, oder?

Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Das wird politisch sehr schmerzhaft und schwierig. Aber ich glaube, dass die EU beispielsweise irgendwann in den nächsten zehn Jahren die Möglichkeit eigener Steuern einführen wird, und zwar nicht mehr mit Einstimmigkeit, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Da werden sicher manche Staaten nicht mitmachen wollen. Aber der Druck wird so groß sein, dass man Möglichkeiten schafft, dass manche Staaten da voranschreiten und andre außen vor bleiben.

Wird das die Linie zwischen Euro- und Nicht-Euro-Staaten sein, an der sich das ausdifferenziert?

Mit großer Wahrscheinlichkeit. Da gibt es ja schon politische und rechtliche Institutionen, um die gemeinsame Währung zu managen. Das wird auch auf andere Bereiche ausstrahlen und wahrscheinlich eine ganz eigene Dynamik entwickeln. Diese Differenzierung ist auch wichtig für die Frage, welche Länder bis 2023 noch zur EU dazustoßen werden: Wird die Türkei Mitglied sein? Die Ukraine? Das sind ganz entscheidende Fragen. Und die stellen sich ganz anders dar, wenn es ein Kerneuropa gibt, zu dem diese Staaten eher nicht gehören würden, und eine Europäische Union, die nicht so eng kooperiert.

Und wenn man noch einen Schritt weitergeht und sich ein Über- und Nebeneinander von ganz verschiedenen Vertragssituationen vorstellt, eine Art Blätterteig-EU?

Das wäre eine Möglichkeit, eine Art À-la-Carte-Angebot, für jedes Bedürfnis einen eigenen maßgeschneiderten Vertrag. Aber das muss gar nicht sein, das geht auch einfacher. Man hat ein Kerneuropa und ein weiteres Europa. Das hätte den Vorteil, dass man es endlich mit der Mitgliedschaft der Türkei ernst machen könnte. Es ist schon aus politischen Gründen unmöglich, der Türkei nach 50 Jahren Antrag den Stuhl vor die Tür zu stellen, aber politisch auch sehr schwierig, sie voll zu integrieren. Eine zweistufige EU macht da vieles leichter. Im Detail wird man natürlich sehr viel komplexere Strukturen haben, aber das haben wir doch jetzt auch schon: Die Schweiz ist Schengen-, aber nicht EU-Mitglied, Irland ist EU-, aber kein Schengen-Mitglied. Nowegen ist nicht EU-Mitglied, wendet aber EU-Recht an. Das lässt sich auch jetzt schon nicht auf einen einheitlichen Mitgliedschaftsstatus reduzieren.

Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis. Nächste Folge: Jo Shaw über das Verbleiben Großbritanniens in der EU, das Verbleiben Schottlands in Großbritannien und was beides miteinander zu tun hat.


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