16 November 2010

Eine verpasste Chance, ein wirklich gutes Buch zu schreiben

Nichts weniger als die „Domestizierung einer Illusion“ verspricht uns Jörg Fisch laut Untertitel seines Buches über das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Das ist ein großes Wort, wie überhaupt das Buch große Erwartungen weckt: Seit mehr als zweihundert Jahren hält die Idee, dass jedes Volk ein Recht auf einen eigenen Staat hat, die Weltgeschichte in Aufruhr. Seit der Unabhängigkeitserklärung der nord- und südamerikanischen Staaten gehört sie zum Inventar der Diplomatie, seit den UN-Menschenrechtspakten von 1966 ist sie verbindliches Völkerrecht. Sie zersprengte die großen Imperien der Kolonialreiche, sie befreite die Völker Afrikas und Asiens aus der europäischen Fremdherrschaft. Erst in letzter Zeit, so scheint es, unter dem Eindruck der Blutbäder in Bosnien, Tschetschenien und dem Kosovo kippt die Festbeleuchtung, in der diese Idee erstrahlt, ins Zwielichtige.

Was hätte das für ein Buch werden können. Der Geschichte dieser schillernden Idee auf die Spur zu kommen, ihren Zeitbedingtheiten und Funktionswandlungen nachzugehen, sie zu kontextualisieren und zu historisieren – das wäre den Schweiß eines Historikers wahrhaftig wert gewesen.

Doch ein solches Buch hat Jörg Fisch, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich, leider nicht geschrieben.

Mythifizierung des Selbstbestimmungsrechts

Fisch beginnt sein Buch mit dem – für einen Historiker an sich schon erstaunlichen – Versuch, eine „Theorie der Selbstbestimmung“ aufzustellen, also eine aus jedem historischen Kontext herausgelöste Essenz des Begriffes Selbstbestimmung zu finden. Das Ergebnis, Selbstbestimmung als „herrschaftsfreie Äußerung des Volkswillens“, wird im zweiten Teil des Buches dem Praxistest unterzogen: Epoche für Epoche wird abgeklopft, ob und in welchem Maße das solchermaßen Definierte dort vorzufinden ist. So wird das Selbstbestimmungsrecht zu etwas Vorgefundenem, Überzeitlichem, dessen Verwirklichung allenfalls durch finstere Machtinteressen durchkreuzt wird.

Das ist nicht nur von begrenztem Erkenntniswert, sondern verführt Fisch auch zu einer ärgerlichen Mythifizierung: Hier die Selbstbestimmung als „Recht des Schwächeren“, dort das „Machtprinzip“ der Starken, der mit Sezessionsverboten und anderen Einschränkungen die Selbstbestimmung anderer Völker an der Entfaltung hindert, und beide liegen in ewigem Kampf miteinander. Wie sich Radovan Karadzic und das nordirische Karfreitagsabkommen in dieses Schema einordnen? Die Antwort darauf bleibt Fisch schuldig.

Lückenhaft und ungenau

Es gibt auch noch andere Lücken. So werden beispielsweise Israel und Palästina mit keinem Wort erwähnt. Dieser Extremfall zweier hoffnungslos ineinander verhakter Völker scheint für Fisch überhaupt nicht zu existieren. Das ist nur mit Bequemlichkeit zu erklären: Die Konstellation war ihm wohl zu schwierig.

Dazu kommen haarsträubende Ungenauigkeiten. So zitiert er etwa die Präambel der UN-Charta mit den Worten „We, the people of the United Nations“ und verweist ausdrücklich auf die parallele Formulierung am Anfang der Verfassung der USA. Mit einer solchen Präambel hätten die Vereinten Nationen 1945 völlig unbemerkt den Weltstaat ausgerufen. Was sie nicht taten, denn die ersten Worte der Charta lauten: „We, the peoples of the United Nations“. Ein kleiner Unterschied.

Fazit: So hoch die Erwartungen, so herbe die Enttäuschung. Jörg Fischs Buch bleibt weit hinter den Möglichkeiten seines Themas zurück.

Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. C.H. Beck 2010

Rezension für Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton Nichts weniger als die „Domestizierung einer Illusion“ verspricht uns Jörg Fisch laut Untertitel seines Buches über das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Das ist ein großes Wort, wie überhaupt das Buch große Erwartungen weckt: Seit mehr als zweihundert Jahren hält die Idee, dass jedes Volk ein Recht auf einen eigenen Staat hat, die Weltgeschichte in Aufruhr. Seit der Unabhängigkeitserklärung der nord- und südamerikanischen Staaten gehört sie zum Inventar der Diplomatie, seit den UN-Menschenrechtspakten von 1966 ist sie verbindliches Völkerrecht. Sie zersprengte die großen Imperien der Kolonialreiche, sie befreite die Völker Afrikas und Asiens aus der europäischen Fremdherrschaft. Erst in letzter Zeit, so scheint es, unter dem Eindruck der Blutbäder in Bosnien, Tschetschenien und dem Kosovo kippt die Festbeleuchtung, in der diese Idee erstrahlt, ins Zwielichtige.

Was hätte das für ein Buch werden können. Der Geschichte dieser schillernden Idee auf die Spur zu kommen, ihren Zeitbedingtheiten und Funktionswandlungen nachzugehen, sie zu kontextualisieren und zu historisieren – das wäre den Schweiß eines Historikers wahrhaftig wert gewesen.

Doch ein solches Buch hat Jörg Fisch, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich, leider nicht geschrieben.

Mythifizierung des Selbstbestimmungsrechts

Fisch beginnt sein Buch mit dem – für einen Historiker an sich schon erstaunlichen – Versuch, eine „Theorie der Selbstbestimmung“ aufzustellen, also eine aus jedem historischen Kontext herausgelöste Essenz des Begriffes Selbstbestimmung zu finden. Das Ergebnis, Selbstbestimmung als „herrschaftsfreie Äußerung des Volkswillens“, wird im zweiten Teil des Buches dem Praxistest unterzogen: Epoche für Epoche wird abgeklopft, ob und in welchem Maße das solchermaßen Definierte dort vorzufinden ist. So wird das Selbstbestimmungsrecht zu etwas Vorgefundenem, Überzeitlichem, dessen Verwirklichung allenfalls durch finstere Machtinteressen durchkreuzt wird.

Das ist nicht nur von begrenztem Erkenntniswert, sondern verführt Fisch auch zu einer ärgerlichen Mythifizierung: Hier die Selbstbestimmung als „Recht des Schwächeren“, dort das „Machtprinzip“ der Starken, der mit Sezessionsverboten und anderen Einschränkungen die Selbstbestimmung anderer Völker an der Entfaltung hindert, und beide liegen in ewigem Kampf miteinander. Wie sich Radovan Karadzic und das nordirische Karfreitagsabkommen in dieses Schema einordnen? Die Antwort darauf bleibt Fisch schuldig.

Lückenhaft und ungenau

Es gibt auch noch andere Lücken. So werden beispielsweise Israel und Palästina mit keinem Wort erwähnt. Dieser Extremfall zweier hoffnungslos ineinander verhakter Völker scheint für Fisch überhaupt nicht zu existieren. Das ist nur mit Bequemlichkeit zu erklären: Die Konstellation war ihm wohl zu schwierig.

Dazu kommen haarsträubende Ungenauigkeiten. So zitiert er etwa die Präambel der UN-Charta mit den Worten „We, the people of the United Nations“ und verweist ausdrücklich auf die parallele Formulierung am Anfang der Verfassung der USA. Mit einer solchen Präambel hätten die Vereinten Nationen 1945 völlig unbemerkt den Weltstaat ausgerufen. Was sie nicht taten, denn die ersten Worte der Charta lauten: „We, the peoples of the United Nations“. Ein kleiner Unterschied.

Fazit: So hoch die Erwartungen, so herbe die Enttäuschung. Jörg Fischs Buch bleibt weit hinter den Möglichkeiten seines Themas zurück.

Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. C.H. Beck 2010

Rezension für Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton


2 Comments

  1. Don Gomez Tue 16 Nov 2010 at 14:10Reply

    Der Unterschied zwischen Staatsvolk und Völkern ist ein ziemlich wichtiger Unterschied. Daß ihm so ein Fehler unterläuft…, daß der Beck-Verlag das nicht merkt…, naja, shit happens.

  2. Sebastian Sat 20 Nov 2010 at 12:00Reply

    Dieses Selbstbestimmungsrecht galt leider nur immer dann, wenn es gegen Deutschland angewendet werden konnte, nie wenn es zum Vorteil von Deutschland war…siehe Wiedervereinigungsverbot mit Ösiland…

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