Wie Verfassungsgerichte miteinander reden: Das Potential des Vorlageverfahrens für Europas pluralistischen Verfassungsverbund
Vor nicht allzu langer Zeit war die Diskussion zum Verhältnis zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten bestimmt von Fragen nach dem Vorrang und der Letztentscheidungskompetenz. Das Vorlageverfahren wurde bei dieser Diskussion meist nur am Rande erwähnt – meist mit dem Hinweis, dass auf der Grundlage von Artikel 267 AEUV ein institutionalisierter Mechanismus für einen Dialog zwischen dem EUGH und den nationalen Verfassungsgerichten besteht, von dem sich letztere aber weigern, Gebrauch zu machen.
Das Terrain hat sich geändert. Das jedenfalls suggeriert eine mit Spannung erwartete Rede, die der Vizepräsident des Gerichtshofs der Europäischen Union, Koen Lenaerts, am letzten Montag an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat. Eine große Europa-Rede war Lenaerts‘ Vortrag nicht, sondern eher, wie Ingolf Pernice anmerkte, eine „Grundlagenvorlesung“. Bemerkenswert war die Rede aber dennoch.
Seine Rede zu dem, in seinen eigenen Worten, „ewigen Thema“ des Verhältnisses zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten behandelte im Kern jüngere Rechtsprechungsentwicklungen zum Vorlageverfahren. Genauer ging es um EuGH-Urteile, die auf Vorlagen nationaler Verfassungsgerichte ergangen waren: Pringle, Melloni, Bressol & Chaverot, Test Achats, Digital Rights & Seitlinger, Jeremy F. Alles Urteile, die seit 2010 ergangen sind. Dazu dieses Jahr die Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH im OMT-Beschluss. Wenn man bedenkt, dass es nicht lange her ist, dass sich zahlreiche nationale Verfassungsgerichte äußerst widerwillig zeigten, Vorlagefragen an den EUGH zu übermitteln, ist diese Entwicklung bemerkenswert. Innerhalb von wenigen Jahren haben nacheinander vier der wichtigsten europäischen Verfassungsgerichte dem EuGH jeweils ihre erste Vorlagefrage vorgelegt: 2008 legte die italienische Corte costituzionale dem EuGH erstmals vor, 2011 das spanische Tribunal Constitucional in der Rechtssache Melloni, 2013 der französische Conseil constitutionnel im Fall Jeremy F. und am 14. Januar 2014 schließlich das Bundesverfassungsgericht mit seinem OMT-Beschluss. Wie lässt sich dieser bemerkenswerte Wandel von einer beharrlichen Nichtvorlagepraxis hin zur Herausbildung einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens erklären? Warum haben die Verfassungsgerichte so lange gezögert, vorzulegen? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die notwendigen Voraussetzungen ziehen, die diesen Wandel befördert haben? Und was ist eigentlich das normative Argument für die Nutzung des Vorlageverfahrens aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte?
Starke Stellung für den EuGH
Für den EuGH liegen die Vorzüge der Kooperation mit nationalen Verfassungsgerichten im prozessualen Rahmen des Vorlageverfahrens auf der Hand: Dieses europäische Verfahren, das der Gewährleistung der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts dient, versetzt den Gerichtshof in eine privilegierte Position. Wenn der EuGH der „Motor“ der europäischen Integration ist, dann ist das Vorlageverfahren das Ventil, mit dem der Gerichtshof den Integrationsprozess maßgeblich steuert. Nationale Verfassungsgerichte in dieses Verfahren einzubinden, dürfte die Stellung des EuGH in Europa stärken.
Es kann deshalb nicht verwundern, wenn Koen Lenaerts in seiner Rede gegenüber nationalen Verfassungsgerichten nachdrücklich für die Nutzung des Vorlageverfahrens warb. Er betonte auffällig häufig, dass das Vorlageverfahren „durch wechselseitige Kooperation und einer Teilung von Verantwortlichkeiten geprägt“ sei. Diese Kooperation sei geboten, „um Spannung zu vermeiden“. Es wurde deutlich, dass Lenaerts in dieser kooperativen Vorlagepraxis die Lösung für die – aus den divergierenden konzeptionellen Positionen des EuGH und nationaler Verfassungsgerichte resultierenden – zwischengerichtlichen Spannungen erblickt. Für ihn liegt darin der richtige Weg, „um die ganze Debatte [zum Verhältnis zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten] voranzutreiben“, was „eigentlich viel wichtiger“ sei, „als diese konzeptuellen Fragen [zur Reichweite des Vorrangs des Unionsrechts], die eigentlich nur Professoren an Universitäten interessieren“, die aber „in der Praxis nicht viel ausmachen“.
Aber welche normativen Gründe sprechen für eine intensive Nutzung des Vorlagemechanismus durch nationale Verfassungsgerichte auch aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte? Dazu einige Erwägungen: Erstens steigen in einem – vielfach durch netzwerkartige und damit heterarchische Beziehungsstrukturen gekennzeichneten – pluralistischen Verfassungsverbund die rechtsordnungsübergreifenden Kommunikationsanforderungen. Zwar gab es auch bisher schon zwischen dem EuGH und nicht-vorlegenden nationalen Verfassungsgerichten Gesprächskontakte und Dialog. Aber nur indirekt in den eigenen Urteilen und Beschlüssen auf den EuGH Bezug zu nehmen und sich von ihm abzugrenzen, wie etwa in den großen Europa-Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichte anlässlich der Ratifizierung eines europäischen Vertrages, wird den steigenden Kommunikationsanforderungen allein nicht mehr gerecht. Zwar können die nationalen Verfassungsgerichte so auf relativ hohem, tendenziell konfliktvermeidendem Abstraktionsniveau eigenständige Positionen zur Rolle des Nationalstaats im europäischen Integrationsprozess formulieren, ohne gleich einen offenen Rechtsprechungskonflikt mit dem EuGH zu riskieren. Sie können so vermeiden, sich konkret, fallbezogen und damit potentiell konflikthaft mit den Positionen des EuGH auseinanderzusetzen – es lässt sich aber auch vortrefflich aneinander vorbeireden. Im direkten Dialog mit dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens wäre das anders. Das entspricht nicht nur dem individualisierenden, fallbezogenen Charakter der richterlichen Tätigkeit, sondern ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit und damit aus der Perspektive des Rechtsschutzsuchenden wünschenswert.
Zweitens bekämen die Verfassungsgerichte, würden sie weiterhin nicht vorlegen, auch Legitimitätsprobleme. Denn Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichte können europaweit externale Effekte entfalten. Verfassungsgerichte müssen neben ihrer nationalen Perspektive auch systemische Zusammenhänge berücksichtigen. Wenn Verfassungsgerichte in Fällen mit unionsrechtlichen Bezügen jedoch von einer Vorlage absehen, dann droht schon aufgrund der institutionellen Eigeninteressen die Gefahr eines nationalen Tunnelblicks. Dass sie jetzt öfter vorlegen, kann man auch als Eingeständnis sehen, dass in einem pluralistischen Verfassungsverbund die Legitimität, um bestimmte Verfassungsfragen mit europäischer Dimension zu entscheiden, ohne Einbindung des EuGH nicht ausreicht. Dieser Aspekt tritt in der Vorlage des BVerfG im Rahmen des OMT-Beschlusses deutlich hervor, denn die Entscheidungspraxis der EZB zeitigt in Zeiten der europäischen Staatsschuldenkrise Wirkungen weit über die Bundesrepublik Deutschland hinaus. Hier stößt ein nationales Verfassungsgericht, das diese Entscheidungspraxis zu beeinflussen sucht, allein an seine politisch-institutionellen Grenzen.
Drittens liegt in dem rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog ein nicht zu unterschätzendes Potential für einen sachorientierten Diskurs, mit dem Interessengegensätze überwunden oder zumindest eingedämmt werden können. Richter teilen eine gemeinsame professionelle Identität und sprechen die gemeinsame Sprache des Rechts, wodurch die widerstreitenden Interessen einer Begründungs- und Rechtfertigungslast unterworfen werden. Fast gebetsmühlenartig wiederholte Lenaerts in seinem Vortrag die dafür notwendigen Bedingungen: Entgegenbringen von Vertrauen, gegenseitiger Respekt, „das Ergebnis des Anderen … als legitim, als akzeptabel erfahren“. Das sind entscheidende Voraussetzungen dafür, dass die Vorzüge des Vorlageverfahrens, nämlich dass man direkt und fallbezogen miteinander redet, die mit dem gesteigerten Konfliktpotential verbundenen Gefahren überwiegen. Eine intensive Nutzung des Vorlageverfahrens birgt solche Gefahren, denn eine fallbezogene rechtsordnungsübergreifende Auseinandersetzung im Rahmen des Vorlageverfahrens erschwert taktische Ausweichmanöver und erhöht damit das zwischengerichtliche Konfliktpotential. Dennoch spricht vieles dafür, dass sich die schrittweise Verlagerung des rechtsordnungsübergreifenden konstitutionellen Diskurses zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten in das Vorlageverfahren eher produktiv auswirkt, anstatt eine nicht mehr bewältigbare Anzahl offener Rechtsprechungskonflikte zu produzieren. Das jedenfalls scheint die bisherige Rechtsprechungspraxis in Fällen wie Melloni. Bressol & Chaverot. Test Achats und Jeremy F. zu bestätigen. Lenaerts zufolge zeigt etwa das „Verfahren in der Bressol & Chaverol-Sache … exemplarisch, auf welche kooperative Weise die Verantwortungsteilung im europäischen Mehrebenensystem der EU ablaufen kann“.
Warum haben die Verfassungsgerichte so ungern vorgelegt?
Die nahe liegende Antwort ist: die Verfassungsgerichte wollten ihre eigene Entscheidungsautonomie im EU-Kontext wahren. Wenn sie vorlegen, engt das ihren eigenen Entscheidungsspielraum ein und kann als Unterordnung wahrgenommen werden. Eine solche Lesart findet jedenfalls in der öffentlichen Rezeption von Vorlagebeschlüssen eine Stütze: Die erste Vorlage des BVerfG an den EuGH im OMT-Beschluss wurde in den Medien überwiegend so kommentiert, als schrecke das Gericht vor einer eigenen Entscheidung zurück und überlasse dem EuGH die Letztentscheidung. Jedenfalls nach der Konzeption des BVerfG ist das so nicht zutreffend: Danach legt das Gericht vor, bevor es einen Unionsrechtsakt ultra vires erklärt, behält sich aber auch nach einem EuGH-Urteil vor, dies zu tun. Wenn Verfassungsgerichte Vorlagen an den EuGH dennoch zu vermeiden suchen, dann hängt das mit der Schwierigkeit zusammen, nach Vorabentscheidung des EuGH anders zu urteilen und damit einen offenen Rechtsprechungskonflikt herbeizuführen – zumal diese Aussicht in Teilen der integrationsfreundlichen Literatur immer wieder zu einer „Verfassungskatastrophe“ oder zu dem rechtlichen Äquivalent eines atomaren Erstschlages stilisiert wurde. Das möchte kein Verfassungsgericht verantworten. Diese Angst dürfte auch der Grund sein, warum über Jahrzehnte – bis zum Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts im Fall Landtová – kein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht einem Unionsrechtsakt die Anwendung in der eigenen Rechtsordnung versagt hat – trotz erheblicher Differenzen zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten.
Dies offenbart ein grundlegenderes Problem Die übertriebenen Sorgen vor den dramatischen Konsequenzen einer Kontestation von EuGH-Urteilen scheint einen abschreckenden Effekt auf die Vorlagebereitschaft nationaler Verfassungsgerichte gehabt zu haben. Mit anderen Worten: Wenn es faktisch unmöglich ist, von einer Vorabentscheidung des EuGH abzuweichen, kann dies den Ausschlag zugunsten der Nicht-Kooperation und damit zu einer Nichtvorlagepraxis geben.
Eine pluralistische Konzeption des Vorlageverfahrens
Wie kommt es, dass sich die Praxis, nicht vorzulegen, jetzt scheinbar in Richtung einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens wandelt? Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass nationale Verfassungsgerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, einsichtig geworden sind und ihre unionsrechtlichen Vorlageverpflichtungen akzeptieren. Nach dem Motto: Manchmal dauern Lernprozesse eben etwas länger. Besonders plausibel erscheint diese Sichtweise nicht.
Entscheidend dürfte vielmehr sein, dass sich die Rahmenbedingungen im europäischen Kontext maßgeblich verändert. Verfassungspluralistisches Gedankengut ist mittlerweile im fachliterarischen Mainstream angekommen. Auch der EuGH-Richter Lenaerts diskutierte das Melloni-Urteil in seinem Vortrag unter dem Topos des Verfassungspluralismus. Zudem haben mit der Einfügung der Identitätsklausel des Art. 4 Abs. 2 EUV in das europäische Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon die konstitutionalistischen Belange mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte einen primärrechtlichen Referenzpunkt erhalten.
Das lässt die folgende Schlussfolgerungen zu: Solange das Vorlageverfahren von nationalen Verfassungsgerichten als Form der Unterordnung empfunden wird, in welchem sie der EuGH unausweichlich auf eine abschließende Entscheidung festlegt, werden sie den Wandel ihrer Vorlagepraxis nicht fortsetzen. Nationale Verfassungsgerichte und der EuGH müssen sich im Vorlageverfahren grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen und in einen sachorientierten Dialog über die Frage treten, welche Regelung die Belange der europäischen und der nationalen Rechtsordnung nach konstitutionalistischen Maßstäben am besten realisiert.
Für nationale Verfassungsgerichte bedeutet das, dass sie die Rolle des EuGH, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, respektieren müssen und nicht erwarten können, dass sich der für 28 Mitgliedstaaten zuständige Gerichtshof stets der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats anschließen wird. Für den EuGH, dass er bei Vorlagen nationaler Verfassungsgerichte Fingerspitzengefühl zeigen und gewichtige nationale Belange soweit wie möglich in seine Rechtsprechung einfließen lassen sollte. Soweit diese Bedingungen gegeben sind, erscheint es denkbar, dass nationale Verfassungsgerichte durch das Vorlageverfahren größeren Einfluss auf die Rechtsprechung des EuGH nehmen können als durch eine fortgesetzte Nichtvorlagepraxis.
So scheint das auch Lenaerts zu sehen. Während Pernice im Rahmen der Fragerunde im Anschluss an Lenaerts‘ Rede Szenarien entwarf, wie man einen offenen Rechtsprechungskonflikt zwischen dem EuGH und einem nationalen Verfassungsgericht durch Zwangsgeldzahlungen des Mitgliedstaates „rechtlich lösen“ würde, betonte Lenaerts lieber, dass dies „natürlich nicht die normale, befriedigende Lage zur Lösung von Konflikten“ sei, sondern „man muss einfach überzeugen“. Man solle auch „nicht denken … , dass der EuGH nie oder nur sehr selten, noch einen Raum überlässt für die nationale Verfassung“ lässt. „Das ist nicht so.“ Vielmehr strich Lenaerts heraus, dass nationale Verfassungsgerichte durch Vorlagen an den EuGH eine Chance wahrnehmen, „sowohl durch die Formulierung der Fragen als auch durch die Begründung des Vorlagebeschlusses das Ergebnis in eine gewünschte Richtung zu lenken“ und damit „europaweit … die Entwicklung des Rechts“ mit zu gestalten. Das habe „jetzt das Bundesverfassungsgericht auch verstanden“.
Ob dieser direkte Dialogs zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten erfolgreich ist, wird überdies entscheidend davon abhängen, dass das Vorlageverfahren als wahrhaft pluralistisch Verfahren konzipiert ist, in dem nicht nur der EuGH unionsrechtliche Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überträgt, sondern auch nationale Verfassungsgerichte rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien und -normen in die Entscheidungsprozesse des EuGH einspeisen. Das erfordert es nach meiner Überzeugung, nationalen Verfassungsgerichten konzeptionell als ultima ratio die Möglichkeit zur Abweichung von der Vorabentscheidung des EuGH einzuräumen.
Die Frage, inwieweit die Übertragung von Hoheitsgewalt an die EU zulässig sein kann ( wie etwa in den “Solange-Entscheidungen” o.ä.), sollte also beispielsweise zukünftig dem EuGH,bzw. der Eu selbst zur (Vorab-)Entscheidung vorzulegen sein.
Für die Beantwortung könnte nämlich Europarecht bedeutsam sein sein.
Sollte der EuGH eine Übertragung (überraschend) für unbedenklich erachten, könnte das BVerfG dann ja noch anderer Ansicht sein, wobei dann nur juristisch eher Unverständigen die Frage einfallen könnte, wozu hier dann überhaupt das ganze Vorlageverfahren?