„Es gibt eine Vernachlässigung des Rechts in Frankreich“
Die französische Regierung plant ein Gesetz, das den Sicherheitsdiensten enorm weitreichende Befugnisse zum Abhören gibt. Was kommt da auf die Franzosen zu?
Zunächst die gute Nachricht: Bisher gab es überhaupt kein Gesetz, das die Informationsbeschaffung durch die Sicherheitsdienste geregelt hat. Es gab einige Verordnungen und verstreute gesetzliche Regelungen, aber keinen umfassenden gesetzlichen Rahmen. Den gibt es jetzt immerhin.
Und was sieht er vor?
Im ersten Artikel des Gesetzes steht, dass der Schutz des Privatlebens und der Unverletzlichkeit der Wohnung geachtet werden. Aber dann kommen die Ausnahmen aus Sicherheitsgründen, und die Liste ist ziemlich lang und die Klauseln sehr vag und unbestimmt. So soll beispielsweise Abhören zur Terrorismusbekämpfung erlaubt sein. Aber was bedeutet das? Das Gesetz ist voll von unbestimmten Rechtsbegriffen, auf deren Grundlage Überwachung erlaubt sein soll. Die Gretchenfrage ist, wer zuständig ist zu sagen, was erlaubt ist und was nicht.
Wie läuft das Verfahren ab?
Wenn jemand überwacht werden soll, dann muss dies der Premierminister anordnen. Die Exekutive wird dabei von einer unabhängigen Kommission kontrolliert, die eine Empfehlung abgibt. Der kann der Premierminister folgen, muss aber nicht. Außerdem, und das ist noch problematischer, kann er die Überwachung ohne Empfehlung der Kommission anordnen, wenn es sich um einen Notfall handelt. Das kontrolliert dann überhaupt niemand. Wenn der Premierminister der Empfehlung nicht folgt, dann kann die Kommission den Conseil d’Etat, also das oberste Verwaltungsgericht, anrufen.
Und die betroffenen Bürger? Welche Möglichkeiten haben die, sich zu wehren?
Die können ebenfalls beim Conseil d’Etat klagen. Aber das dauert. Die Überwachung wird normalerweise für eine Dauer von zwei Monaten angeordnet. Bis man da Rechtsschutz erhält, ist es oft schon zu spät. Außerdem wissen die Überwachten natürlich meistens nichts davon, dass sie überwacht werden.
Brauchen die Behörden keine richterliche Erlaubnis?
Es gibt in Frankreich zwei Arten von Polizei: die administritative und die justizielle. Die administrative ist für Gefahrenabwehr zuständig. Sie braucht keine richterliche Erlaubnis. Das Überwachungssystem gehört zur administrativer Polizei. Eine andere Konsequenz dieses Begriffes ist, dass für Conseil Constitutionel in solchen Fällen eine bloß hypothetische Beeinträchtigung nicht verfassungswidrig ist. Die Kontrolle ist also sehr gering.
Gibt es in der Öffentlichkeit viel Widerstand gegen dieses Gesetz?
Überhaupt nicht. Zu wenig. Ein paar Artikel in Le Monde (einer von einem bekannten Rechtsanwalt, William Boudon), aber sicher nicht genug. Es gibt, anders als in Deutschland oder in den USA, über dieses Thema überhaupt keine große Debatte. Die Zeitungen schreiben kaum darüber, und auch sonst regt sich fast niemand auf.
Wie kommt das?
Es gibt eine sehr starke Tradition von Polizeistaatlichkeit in Frankreich. Wir sind ein tendenziell autoritäres Land. Wir sind kein liberaler Staat. Die Franzosen sind daran gewöhnt, dass der Staat in ihre Freiheit eingreifen kann, wenn er es für richtig hält. Die Rechtsprechung ist total abwesend: die Richter dürfen hier die Überwachungsbehörde nicht kontrollieren, obwohl in Theorie, die Justiz „der Hüter der individuellen Freiheit“ ist (Art 66 Verf.). Merkwürdig, oder ?
Aber auch in Frankreich ist der Staat an das Recht auf Privatsphäre gebunden.
Es gibt natürlich rechtliche Garantien, aber das Problem ist die Effektivität. Es wird sehr darauf ankommen, wie die Praxis im Umgang mit diesem Gesetz sich entwickeln wird. Ich bin da skeptisch. Die Verwaltung in Frankreich ist seit jeher ungeheuer mächtig. Dazu kommt, dass seit dem Attentat gegen Charlie Hebdo der politische Spielraum für schärfere Sicherheitspolitik sehr groß geworden ist. Es ist sehr schwierig für Verteidiger der Menschenrechte geworden, zu sagen, das geht zu weit.
Wie viel Hoffnung setzen Sie in den Conseil Constitutionel, das französische Verfassungsgericht?
Nicht allzu viel. Der Conseil Constitutionel ist traditionell nicht sehr wagemutig, außer bei Steuerfragen, wenn es ums Geld geht, aber bei Bürgerrechten ist er sehr zurückhaltend. Dazu kommt, dass er das Gesetz wohl nur abstrakt auf eine Verfassungsmäßigkeit überprüfen wird. Es gibt zwei Wege, ein Gesetz vor den Verfassungsrat zu bringen: entweder der Präsident legt es ihm vor der Verabschiedung zur Überprüfung vor, oder Bürger klagen hinterher, wenn sie sich in ihren Grundrechten verletzt sehen. Das Problem ist, dass der zweite Weg im Regelfall ausgeschlossen ist, wenn der erste schon beschritten wurde. François Hollande, der Präsident, hat angekündigt, das Conseil Constitutionnel anzurufen (was er darf). Das Gericht wird also das Gericht mit all seinen unbestimmten Rechtsbegriffen überprüfen, ohne dass man weiß, wie die Praxis damit umgehen wird. Meine Vermutung ist, dass es das Gesetz allenfalls in ein oder zwei Details kritisieren, es im Prinzip aber passieren lassen wird. Den tatsächlichen Umgang der Behörden mit ihren neuen Befugnissen verfassungsgerichtlich kontrollieren zu lassen, wird dann sehr, sehr schwer.
Bleibt noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Der wird in vielen europäischen Ländern scharf kritisiert. Auch in Frankreich?
Die Einführung einer Art Verfassungsbeschwerde, mit der Bürger direkt den Verfassungsrat anrufen können, war eine Reaktion auf den wachsenden Einfluss des EGMR. In der Rechtswissenschaft ist vor allem im Privat- und Strafrecht die Skepsis gegenüber Straßburg groß. Aber in der Politik und in der Öffentlichkeit spielt das keine große Rolle. Die Politik in Frankreich hat nie so offen die Rechtsprechung des EGMR kritisiert wie etwa in Großbritannien. Das interessiert die Franzosen nicht sehr. Es gibt generell kaum Debatten über juristische Fragen in den Medien. Wenn der Verfassungsrat eine Entscheidung fällt, gibt es fast keinen Kommentar – wobei diese Entscheidungen auch kaum kommentierbar sind, so leer und trocken, wie sie formuliert sind. Es gibt eine Vernachlässigung des Rechts. Das ist in Frankreich nicht eine Sache der Bürger, die Leute kümmern sich nicht darum. Wer mächtig ist in Frankreich, ist der Conseil d’Etat. Aber Rechtswissenschaft, Anwaltschaft, Professoren, Zivilgesellschaft sind total am Rand.
Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis