21 October 2013

„Es gibt kein solidarisches Asylsystem in Europa“

Die Katastrophe von Lampedusa hat den Zustand des Asylsystems in der EU wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Aber die europäischen Innenminister zeigen trotz aller zur Schau getragenen Betroffenheit wenig Neigung, die Probleme an der Wurzel zu packen. Welchen Eindruck hat die Reaktion der Politik bei Ihnen hinterlassen?

Ich habe den Eindruck, dass vor allem eine Fortsetzung der bisherigen Politik empfohlen wird, nach dem Motto „More of the same!“. Sie wollen die Außengrenzen noch systematischer überwachen. Das hatte die EU als Politikziel bereits zuvor definiert, ebenso die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auch mit Hilfe der Grenzschutzagentur Frontex. Insofern habe ich nichts Neues gehört. Die grundlegenden Probleme der europäischen Flüchtlingspolitik werden bisher nicht angegangen.

Die da wären?

Es gibt ein starkes Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht auf Asyl in Europa einerseits und dem Zugang zu diesem Recht andererseits. Das Recht auf Asyl in Artikel 18 der Grundrechtecharta ist ein ambitioniertes Versprechen, und der Kreis der schutzbedürftigen Personen ist in der sogenannten Qualifikationsrichtlinie sehr offen definiert. Die EU hat beispielsweise eine liberalere Flüchtlingsdefinition, als die Bundesrepublik Deutschland vor der Europäisierung des Asylrechts hatte. Andererseits gibt es aber kaum legale und sichere Möglichkeiten für Flüchtlinge, ihren Anspruch auf Asyl überhaupt geltend zu machen. Sie werden auf Abstand gehalten, so dass sie möglichst gar nicht erst Asyl beantragen – obwohl sie ein Recht darauf hätten. Der Zugang zum Asylverfahren wird als Steuerungsinstrument genutzt. Zwischen diesen beiden Polen changiert die Politik der Europäischen Union hin und her: einerseits liberales Selbstverständnis und Recht auf Asyl – andererseits Verstärkung der Kontrollen an den Außengrenzen und Zugangsverhinderungspolitik durch Kooperation mit den Anrainerstaaten.

Traut sich die EU, beim Recht viel zu versprechen, weil sie den Zugang zu diesem Recht entsprechend eng macht?

Jedenfalls tut sie das gleichzeitig. Eine lineare Kausalität sehe ich nicht, da es auch völkerrechtliche Vorgaben gibt, die die Handlungsspielräume der EU begrenzen. Im Ergebnis aber widersprechen sich Elemente des europäischen Flüchtlingsrechts.

Was muss passieren, um dieses Spannungsverhältnis aufzulösen?

Ein wichtiges Instrument wäre, das Visa-Regime zu lockern, damit Menschen aus Herkunfts- und Transitstaaten legal in die Staaten der Europäischen Union einreisen und hier einen Asylantrag stellen können, damit dann in einem fairen Verfahren geprüft wird, ob es sich tatsächlich um schutzbedürftige Personen handelt. Da praktisch kein legaler und sicherer Zugang zum Asylverfahren in der Europäischen Union vorhanden ist, werden die Menschen in ihrer Not auf die illegalen, vor allem aber menschenunwürdigen und gefährlichen Reisewege über das Mittelmeer verwiesen. Haben sie die Überfahrt überstanden, ohne unterzugehen, werden sie legalisiert und die Europäische Union sagt: Dein Asylverfahren wird durchgeführt, obwohl du illegal eingereist bist. Während des Verfahrens haben die Flüchtlinge dann auch Rechtansprüche auf Sozialhilfe und Unterbringung. Aber bis zu diesem Zeitpunkt versuchen wir, sie möglichst fernzuhalten.

Was noch?

Darüber hinaus sollte die EU systematisch an einem zweiten Kanal des Zugangs zum Asyl arbeiten und Resettlement-Programme eröffnen – also Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen, die sich bereits außerhalb des Verfolgungsstaates befinden und in einem dritten Staat provisorische Aufnahme gefunden haben. Im Fall von Syrien wären das beispielsweise die in Jordanien registrierten Flüchtlinge. Solche Menschen, die weder eine Perspektive auf Rückkehr in ihr Heimatland noch auf Integration in dem Transitstaat haben, sollte die Europäische Union kollektiv aufnehmen und damit eine zweite Säule des europäischen Asylsystems aufbauen.

Zur Zeit mutet die Debatte vor allem wie ein Verteilungskonflikt zwischen den Mitgliedstaaten an. Muss die EU als Gesetzgeberin aktiv werden und das System stärker zentralisieren?

Das Flüchtlingsrecht gehört schon jetzt zu den am stärksten europäisierten Bereichen im Migrationsrecht. Die Frage, welcher EU-Mitgliedstaat zuständig ist, das Asylverfahren durchzuführen, regelt die sogenannte Dublin-Verordnung bis ins Detail. Die Crux ist also nicht, dass es keinen europäischen Mechanismus gibt, sondern dass dieser inhaltlich problematisch strukturiert ist. Hier sind Kriterien in das EU-Recht eingewandert, die noch aus der Zeit der losen völkerrechtlichen Kooperation zwischen den EU-Staaten stammen und auf dem Grundgedanken beruhen, dass der zuständige Staat primär nach dem Einreiseort bestimmt wird. Dieses System benachteiligt evident die Staaten an der östlichen und südlichen Peripherie. Wenn man daran aber etwas ändern will, stößt man auf großen Widerstand der nord- und westeuropäischen Staaten. Wir haben also erneut eine merkwürdige Situation und einen Widerspruch: einerseits die zentrale Regelung der Zuständigkeit der EU-Staaten – andererseits fehlt jeder Solidaritätsmechanismus, der die ungleichen Belastungen kompensiert, die diese Regelung hervorbringt. In den Europäischen Verträgen steht zwar ausdrücklich, dass es eine solidarische Lastenteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten geben muss, dieser Gestaltungsauftrag ist aber nicht umgesetzt. Es gibt kein solidarisches Asylsystem.

Wie müsste man diese Solidarität denn ausgestalten?

In meinen Augen ist die finanzielle Solidarität eine wichtige Stellschraube. Die Fürsorgelasten, die mit der Durchführung eines Asylverfahrens einhergehen, sollten vollständig europäisch finanziert werden. Damit würde der Druck von den Erstaufnahmestaaten genommen, die gewissermaßen mit jedem Flüchtling, den sie aufnehmen, einen finanziellen Nachteil in Kauf nehmen.

Müssten sich nicht auch die weiter nördlich gelegeneren Länder mehr um Asylbewerber kümmern?

Das Problem ist nicht so sehr, dass die Erstaufnahmestaaten – vor allem also die Anrainerstaaten – zuständig sind, das Asylverfahren durchzuführen. Unsolidarisch wird das System, wenn damit implizit mitentschieden wird, dass die Staaten an der östlichen und südlichen Peripherie zuständig sein sollen, die Flüchtlinge dauerhaft aufzunehmen. Denn ein großes Desiderat der Europäischen Flüchtlingspolitik ist, dass wir keinen einheitlichen europäischen Asylstatus und damit auch kein Recht auf Weiterwanderung innerhalb der EU haben. Wir haben einheitliche Kriterien dafür, wer ein Flüchtling ist. Aber der rechtliche Status, den ein solcher anerkannter Flüchtling genießt, ist rein national definiert. Vor allem beinhaltet er kein Recht auf wirtschaftliche Freizügigkeit. Es gibt zwar ein zeitlich begrenztes Reiserecht im Schengengebiet, aber anerkannte Flüchtlinge dürfen sich nicht in einem Land ihrer Wahl niederlassen. Das ist erst nach fünf Jahren mit einem Statuswechsel möglich. Hier liegt einer der Schlüsselpunkte, an denen Solidarität in das Dublin-System eingespeist werden kann: Wenn ein Flüchtling in einem Land anerkannt wird, darf das nicht länger implizieren, dass er dann in diesem Land bleiben muss. Wenn die Erstaufnahmestaaten wüssten, dass es nur um einen temporären Schutz geht, fiele es ihnen sicherlich leichter, die Anerkennungsverfahren im Dienst aller Mitgliedstaaten durchzuführen.

Also ein europäischer Asylstatus?

Ja. In den Verträgen wird zwar der Programmauftrag erteilt, einen europäischen Asylstatus zu definieren. Aber tatsächlich geregelt ist er nicht. Ein weiterer Punkt, den ein solcher europäischer Asylstatus neben der Freizügigkeit im Unionsgebiet berücksichtigen sollte, sind soziale Rechte. Hier haben wir wieder eine merkwürdige Situation: Sozialrechtlich werden anerkannte Flüchtlinge bisweilen schlechter gestellt als Asylbewerber. In Italien beispielsweise gibt es eine Fürsorgepflicht für Asylbewerber kraft europäischen Rechts, aber sobald sie als Flüchtling anerkannt sind, werden die Menschen oft obdachlos.

In Deutschland werden die Lasten nach einem Schlüssel aus Größe und Wirtschaftskraft der Bundesländer verteilt. Daniel Thym hat vorgeschlagen, etwas Entsprechendes auf europäischer Ebene einzuführen. Was halten Sie von der Idee?

Einer solchen Verteilung von Asylbewerbern auf alle EU-Mitgliedstaaten stehe ich eher skeptisch gegenüber. Wie soll das implementiert werden? Ein bürokratischer Verteilungsschlüssel für die Erstaufnahme stößt schon in der Bundesrepublik Deutschland auf praktische Schwierigkeiten. Beim „Königsteiner Schlüssel“, auf dem Daniel Thyms Vorschlag basiert, geht es ja zunächst einmal um den Ort, an dem das Asylverfahren durchgeführt wird. Die Frage, ob der Asylbewerber schutzbedürftig ist oder nicht, sollte tatsächlich so schnell wie möglich und am besten am Ort der Einreise geklärt werden. Letztlich haben alle Beteiligten ein Interesse an einem zügigen Asylverfahren, ohne dass vorher ein langwieriges Umsiedlungsverfahren von Malta nach Estland durchgeführt werden muss.

Für die längerfristige Aufnahme wäre ein solcher Schlüssel dann aber erforderlich?

Das ist ein denkbares Modell, gewissermaßen ein EU-internes Resettlement von anerkannten Flüchtlingen. Mein Favorit ist aber, ganz auf planwirtschaftliche Steuerung zu verzichten und den anerkannten Flüchtlingen Freizügigkeit zu gewähren. Ich würde auf die entlastende Wirkung vertrauen, dass ein relevanter Teil der Flüchtlinge aus den Staaten der Erstaufnahme in die wirtschaftlich stärkeren Regionen weiterzieht, in denen sie Anknüpfungspunkte in Form von Arbeitsplätzen oder ethnischen Gemeinschaften haben. Wenn das politisch nicht machbar ist, wäre in einem zweiten Schritt tatsächlich über einen „Königsteiner Schlüssel“ für Flüchtlinge nachzudenken.

In Ländern wie beispielsweise Griechenland ist aber doch schon das Aufnahmeverfahren eine einzige Katastrophe …

Es gibt erhebliche praktische Probleme, ganz klar. Italien oder Griechenland setzen die Vorgaben des europäischen Rechts nicht oder nicht vollständig um. Ich sehe hier einen Zusammenhang zwischen Effektivität und Solidarität. Wenn die grenznahen Staaten sich in einem lastenteilenden System befänden, das ihre Interessen angemessen berücksichtigt, wäre damit eine wesentlich solidere Grundlage geschaffen, dass das geltende Rechts akkurat implementiert wird. Der hinhaltende Widerstand von Staaten wie Italien, Malta und Griechenland rührt auch daher, dass sie in ein System eingesperrt sind, das erkennbar zu ihrem Nachteil ausgestaltet ist.

Wie ist es denn mit den Menschen, die als Flüchtlinge abgelehnt werden, aber trotzdem nicht ohne weiteres abgeschoben werden können?

Da ist eine weitere Lücke im europäischen Asyl- und Flüchtlingsrecht. Wir haben keine gemeinsamen europäischen Regelungen für Personen, die nicht die Kriterien für internationale Schutzbedürftigkeit aus der Qualifikationsrichtlinie erfüllen, aber zugleich einen Rechtsanspruch darauf haben, nicht abgeschoben zu werden –beispielweise weil sie gesundheitlich dazu nicht in der Lage sind oder es keinen Staat gibt, der zu ihrer Aufnahme verpflichtet ist. Für solche komplementären Schutzmechanismen gibt es keine einheitliche europäische Regelung. Daran müssen wir arbeiten, denn in der Praxis gibt es viele Menschen, die nicht im engeren Sinne schutzbedürftig sind, deren Rückführung aber aus rechtlichen oder praktischen Gründen unmöglich ist.

Also ein eigener europäischer Duldungsstatus?

Es ist wünschenswert, dass diese Personen einen europäisch definierten Status bekommen, der auch bestimmte Freizügigkeitselemente beinhalten könnte. Zur Zeit richtet sich hier alles nach nationalen Regelungen. Manche Staaten, beispielsweise Deutschland, nennen diese prekäre rechtliche Situation „Duldung“. Andere geben den Menschen befristete Aufenthaltstitel, dritte Staaten regeln dieses Niemandsland gar nicht. In einigen Mitgliedstaaten kommt es zu menschenrechtlich hoch problematischen Situationen, hier fallen die Menschen sozusagen ins Loch.

Wie optimistisch sind Sie, dass es in absehbarer Zeit tatsächlich ein solidarischeres Asyl- und Migrationssystem in Europa gibt?

Da bin ich eigentlich ganz zuversichtlich. Wir haben rund eine Dekade der Europäisierung des Flüchtlingsrechts hinter uns und sind eigentlich schon sehr weit gekommen. Wenn wir das Gedankenexperiment wagen, wie die Welt aussähe, wenn jeder EU-Mitgliedstaat für sich allein sein Flüchtlingsrecht organisieren würde, hätten wir eine weitaus problematischere Situation als heute. Dass beispielsweise die Aufnahmestaaten in der EU einheitlichen Pflichten zur Sozialfürsorge während des Asylverfahrens unterworfen sind, bewahrt uns davor, dass Unterbietungswettbewerb zwischen die EU-Mitgliedstaaten entsteht. Es gibt sicher noch viele Lücken. Aber in den vergangenen zehn Jahren ist eine einzelstaatliche Asylpolitik politisch undenkbar geworden. In dem Ziel, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu schaffen, sind sich grundsätzlich alle einig, auch wenn es in der Konkretisierung viele politische Widerstände und Interessenkonflikte gibt.

Werden wir dieses Ziel in den nächsten zwei, drei Jahren erreichen?

Geben Sie mir die nächsten zehn. Dann bin ich optimistisch.

Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis. Transkription und Redaktion: Wiebke Fröhlich


5 Comments

  1. Gast Tue 22 Oct 2013 at 02:36 - Reply

    Der Professor aus Gießen spricht unentwegt von (politischem) “Asyl”. Von Armutsflüchtlingen aus Afrika weiß er nichts. Mit Lampedusa haben seine Ausführungen nichts zu tun.

  2. Alex Tue 22 Oct 2013 at 12:52 - Reply

    Wie sollte denn eine bessere Asylpolitik aussehen? Wir haben in Europa mit die schwerste Wirtschaftskrise nach 1929, wir haben in Südeuropa zweistellige Arbeitslosenzahlen, die Kindersterblichkeit und die Armut steigt, wie sollen die Menschen, die Asyl beantragen versorgt werden und vor allem wo sollen sie arbeiten? Die meisten sind nach unseren Standards geringer qualifiziert und sprechen zumeist kein Deutsch. Und hier sprechen wir nur von den politisch Verfolgten, was ist mit den Menschen, die auf Grund von Armut flüchten? Wir sprechen hier von Millionen Menschen, wo sollen die hin? Und wenn wir einen von ihnen aufnehmen, können wir dann einen anderen das Recht verweigern? Die Leute haben zu Hause keine Zukunft, die Mehrheit hat aber auch in Europa keine Zukunft, wenn wir wirklich was ändern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen dort wo sie leben etwas ändern, wir müssen sie unterstützen, aber nicht mit Krediten, an denen sie auf Grund der Zinsen zugrunde gehen, wir müssen ihnen eine Wahlmöglichkeit geben und wenn sie sich dagegen entscheiden, dann müssen sie halt mit den Konsequenzen leben.

  3. Philipp Tue 22 Oct 2013 at 18:46 - Reply

    Wird es nicht Zeit, dass Asylanträge an allen deutschen Auslandsvertretungen angenommen werden? Mir hat rechtlich noch nie eingeleuchtet, warum dort keine nach Art.1 Abs. 3 GG grundrechtsverpflichtete deutsche Staatsgewalt ausgeübt werden soll.

    Was die Befürchtung millionenfacher Zuwanderung betrifft, wäre ich selbst bei vollständiger Abschaffung der Grenzen nicht überrascht, wenn sie mal wieder völlig unbegründet wäre – es sind schließlich zuletzt auch keine Millionen Griechen oder Bulgaren in dieses kalte und sehr wenig gastfreundliche Land mit seiner komplizierten Sprache gekommen, obwohl die Sorge verängstigter Biodeutscher jeweils ähnlich formuliert wurde…

  4. Alex Tue 22 Oct 2013 at 19:59 - Reply

    Es sollen sich derzeit in Europa (EU 27) zwischen 1,9 und 3,8 Millionen Menschen illegal aufhalten. Deutschland 196.000 – 457.000, England 417.000 – 863.000, weitere große Blöcke stellen, Spanien, Italien und Frankreich.

  5. Zahlenmeister Wed 23 Oct 2013 at 12:27 - Reply

    In Afrika wohnen derzeit 1,0013 Milliarden Menschen. Ich denke, so um die 98% von denen könnten sich gut vorstellen, in Europa zu leben. Lassen Sie uns also schnell die gesetzlichen Grundlagen finden, um denen zügig und unbürokratisch die Einwanderung zu ermöglichen. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern stemmen wir das. Wir haben ja schon ganz andere Probleme gelöst! z.B. äh, ja, weiß ich jetzt auch gerade nicht, aber wir haben schon ganz viele Probleme gelöst!

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