Etatistischer Nachklang. Ernst-Wolfgang Böckenförde und die bundesdeutsche Staatsrechtslehre
Auf der Staatsrechtslehrertagung von 1969 in Bern platzte dem damals 39-jährigen Ernst-Wolfgang Böckenförde buchstäblich der Kragen. Er hatte zuvor über „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit“ referiert und musste sich in der Diskussion von dem Freiburger Kollegen Konrad Hesse sagen lassen, dass er mit zu großer Selbstverständlichkeit die Grenzen des Grundrechts mit Hilfe seiner Staatstheorie begründet habe: „[…] aber, Herr Böckenförde, über die Selbstverständlichkeit einer Staatstheorie kann man natürlich diskutieren. Die entscheidende Frage scheint mir zu sein: Wie wollen Sie das dogmatisch begründen? Kann man eigentlich eine Staatstheorie, in diesem Fall also Ihre Staatstheorie, als Grenze von verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten ansehen? Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort finde.“ Böckenförde erwiderte empört: „[Die Frage von Herrn Hesse] offenbart, glaube ich, tiefergehende methodische Unterschiede […]. Ich meine, daß [das von mir gewählte] Vorgehen gerade dogmatisch sehr konsequent ist. Wir können natürlich streiten, ob die von mir angeführten elementaren letzten Zwecke des Staates die richtigen sind. Aber daß man so verfahren kann und m[eines] E[rachtens] so verfahren muß als dogmatischer Verfassungsjurist, das möchte ich mir nicht gerne abhandeln lassen.“
Böckenförde erntete ähnlich grundlegende Kritik in der Debatte über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Diese Diskussion hatte sich seit Ende der 1960er Jahre intensiviert, nachdem die Studentenbewegung durch radikale Demokratisierungsforderungen und die Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt mit einem umfassenden Demokratisierungsprogramm hervorgetreten waren. In einem Festschriftbeitrag meldete sich Böckenförde 1972 zu Wort. Er argumentierte, dass ein Festhalten an der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aus verfassungsrechtlicher Sicht unverzichtbar sei. Da die Gesellschaft aus sich heraus soziale Ungleichheit hervorbringe und dazu tendiere, sich selbst zu zerstören und totalitär zu werden, sei es notwendig, die politische Entscheidungsfunktion des Staates zu verselbständigen. In einem privaten Brief äußerte sich daraufhin der frühere Professor für Öffentliches Recht und damalige Bundesforschungsminister Horst Ehmke, dass für ihn eine solche „quasi-naturrechtliche Heiligsprechung des Dualismus von Staat und Gesellschaft“ nicht zu akzeptieren sei. Der Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow versuchte sogar nachzuweisen, dass die Trennung von Staat und Gesellschaft selbst in der differenzierten Spielart von Böckenförde im Kern unpolitisch sei und damit „ein Residuum antidemokratischer Potentiale“ darstelle.
Wie sind diese ungewöhnlich scharfen Reaktionen auf Böckenfördes Debattenbeiträge zu erklären? Und wie war er zu seinen Ideen gelangt, die offensichtlich nicht dem Mainstream in der Staatsrechtslehre entsprachen? Ernst-Wolfgang Böckenförde gehörte einer Denkrichtung an, die sich in der Nachkriegszeit um den berühmten und als „Kronjuristen des Dritten Reiches“ angefeindeten Staatsrechtslehrer Carl Schmitt gruppierte, die sogenannte Carl Schmitt-Schule. Böckenförde hatte sich im Jahr 1953 mit einem Brief an Schmitt gewandt, da er von der Lektüre von dessen Verfassungslehre tief beeindruckt war. Sie hatte ihm gleichsam eine neue Welt erschlossen. Aus dieser Kontaktaufnahme entstand eine lebenslange intellektuelle Bindung, die bis zu Schmitts Tod im Jahr 1985 andauern sollte. Darüber hinaus ebnete Schmitt Kontakte zu anderen Mitgliedern seines Kreises. Er sorgte beispielsweise dafür, dass Böckenförde von 1957 an zu den von Ernst Forsthoff – einem älteren, in Heidelberg lehrenden Schüler von Carl Schmitt – alljährlich veranstalteten Ebracher Seminaren eingeladen wurde und dort andere wichtige Vertreter der Schmitt-Schule kennenlernen konnte. So wurde Böckenförde Mitglied eines Netzwerks, dessen Angehörige versuchten, sich intellektuell zu befruchten, sich aber auch beim beruflichen Aufstieg gegenseitig zu unterstützen. Wie eng Böckenförde in der Schmitt-Schule verwurzelt war, zeigt seine zentrale Rolle, die er bei der Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ spielte. Böckenförde übernahm zusammen mit dem gleichaltrigen Roman Schnur, der ebenfalls mit Carl Schmitt in engem Austausch stand, die Redaktionstätigkeit, während der ältere Carl Schmitt-Schüler und Göttinger Professor für Öffentliches Recht Werner Weber, der Verwaltungsrechtler Hans Julius Wolff und der Verfassungshistoriker Gerhard Oestreich als Herausgeber fungierten. Der endgültige Name „Der Staat“ sollte dabei, so wie es der Denkweise von Carl Schmitt entsprach, das Programm der Zeitschrift zum Ausdruck bringen: Sie sollte als eine „Stätte der Staatsbesinnung“ wirken. Es galt, so formulierte es das Geleitwort der ersten Ausgabe im Jahr 1962, die politische Ordnungsform des Staates „als eine der wichtigsten Sicherungen persönlicher und politischer Freiheit zu erkennen“ und zu bewahren. Zudem wollten Schnur und Böckenförde mit dem „Staat“ das Monopol des damals weitgehend konkurrenzlosen „Archiv des öffentlichen Rechts“ brechen, den älteren Mitgliedern der Schmitt-Schule, die aufgrund ihrer NS-Belastung im „Archiv“ nicht publizieren durften, ein alternatives Publikationsorgan zur Verfügung stellen und eine Zeitschrift schaffen, in der allein der wissenschaftliche Anspruch, nicht politischer Konformismus die Auswahl der Manuskripte bestimmte.
Darüber hinaus verband die Schmitt-Schule ein ähnliches Weltbild, das im Wesentlichen auf Carl Schmitts Werk aus den 1920er Jahren zurückging. Böckenförde kommt dabei das Verdienst zu, zentrale Ideen von Schmitt auf liberale Weise weiterentwickelt und auf diese Weise der freiheitlich-pluralistischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes angepasst zu haben. Das Weltbild der Schmitt-Schule war an erster Stelle vom Etatismus geprägt, wie schon der Titel der neuen Zeitschrift deutlich machte. Es ging der Schmitt-Schule also generell um die Bewahrung des Staates als einer substantiellen homogenen Einheit vor Infragestellungen durch die als bedrohlich wahrgenommenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Staat war aus ihrer Sicht der zuverlässigste Freiheitsgarant, und er sollte auch in Zukunft zur souveränen Entscheidung fähig sein. Dies konnte am besten erreicht werden, wenn zwischen Staat und Gesellschaft konsequent unterschieden wurde. Dabei war es speziell für Ernst-Wolfgang Böckenförde charakteristisch, dass er den Staat – so wie es dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts entsprach – primär mit der Exekutive, also mit Regierung und Verwaltung, gleichsetzte, während er politische Parteien und Interessenverbände nur bedingt in den staatlichen Bereich mit einbezog. Darüber hinaus verstand Böckenförde den Staat aber auch im Sinne Hermann Hellers als organsierte Wirk-, Handlungs- und Entscheidungseinheit, und damit auf deutlich konkretere und funktionalere Weise als andere Vertreter der Schmitt-Schule.
An zweiter Stelle war der Denkstil der Schmitt-Schule vom Dezisionismus geprägt. Die Schüler von Carl Schmitt hielten das Denken vom Ausnahmezustand her, das in den politischen Wirren der Weimarer Republik gründete, weiterhin für einen angemessenen Ansatz, um ihn auf das bundesdeutsche Verfassungssystem anzuwenden. Für die älteren Schüler war der Dezisionismus dabei Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Kritik am Grundgesetz: Die neue Verfassung verhindere, dass der Staat in Extremsituationen in der Lage sei, Maßnahmen zu ergreifen, um die politische Einheit zu wahren und den Bürgerkrieg zu verhindern. Auch für den jüngeren Böckenförde waren politische Konflikte und der Ausnahmezustand des Staates – im Gegensatz zum harmonisierenden Zugriff der Mehrheit seiner Fachkollegen – eine zentrale Kategorie des Denkens. Allerdings war für ihn dabei das Grundgesetz als neue Verfassung nicht mehr Hindernis, sondern entscheidendes Hilfsmittel, damit der Staat seiner Aufgabe zur Ordnungswahrung und Friedenssicherung gerecht werden konnte. Schließlich war dieser aus Böckenfördes Sicht dazu berufen, politisch zu agieren und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Folglich war es für Böckenförde eine zentrale Frage, welche Rahmenbedingungen gegeben sein mussten, damit der Staat den Notstand begrenzen konnte, um seine Freiheitlichkeit nicht vollständig einzubüßen. Die bei Schmitt intendierte absolute Entgegensetzung von Normal- und Ausnahmezustand schwächte Böckenförde somit ab. Der Dezisionismus war für die Schmitt-Schule allerdings nicht allein ein Ansatz, für die wissenschaftliche Arbeit. Darüber hinaus war die Tendenz zur Zuspitzung des Denkens auf Extremsituationen fundamentale Lebenshaltung. Damit erklärt sich beispielsweise der konfrontative, zuweilen feindselige Sprachgebrauch in den überlieferten privaten Briefen und das Denken in den Kategorien von Freund und Feind bei der Gründung der Zeitschrift „Der Staat“.
Mit seinen von Carl Schmitt inspirierten Ideen entsprach Ernst-Wolfgang Böckenförde nicht der Mehrheitsmeinung der eigenen Wissenschaftsdisziplin des Öffentlichen Rechts, selbst wenn er selbstverständlich nicht als unkritischer Anhänger von Schmitts Ideen agierte und viele seiner Kollegen seine hellsichtigen kritischen Diagnosen teilten. Die Staatsrechtslehre vollzog während der 1960er und 1970er Jahre eine moderate Verwestlichung des Denkens, indem sie etwa Parlament, politische Parteien und Interessenverbände deutlich positiver bewertete als noch in den 1950er Jahren und diese Institutionen zumindest teilweise in den staatlichen Bereich miteinbezog. Ebenso versuchte die Mehrheit der Staatsrechtslehrer in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht, den Schutzbereich der Grundrechte zu erweitern, um damit auf den expandierenden Wohlfahrtsstaat zu reagieren. Zudem rückten viele vom traditionellen formalen Rechtsstaatsverständnis ab und interpretierten dieses aufgrund seiner Wechselwirkung mit dem Demokratieprinzip politischer als zuvor. Diese Entwicklungen waren von einem Schülerkreis des bekannten Göttinger Verfassungs- und Kirchenrechtlers Rudolf Smend angestoßen worden. Die sogenannte Smend-Schule wollte auf der Grundlage der Integrationslehre ihres Lehrers eine zeitgemäße Verfassungsrechtswissenschaft etablieren, welche dem westlich-pluralistischen Charakter des Grundgesetzes entsprach. Ernst-Wolfgang Böckenförde lehnte diese Entwicklungen im Einklang mit der Schmitt-Schule für sein Fach entschieden ab, da sie ihm die Freiheitlichkeit des Staates infrage zu stellen schienen. Dass er damit eine Minderheitsmeinung vertrat, der auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegenstand, war ihm durchaus bewusst, so dass sich in seinen Texten bis zuletzt immer wieder resignative Anklänge finden.
Während die Mehrheit der Staatsrechtslehrer während der 1960er Jahren sich gegenüber einem westlich-transatlantischen Verfassungsverständnis öffnete, lassen sich bei Böckenförde entsprechende Tendenzen nicht beobachten. Eine Öffnung gegenüber liberalen angelsächsischen Ideen, wie etwa der anglo-amerikanischen Pluralismustheorie oder englischsprachigen Konzepten wie government oder civil society, findet sich bei ihm nicht. Stattdessen blieb Böckenförde überwiegend einem Eigenbewusstsein verhaftet, das in der deutschen Tradition verwurzelt war. Bei ihm erfolgte eine Liberalisierung des Denkens – und dabei auch von zentralen Konzepten der Schmitt-Schule – vor allem durch Auseinandersetzung mit wichtigen Theoretikern der deutschen Tradition, darunter Hermann Heller, Lorenz von Stein und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der Staat blieb dabei Ausgangspunkt und Endpunkt seines Denkens; die Sehnsucht nach Konsens und einer relativen politischen Homogenität in Staat und Gesellschaft durchzieht sein gesamtes Werk. Sein Orientierungspunkt blieb zudem der national geschlossene Verfassungsstaat; die Verwirklichung des Rechtsstaates erscheint bei ihm primär als ein nationalstaatliches Projekt. Tiefgreifende Wandlungsprozesse, die er erlebte, wie die Europäisierung, die Internationalisierung oder die Globalisierung klammerte er hingegen weitgehend aus. Insofern haftete seinen Ideen, wie die anfangs erwähnten Stellungnahmen deutlich machen, stets etwas Unzeitgemäßes an. Auf neuere außerrechtliche Entwicklungen reagierte er wissenschaftlich auf eher konservative und traditionsorientierte Weise.
Mit Ernst-Wolfgang Böckenfördes Tod rückt noch einmal eine etatistische Hochphase des deutschen Öffentlichen Rechts ins Bewusstsein, die allmählich im Kontext der tiefgreifenden Veränderung traditioneller Staatlichkeit an ein Ende gelangt. Böckenfördes staatsrechtliches Werk ist als ein bedeutender Nachklang auf diese Hochphase zu lesen.
Die These, dass “die Mehrheit der Staatsrechtslehrer während der 1960er Jahren sich gegenüber einem westlich-transatlantischen Verfassungsverständnis öffnete”, hält meiner Ansicht nach einer Überprüfung anhand der damaligen Veröffentlichungen nicht stand. Gerade im “roten Jahrzehnt” 1967-1977 (Gerd Koenen) lässt sich eher eine gewisse Verhärtung bei zuvor liberaleren Stimmen im bundesdeutschen Öffentlichen Recht beobachten. Die Staatsrechtslehrerdebatte von 1978 zu „Verfassungstreue und Schutz der Verfassung“ zeigte sogar ziemlich genau das Gegenteil einer überwiegend „westlichen“ (im Sinne von verfassungsstaatlichen / liberal-demokratischen) Positionierung der Zunft.
Auffälliger Weise vertrat bei dem für die 1970er Jahre ja nicht unwichtigen Thema “Radikalenerlass” ausgerechnet der hier durchgehend als traditionell-etatistisch charakterisierte Böckenförde – im Gegensatz zu anderen Vertretern der vermeintlich einheitlichen Schmitt-Schule – ein liberales Verfassungsverständnis und verteidigte das Prinzip gesetzlicher Freiheit gegen eine behördliche Überprüfung der Gesinnung auf „Verfassungsfeindlichkeit“.
Auch beim Thema über(verfassungs)gesetzlicher Staatsnotstand, das etwa im Nachgang zur “Lauschaffäre Traube” Ende der 1970er Jahre diskutiert wurde, verteidigte Böckenförde Grundprinzipien der Verfassungsstaatlichkeit gegen die nicht gerade kleine “Not kennt kein Gebot”-Fraktion in der Staatsrechtslehre (und im BGH).