Ethnische Bedenken
Seehofers Rassismus-Studie – das Wie ist entscheidend
Rassismus-Studien bei der Polizei hatte Horst Seehofer zunächst strikt abgelehnt. Doch dann kündigte er am 20.09.2020 in der „Bild am Sonntag“ eine breit angelegte Rassismus-Studie für die gesamte Gesellschaft an. Über die Gründe für Seehofers Meinungsänderung ist bisher ebenso wenig bekannt wie über den genauen Umfang und die Methodik der geplanten Studie. Genau das ist aber das Entscheidende – die Methodik. Eine weitere Studie zur Verbreitung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in der deutschen Gesamtbevölkerung hätte keinen Mehrwert. Was es braucht, ist eine Studie, die Auskunft darüber gibt, wie die von Rassismus Betroffenen selbst ihre Situation bewerten. Bisher wurde nur über sie befragt, anstatt sie direkt zu befragen. Wollte man dies tun, wäre das mit großem Aufwand verbunden, denn bisher fehlen repräsentative statistische Informationen zur Verbreitung von Diskriminierungserfahrungen aufgrund der ethnischen Herkunft. Die Erhebung dieser Daten ist aber gerade in Deutschland ein sensibles Thema, wirft ethische Bedenken auf und bewegt sich in einem engen rechtlichen Rahmen.
Die Datenlage in den USA
In den USA z.B. scheinen diesbezüglich weder ethische noch rechtliche Bedenken zu bestehen. Dort ist es gang und gäbe, dass offizielle aber auch nicht offizielle Formulare Angaben zu „ethnicity“ und „race“ abfragen. Teilweise sind diese Angaben freiwillig, wie beim Antrag für eine Sozialversicherungskarte, teilweise sind sie obligatorisch, wie etwa bei dem von der US-Verfassung seit 1790 vorgesehenen, alle 10 Jahre stattfindenden US-Zensus. So ist es möglich, genaue Informationen zur ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zu ermitteln.
Mit Daten zur ethnischen Herkunft werden in den USA darüber hinaus diverse Studien vorgenommen. Diese ergeben z.B., dass afroamerikanische Schüler im Durchschnitt in der Schule schlechter abschneiden als ihre weißen Mitschüler – ein Resultat sozioökonomischer Benachteiligung und Ungleichbehandlung durch die Lehrkräfte – aber auch, dass Schwarze Schüler im Vergleich zu ihren weißen Mitschülern für dieselben Verfehlungen stärker sanktioniert werden. Studien zeigen strukturellen Rassismus auch in der US-Strafjustiz, wenn Schwarze Täter für dieselben Taten ein höheres Strafmaß erhalten. Struktureller Rassismus ist in den USA anhand entsprechender Daten belegbar, in Deutschland ist das nicht der Fall.
Die Datenlage in Deutschland
Eine Kategorisierung, wie sie in den USA vorgenommen wird, verursacht womöglich bei vielen Deutschen – egal welcher ethnischen Herkunft – ein mulmiges Gefühl. Will man aber strukturellen Rassismus eingehend untersuchen, kommt man um diese Einteilung nicht herum.
Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit besteht in Deutschland große Zurückhaltung, wenn es darum geht, die Bevölkerung nach ethnischer Zugehörigkeit zu kategorisieren. Die Vereinten Nationen und die Europäische Agentur für Grundrechte haben die Bundesrepublik aber bereits mehrfach angemahnt, entsprechende Daten zu übermitteln. Denn aktuell kommt Deutschland, wie viele andere europäische Länder auch, seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen, etwa aus dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (ICERD), nicht ausreichend nach. Der UN-Fachausschuss zur Anti-Rassismus-Konvention (CERD) „[…] empfiehlt dem Vertragsstaat, […] eine umfassendere Analyse durchzuführen und Methoden zu entwickeln, um einen Überblick über die Zusammensetzung seiner Bevölkerung zu erhalten“.
In Deutschland ist man mit der Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft jedoch sehr zurückhaltend. Sie werden entweder gänzlich ausgespart oder es wird lediglich eine Annäherung versucht.
Die polizeiliche Kriminalstatistik etwa unterscheidet lediglich nach der Staatsangehörigkeit zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen, wobei ein eventueller Migrationshintergrund außer Acht bleibt. Von Rassismus sind vor allem Menschen betroffen, die als „fremd“ oder „nicht weiß“ wahrgenommen werden. Laut der Bundesregierung sind People of Color, jüdische Menschen, als Muslime wahrgenommene Menschen, Sinti und Roma und Schwarze Menschen besonders von Rassismus betroffene Gruppen. Allein mit den Kategorien „deutsch“ und „nichtdeutsch“ erhält man jedoch keine aussagekräftigen Daten über rassistische Diskriminierung, denn es gibt Deutsche, die nicht weiß sind und Weiße, die nicht deutsch sind.
Etwas konkreter sind sozialwissenschaftliche Befragungen, die den Migrationshintergrund der befragten Personen erfassen. Allerdings ist dieser zum Zweck der Diskriminierungsmessung kein geeigneter Ersatz für die Abfrage der ethnischen Herkunft. Die aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2019 ergeben, dass 74 % der deutschen Bevölkerung keinen und 26 % einen Migrationshintergrund haben. Von den 26 % mit Migrationshintergrund sind 13,6 % Deutsche und 12,4 % Ausländer. Diese Daten lassen jedoch keine Rückschlüsse darüber zu, wie hoch der Anteil der in Deutschland lebenden Menschen ist, der von Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft betroffen ist.
Die Expertise besteht – die Umsetzung steht aus
Mit diesem Thema haben sich bereits Expertinnen befasst: Anne-Luise Baumann, Vera Egenberger und Linda Supik haben 2018 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Expertise erstellt, in der sie bezüglich der „Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen Wiederholungsbefragungen“ eine Bestandsaufnahme vornehmen und Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. Sie gehen darin u.a. detailliert auf die Frage ein, ob und inwieweit Daten zur ethnischen Herkunft erhoben werden sollen. Sie sehen in diesem Bereich Handlungsbedarf und machen konkrete Umsetzungsvorschläge.
Zunächst stellen sie fest, dass in den bisherigen Befragungen, anstelle der direkten Erfassung der ethnischen Herkunft, sogenannte Proxy-Informationen zum Migrationshintergrund erhoben werden: Staatsangehörigkeit (der Eltern, teilweise auch der Großeltern), Geburtsland (der Eltern), Religion und (im Haushalt überwiegend gesprochene) Sprache. Diese Angaben können dann für eine annäherungsweise Bestimmung der ethnischen Herkunft herangezogen werden. Allerdings raten Baumann, Egenberger und Supik von der generierten Variable „Migrationshintergrund“ ab: „Sie ist kein valides Messkonzept zur Identifikation von Personen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind.“ Stattdessen empfehlen die Expertinnen, die ethnische Herkunft anhand der subjektiven Selbstauskunft sowie der selbst wahrgenommenen Fremdzuschreibung zu erfassen. Sie nennen außerdem konkrete Beispiele dafür, wie entsprechende Fragebögen gestaltet werden können.
Datenschutzrechtliche Erwägungen
Bei der Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft spielt auch das Datenschutzrecht eine wichtige Rolle, das in einem Spannungsverhältnis zum Diskriminierungsschutz steht (S. 29): Das Datenschutzrecht soll den Einzelnen vor unkontrollierter Verbreitung seiner persönlichen und intimen Daten schützen – andererseits sind genau diese Daten dringend notwendig, um den Diskriminierungsverboten des Völker- und Europarechts, des Grundgesetzes, der Landesverfassungen, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und der zahlreichen speziellen Gesetze zur Wirksamkeit zu verhelfen.
Art. 9 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) untersagt die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen unter anderem die rassische und ethnische Herkunft einer natürlichen Person hervorgeht. Allerdings sieht Art. 9 Abs. 2 Ausnahmetatbestände vor. In diesem Fall sind insbesondere die Regelungen in Abs. 2 lit. a) und lit. j) relevant. Ersterer regelt eine Ausnahme im Fall einer wirksamen Einwilligung der betroffenen Person in die Datenverarbeitung. Letzterer lässt eine Ausnahme zu, wenn die Datenverarbeitung auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, die in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gemäß Art. 89 Abs. 1 DSGVO erforderlich ist. Als Rechtsgrundlage im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. j) ist das Mikrozensusgesetz (MZG) zu sehen, das in § 13 Abs. 1 eine Auskunftspflicht (mit Ausnahmen in § 13 Abs. 7) vorsieht, u.a. in Bezug auf den Migrationshintergrund (§ 6 Abs. 1 Nr. 4).
Das Datenschutzrecht schützt das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Rechtsgut kann jedoch für legitime Zwecke eingeschränkt werden. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Art. 9 Abs. 2 lit. j) DSGVO speziell normiert ist. Dass Daten zu wissenschaftlichen oder für statistische Zwecke unter bestimmten Voraussetzungen erhoben werden dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mit dem Volkszählungsurteil entschieden (BVerfGE 65, 1). Allerdings müssten bei Daten zur ethnischen Herkunft aufgrund ihres intimen Charakters bestimmte einschränkende Maßnahmen beachtet werden. Alexander Tischbirek nennt im Rahmen der Expertise von Baumann, Egenberger und Supik folgende: Die Freiwilligkeit der Auskunft; die Möglichkeit zur Selbstkategorisierung als milderes Mittel gegenüber Fremdzuschreibungen; die Möglichkeit der Befragten, weitere eigene Gruppenzugehörigkeiten definieren zu können, um gegebenenfalls einen Katalog möglicher Antworten ergänzen zu können; eine Pseudonymisierung, oder besser, eine vollständige Anonymisierung der Daten; eine Aufklärung der Befragten hinsichtlich des Datenschutzes und des Sinn und Zwecks der Erhebung gerade dieser Daten; eine frühzeitige Einbindung von Interessenvertretungen der von Rassismus betroffenen Gruppen schon bei der Konzeption der Fragen.
Alternativen zur Reproduktion des Bekannten
Konkret umgesetzt werden könnte die Erfassung der ethnischen Herkunft beispielsweise – so schlagen es Baumann, Egenberger und Supik vor – im Rahmen des jährlich stattfindenden Mikrozensus, einer repräsentativen Mehrzweckstichprobe und mit der Befragung von ca. 1% der Bevölkerung in Deutschland die größte Erhebung. Dabei wäre allerdings zu beachten, dass die Beantwortung der Fragen zur ethnischen Herkunft aus datenschutzrechtlichen und ethischen Gründen von der Auskunftspflicht ausgenommen würde.
In Deutschland Daten zur ethnischen Herkunft zu erheben, ist vor dem Hintergrund des Missbrauchs im NS-Regime zum Zwecke des Völkermords natürlich ethisch alles andere als unproblematisch.
Ein erster Schritt in Richtung der Ermittlung von Daten zur ethnischen Herkunft wurde mit dem kürzlich abgeschlossenen Afrozensus gemacht, einer Online-Befragung des Vereins Each One Teach One (EOTO) und der Organisation Citizens For Europe (CFE), in dem Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen dazu angehalten wurden, ihre Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven mitzuteilen. Laut Angaben des Afrozensus leben in Deutschland über eine Million Menschen afrikanischer Herkunft, von denen jedoch nur mehrere tausend an der Onlinebefragung teilgenommen haben. Darin kann ein sinnvoller Einstieg in das Thema Ermittlung von Daten zur ethnischen Herkunft gesehen werden. Dennoch sollte es nicht ausschließlich von Rassismus betroffenen Gruppen überlassen werden, entsprechende Daten zu erheben. Denn dabei besteht die Gefahr, dass aufgrund einer zu geringen Zahl von Befragten und uneinheitlicher Methoden die Aussagekraft dieser Studien gegebenenfalls infrage gestellt und sie von Entscheidungsträgern unzureichend beachtet werden.
Würde Horst Seehofer im Rahmen seiner angekündigten gesamtgesellschaftlichen Studie tatsächlich erwägen, Daten zur ethnischen Herkunft und der damit verbundenen Diskriminierungserfahrung zu erheben, würde er in Deutschland in einem äußerst sensiblen Bereich Neuland betreten. Und sei es zunächst nur durch eine repräsentative Befragung, ob die Erhebung von Daten zur ethnischen Herkunft von einer Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen unterstützt oder abgelehnt wird. Was es allerdings nicht braucht, ist die Reproduktion von Ergebnissen, die bereits bekannt sind.
Vielen Dank für Ihren Beitrag, Frau Soll.
In diesem Beitrag wird noch ein mal deutlich, dass wir auch und vor allem im deutschen Kontext mehr über Rasse (und ethnische Herkunft) als ein soziales Konstrukt reden müssen statt Rasse zu verdrängen. Bedauerlicherweise fehlt es im Beitrag an einer klaren Vorstellung von Rasse. Damit lässt die Autorin die Chance ungenutzt, sich mit diesem sehr wichtigen Thema der Datenerhebung an der Diskussion zu Rasse teilzunehmen. Überhaupt lässt sich fragen, ob es gewinnbringend sein kann, bei der Bekämpfung von Rassismus auf das zentrale Merkmal der Rasse im Antidiskriminierungsrecht zu verzichten. Mit anderen Worten ist eine Auseinandersetzung mit dem Rechtsbegriff der Rasse erst recht mit diesem Thema geboten.
Fragwürdig scheint vor diesem Hintergrund die Forderung nach Daten “zur ethnischen Herkunft”, um Rassismus zu messen sowie die Klassifizierung von “afrikanischer Herkunft” als “ethnische Herkunft”. In der Literatur ist unbestritten, dass Schwarz keine ethnische Identität, sondern eine rassische (politische) Identität ist. Genauso ist weiß keine ethnische, sondern eine rassische Bezeichnung.