26 May 2017

EuG-Urteil zur Europäischen Bürgerinitiative: Gut für Bürgerbeteiligung, zu spät für “Stop TTIP”

Am 10. Mai 2017 hat das Europäische Gericht (EuG) eine Entscheidung zur Europäischen Bürgerinitiative (EBI) getroffen, die Grundsatzcharakter hat. Die EBI darf nicht mit einer Volksinitiative verwechselt werden, daher drängt sich in diesem Fall die Nutzung des Akronyms zur Unterscheidung auf. Sie ist ein kupiertes Instrument direkter Demokratie: Sie ermöglicht es Unionsbürgerinnen und -bürgern, die Europäische Kommission aufzufordern einen Rechtsetzungsvorschlag einzubringen. Hintergrund ist das sog. Initiativmonopol der Kommission in der EU. Nur sie kann eine Initiative zur Rechtsetzung einbringen, weshalb sie auch als Motor der Integration bezeichnet wird. Die eigentlichen Gesetzgebungsorgane, der Rat und das Europäische Parlament (EP), können das Gesetzgebungsverfahren nicht selbst initiieren. Immerhin ist ihnen das Recht zuerkannt worden, die Kommission – rechtlich unverbindlich – zu einer Initiative aufzufordern. Und eben ein solches Aufforderungsrecht ist mit der EBI im Lissabonner Vertrag auch den Unionsbürgerinnen und –bürgern an die Hand gegeben worden. Doch gilt auch hier: Die Kommission ist inhaltlich nicht gebunden und kann die Befolgung der EBI ablehnen. Entscheidend wird damit die politische Wirkung einer EBI.

Dieses kupierte direkt-demokratische Instrument orientiert sich an Vorbildern im italienischen und österreichischen Recht. Es wurde in den Lissabonner Vertrag aufgenommen, obwohl man in Österreich damit eigentlich ernüchternde Erfahrungen gemacht hatte. Nachdem eine Reihe von solchen Initiativen vom österreichischen Parlament nicht aufgegriffen worden war, erlosch das Interesse daran merklich.

Dessen ungeachtet war die Einführung der EBI in den Vertragsverhandlungen heftig umstritten gewesen, und zwar zwischen den EU-Organen. Während das EP als Geburtshelferin und Patin agierte, forderte die Kommission eine enge Begrenzung und hohe Voraussetzungen für eine EBI. So kam es zu dem relativ hohen Quorum von einer Million Unionsbürgerinnen und -bürgern in Art. 11 Abs. 4 EUV, die gemäß der Umsetzungsverordnung Nr. 211/2011 aus mindestens ¼ der Mitgliedstaaten stammen müssen. In der Bewertung ist das hohe Quorum in seiner Wirkung allerdings ambivalent. Einerseits ist es relativ schwer, eine EBI erfolgreich durchzuführen, andererseits steigt im Erfolgsfall deren politische Bedeutung.

Das zeigte die erste erfolgreiche EBI mit dem Titel „Right2Water“. Sie richtete sich gegen Privatisierungspläne der Wasserversorgung, die in der Kommission bestanden. Interessanterweise geschah dies in einer Zeit, in der man in Deutschland bereits über eine Rekommunalisierung zuvor privatisierter Wasserversorgungsdienstleistungen nachdachte. Als die Initiatoren ihre erfolgreiche EBI der Kommission präsentierten, sagte diese, dass sie nie vorgehabt hätte, die Wasserversorgung zu privatisieren. Seitdem sind keine entsprechenden Pläne der Kommission mehr publik gemacht worden. Für den unbefangenen Beobachter musste sich dies als ein politischer Erfolg der EBI darstellen.

Die kurze Geschichte der EBI seit 2009 weist diese primär als ein Instrument der Kritik an bestimmten Entwicklungen in der  EU-Politik, und damit an der Kommission als Motor der Integration, aus. Auch die jetzt entschiedene Rs. T-754/14 reiht sich in diese Historie ein. Wieder ging es um Kritik an Rechtsetzungsvorhaben der Kommission und zwar um die Verhandlungen und den Abschluss der internationalen Wirtschaftsabkommen CETA mit Kanada und TTIP mit den USA. Dazu sollte die EBI mit dem Titel „Stop TTIP“ 2014 noch während der Verhandlungsphasen bei der Kommission registriert werden. Mit der Registrierung wird gemäß Verordnung Nr. 211/2011 die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben von der Kommission überprüft, bevor die Initiatoren mit der Stimmensammlung beginnen können. In diesem Fall bestand eine technisch-juristische Besonderheit. Die EBI zielte nicht auf einen Rechtsetzungsvorschlag der Kommission, sondern die Kommission sollte dem Rat empfehlen, das Verhandlungsmandat (der Kommission) für TTIP und CETA aufzuheben und beide Abkommen nicht abzuschließen.

Die Kommission verweigerte die Registrierung zum einen mit der Begründung, dass ein Beschluss des Rates über die Aufnahme von Verhandlungen kein Rechtsakt (genauer: kein Rechtsetzungsakt) nach der Verordnung sei. Zum anderen sei die EBI nur in Form einer positiven Aufforderung zulässig, nicht aber als eine Aufforderung zum Nichterlass (Untätigkeit) oder zu einem (positiven) Beschluss, einen Rechtsakt nicht zu erlassen. Die Kommission vertrat damit die Ansicht, dass die EBI eng auf die Rechtsetzung in der EU begrenzt sei und dass sie inhaltlich immer „konstruktiv“ sein müsse. Es ist in der Regel politisch schwieriger, ausreichend Stimmen für einen positiven Antrag zu erhalten als für einen, der sich in der Ablehnung eines Kommissionsentwurfs erschöpft.

Das EuG wies in seinem Urteil beide Argumente der Kommission zurück. Ausschlaggebend war die demokratische Bedeutung der EBI, die das Gericht aus deren Aufnahme in Art. 11 EUV folgerte, der im Abschnitt über die demokratischen Grundsätze der EU im EU-Vertrag steht. Das Gericht hätte ergänzend auf Art. 10 Abs. 3 EUV verwiesen werden können, wonach alle Unionsbürgerinnen und -bürger das Recht haben, am demokratischen Leben teilzunehmen. Nachdem das EuG zunächst hervorhob, dass die EBI nicht formal auf ein Unterlassen ausgerichtet sei und sie auch nicht die Zuständigkeit der EU in Frage stelle, folgerte es unter Rückgriff auf die demokratische Funktion eine weite Auslegung. Alle Rechtsakte, die sich auf die Unionsordnung auswirkten, würden erfasst. Diese müssten nicht zwingend Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten, sondern könnten auch das Verhältnis zwischen zwei Organen betreffen und vorbereitender Natur sein. Anderenfalls würde den Unionsbürgern die Möglichkeit genommen, während internationaler Vertragsverhandlungen die Aufnahme von Verhandlungen über einen neuen internationalen Vertrag mit Hilfe der EBI vorzuschlagen.

Ferner sei es nicht ausgeschlossen, mit der EBI auch einen Rechtsakt zu verhindern, wenn dieser wie die betreffenden Wirtschaftsabkommen die Rechtsordnung in der Union ändern würde. Das Gericht sah des Weiteren keinen Grund, einer geplanten EBI aufzuerlegen, den Abschluss einer internationalen Übereinkunft abzuwarten, „um anschließend nur deren Zweckmäßigkeit anfechten zu können“. Deshalb liege auch keine unzulässige Einmischung in ein Rechtsetzungsverfahren oder ein Verstoß gegen das institutionelle Gleichgewicht vor.

Im Ergebnis ist das Urteil zu begrüßen. Zum einen stärkt es mit einem überzeugenden Rekurs auf das Demokratieprinzip die Bedeutung der EBI und sichert eine weite Auslegung. Es entspricht dem demokratischen Grundsatz, keine Meinung zu privilegieren, wenn die EBI in allen Situationen Anwendung finden kann, die für die Rechtsordnung der Union relevant sind. Ferner wird eine ausreichend frühe Anwendung einer EBI ermöglicht, die bei internationalen Vertragsverhandlungen eine Einflussnahme noch in diesem Stadium gestattet. Dies kommt dem zunehmenden Bedürfnis in Europa entgegen, umfassende und tief gehende Handels- und Wirtschaftsabkommen in transparenterer Weise zu verhandeln. Während vor 20 Jahren noch der allgemeine Nutzen solcher Handelsabkommen für die Bevölkerung kaum in Zweifel gezogen worden war, erwarten immer mehr Wählerinnen und Wähler, dass die konkreten Vor- und Nachteile benannt und nachvollziehbar gegeneinander abgewogen werden.

Das Urteil kann man inhaltlich im Zusammenhang mit dem Gutachten des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zum Handelsabkommen zwischen der EU und Singapur sehen. In Letzterem ist zwar die ausschließliche Kompetenz der EU für viele Politikbereiche bestätigt worden, aber gerade für die Vereinbarung einer Schiedsgerichtsbarkeit wird eine geteilte Zuständigkeit angenommen, die allen nationalen Parlamenten in der EU eine Veto-Position beschert. Damit wird der Abschluss umfassender Wirtschaftsabkommen nicht ausgeschlossen, aber das Bedürfnis nach mehr Transparenz und demokratischer Diskussion wird größer werden.

Allerdings hat die EBI „Stop TTIP“ die Zeit für ihre größte politische Wirkung, insbesondere als das wallonische Regionalparlament 2016 die Zustimmung zu CETA herauszögerte, verpasst. Die Initiatoren hatten wohlwissend einstweiligen Rechtsschutz gegen die Verweigerung der Registrierung der EBI beantragt, doch war dem das EuG im Mai 2016 nicht nachgekommen. Zur Begründung hatte das EuG damals angeführt, dass es bei einer Stattgabe des Antrags auf Registrierung der EBI die Hauptsache vorweggenommen hätte, ja sogar weiter gegangen wäre, weil die Kommission die Registrierung mit neuen Argumenten hätte verweigern können. Auch hätten die Initiatoren von der Möglichkeit eines beschleunigten Verfahrens Gebrauch machen können. So zutreffend diese Hinweise sind, verbleibt nach dem kurzen und klaren Urteil in der Hauptsache doch ein Unbehagen im Hinblick auf den einstweiligen Rechtsschutz. Denn zum einen hätte auch eine erneute Weigerung sofort wieder angegriffen werden können. Zum anderen kann in Ausnahmefällen, wenn ein Antrag offensichtlich begründet ist, auch eine Vorwegnahme der Hauptsache statthaft sein. 2017 hat das EuG jedenfalls anerkannt, dass man den Initiatoren die Einflussmöglichkeit während der Verhandlungen nicht nehmen dürfe. Das ist aber mit der Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes 2016 geschehen.


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