06 March 2012

EU-Recht setzt Ungarns Isolation Grenzen (aber sehr, sehr weite)

EU-Mitgliedsstaaten müssen sich nicht vertragen. Aber ihr Streit darf nicht so weit gehen, dass sie nicht mehr miteinander reden.

Zu diesem Schluss kommt Generalanwalt Yves Bot in seinen heute veröffentlichten Schlussanträgen in einem Fall, der sich – jawohl – um Ungarn dreht.

Genauer gesagt dreht er sich um den ehemaligen Staatspräsidenten László Sólyom: Dieser wollte 2009 in dem slovakischen Städtchen Komárno, in dem viele ethnische Ungarn wohnen, eine Rede halten, und zwar gegen den heftigen Protest der slovakischen Staatsführung. In der Slovakei gibt es eine große magyarische Minderheit, und in Ungarn sehen dies große Teile der Bevölkerung mit den heftigsten irredentistischen Schmerzen, und so lag es aus slovakischer Sicht nicht fern, die Pläne des Präsidenten als panmagyaristischen Angriff auf die eigene territoriale Integrität zu werten.

Jedenfalls erließ die Slovakei kurzerhand ein Einreiseverbot gegen das ungarische Staatsoberhaupt. Das ist für sich genommen schon ein ziemlich beispielloser Vorgang in der EU. Kaum weniger ungewöhnlich war die Reaktion Ungarns, die ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Nachbarstaat beantragten – was es in der Geschichte der EU erst fünfmal gab, wie der EuGH in seiner Pressemitteilung nicht hervorzuheben versäumt.

Die Slovakei hatte sich bei dem Einreiseverbot auf berufen, dass die Freizügigkeitsrichtlinie Ausnahmen bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit erlaube. Das findet Generalanwalt Bot übertrieben: Wenn ein Staatsoberhaupt in offizieller Funktion ins Ausland reist, dann macht er nicht von seiner Freizügigkeit als Unionsbürger Gebrauch, sondern dann ist das ein völkerrechtlicher Vorgang und damit nichts, was die EU etwas anginge.

Das, so Bot weiter, hat aber seine Grenzen:

Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit im Bereich der Diplomatie, wie jede bei ihnen verbliebene Zuständigkeit, nicht in einer Weise ausüben, die zu einem dauerhaften Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten führen könnte. Ein solcher Bruch wäre in der Tat nicht mit dem Integrationsprozess vereinbar, der nach dem Wortlaut der Präambel des EU-Vertrags auf die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ gerichtet ist, und würde ein Hindernis für die Verwirklichung der wesentlichen Ziele der Union, darunter das der Förderung des Friedens, darstellen.

Aber diese Grenze ist erst erreicht, wenn es um den Abbruch der diplomatischen Beziehungen geht. Das verstoße gegen die

von ihnen eingegangene(…) Verpflichtung, gutnachbarliche Beziehungen zu unterhalten, die ein wesentlicher Punkt ihrer Entscheidung, der Union beizutreten, ist, (und) fällt unter das Unionsrecht, nicht zuletzt deshalb, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV alle Maßnahmen unterlassen müssen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.

Das sei hier aber nicht passiert, und deshalb, so Bot, könne von einer Vertragsverletzung keine Rede sein.

Der Vorgang liegt zeitlich vor der Machtergreifung der Orbán-Partei Fidesz, die kam erst im April 2010 zu ihrer Zweidrittelmehrheit. Sólyom gehört zwar auch zum konservativen Lager und war 2005 auf Betreiben der Fidesz zum Präsidenten gewählt worden, aber Orbán war er viel zu unbequem. Ruhm hat er sich hauptsächlich als Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts erworben. Er ist tatsächlich einer der Schöpfer der (bis 31.12.2011 geltenden) Verfassungsordnung des demokratischen Ungarn.

Die Leute, die jetzt in Budapest das Sagen haben, sind ganz andere Kaliber. Um so mehr kann man sich vorstellen, was passieren kann, wenn einer dieser Herrschaften auf die Idee verfällt, den slovakischen Nachbarn mal zu zeigen, wo der großungarische Hammer hängt. Insofern sind Bots Warnungen vielleicht doch nicht nur von akademischer Bedeutung.

Foto: Hoszi, Flickr Creative Commons


4 Comments

  1. Coccodrillo Wed 7 Mar 2012 at 11:57 - Reply

    So wenig ich mit der Fidesz (oder gar der derzeitigen ungarischen Regierung) sympathisiere: Das Argument, dass ein Staatsoberhaupt nicht dieselben Freizügigkeitsrechte wie ein gewöhnlicher Unionsbürger besäße, kommt mir etwas verwunderlich vor. Bots ganze Begründung fällt mit dem Absatz 54, derzufolge ein Staatsoberhaupt aufgrund seiner “Eigenschaft als oberstes Organ des Staates, das diesen auf internationaler Ebene vertritt, personifiziert und verpflichtet […] im Rahmen eines öffentlichen Besuchs […] sich niemals ganz und gar als Privatmann bewegen kann, da der Staat, der ihn empfängt, vor allem das Gemeinwesen aufnimmt, das er vertritt”. Aber gilt denn die Unionsbürgerschaft nur für Privatleute? Entgibt man sich durch seine Wahl zum nationalen Staatsoberhaupt der garantierten Bürgerrechte?

    Wenn Bot in Abs. 51 schreibt, dass “die Verträge zur Frage der Einreise von Staatsoberhäuptern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten schweigen” und daraus schließt, dass es sich deshalb “um eine bei den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit handelt”, verdreht er die Beweislast. Die Verträge billigen zunächst einmal allen Unionsbürgern die Freizügigkeit zu, und wenn Staatsoberhäupter davon ausgenommen sein sollten, dann müsste das explizit erwähnt werden. Dass die Verträge dazu schweigen, bedeutet eben, dass es eine solche Ausnahme nicht gibt.

    Insofern ist zu hoffen, dass der Gerichtshof sich über den Schlussantrag seines Generalanwalts hinwegsetzt. Großmagyarischer Nationalismus ist keine schöne Sache, aber Reiseverbote sind nicht die richtige Antwort darauf.

  2. Martin Holterman Wed 7 Mar 2012 at 15:53 - Reply

    @Coccodrillo: On the contrary, I thought it was refreshing to see that someone in Luxembourg remembered the whole story about conferred powers, and it is indeed quite correct that EU Law has nothing (well, very little) to say about Member States’ diplomacy. However, I did not read AG Bot’s opinion as applying to the private travel of Heads of State, like the Dutch Queen’s visits to Austria in the Winter or here to Florence in the Summer. Such private travel cannot reasonably be interpreted as an act of diplomacy on the part of either the Dutch or the receiving government, and as such I would consider such travel to be covered by the normal free movement rules.

    P.S. Good to see that I wasn’t the only one who was fascinated by par. 58 of the opinion: http://martinned.blogspot.com/2012/03/this-week-and-last-week-in-luxembourg.html

  3. Mischi Fri 16 Mar 2012 at 01:02 - Reply

    Eine Machtergreifung fand in Deutschland statt vor über 70 Jahren durch Adolf Hitler und der NSDAP. Orban wurde demokratisch gewählt und zwar mit einer 2/3 Mehrheit. Das ist eine demokratische Legitimation wovon die deutschen Regierungen nur träumen können.Regieungen

  4. […] als die Schlussanträge von Generalanwalt Yves Bot enthält das Urteil keine Zeile zu dem Problem, dass es doch unter EU-Mitgliedsstaaten eigentlich […]

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