20 February 2014

Die Europäische Staatsanwaltschaft – Eine Gefahr für den fair trial-Grundsatz?

Die Europäische Kommission hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, eine Europäische Staatsanwaltschaft einzurichten, „damit unionsweit Betrug am europäischen Steuerzahler besser strafrechtlich verfolgt werden kann“. Dieser Vorschlag beruht auf Art. 86 AEUV, der es der EU ausdrücklich ermöglicht, eine solche Institution zu erschaffen. Nach seinem Abs. 2 ist die Europäische Staatsanwaltschaft „zuständig für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben“ – also wenn beispielsweise europäische Landwirte sich mit falschen Angaben mehr Agrarsubventionen erschwindeln, als ihnen nach EU-Recht zustehen.

Die Kommission hofft, dass die Europäische Staatsanwaltschaft bereits Anfang 2015 ihre Arbeit aufnehmen kann. Ein Europäischer Staatsanwalt und seine vier Stellvertreter sollen dann koordinieren, dass so genannte Abgeordnete Europäische Staatsanwälte in den Mitgliedsstaaten mutmaßliche Straftäter nach nationalem Recht verfolgen und gegebenenfalls Anklage vor den nationalen Gerichten erheben (Art. 6 VO-V). Die nationalen Gerichte sind es dann grundsätzlich auch, die das Handeln der Europäischen Staatsanwaltschaft gerichtlich kontrollieren (vgl. Art. 36 VO-V).

Die Europäische Staatsanwaltschaft wird die Lücke ausfüllen, die derzeit zwischen den nationalen Strafrechtssystemen und den Unionsorganen, die nicht strafrechtlich ermitteln dürfen, besteht. Es ist zu hoffen, dass sie es erleichtern wird, die Unterschlagung von EU-Geldern effektiver aufzudecken und zu ahnden.

Der fair trial-Grundsatz

Allerdings birgt der Vorschlag der Kommission für eine Europäische Staatsanwaltschaft Gefahren für den fair trial-Grundsatz. Dieser Grundsatz besagt, dass ein Strafverfahren für die Beteiligten insgesamt fair sein muss. Er folgt – auf deutscher Ebene – aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs. 3 GG) i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie – auf europäischer Ebene – ausdrücklich aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta.

Der fair trial-Grundsatz beinhaltet unter anderem, dass dem Beschuldigten rechtliches Gehör gewährt wird, dass ihm eine effektive Verteidigung möglich ist und dass zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem ein Zustand der „Waffengleichheit“ bestehen muss. Auch ist es am fair trial-Grundsatz zu messen, wenn ein Gericht Beweismittel verwerten will, die die Ermittlungsbehörden rechtswidrig erlangt haben.

„Summierungseffekt“ und unzureichender Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren

Mehrere Regelungen, die die Kommission für die Europäische Staatsanwaltschaft vorschlägt, gefährden diesen fair trial-Grundsatz. Dies gilt bereits im Ermittlungsverfahren: Art. 26 VO-V listet in seinem Abs. 1 eine Reihe von Ermittlungsmaßnahmen auf, die die Europäische Staatsanwaltschaft beantragen bzw. anordnen kann; hinzu kommen weitere in dem jeweiligen Mitgliedsstaat zulässige Ermittlungsmaßnahmen (Abs. 2 S. 3).

Zwar müssen diese Ermittlungsmaßnahmen verhältnismäßig sein (Abs. 3) und teilweise – bei besonders einschneidenden Maßnahmen wie der Wohnungsdurchsuchung – von den innerstaatlichen Justizbehörden genehmigt werden (Abs. 4). Allerdings verschlechtert dies, jedenfalls aus deutscher Sicht, das Schutzniveau für Beschuldigte. Das Verfahren und die Voraussetzungen der Ermittlungsmaßnahmen bestimmen sich nämlich nach nationalem Recht. So erfordert beispielsweise eine „Justizbehörden-Genehmigung“ auch nicht unbedingt, dass – wie im deutschen Recht – ein Richter die Maßnahme anordnen muss. Es mangelt hier also, wie auch die Bundesrechtsanwaltskammer beklagt, an einem einheitlichen Katalog von Beschuldigtenrechten, die dem der Ermittlungsmaßnahmen gegenüberstehen würden. Dies ist allerdings ein Problem, das nicht speziell die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft betrifft, sondern allgemein aus dem europäischen Prinzip der gegenseitigen Anerkennung folgt. Der Anwendungsbereich dieses Prinzips würde durch die Verfolgungstätigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft allerdings erweitert.

Ein Spezifikum der Europäischen Staatsanwaltschaft entsteht dadurch, dass sie unterschiedliche Ermittlungsmaßnahmen der verschiedenen Mitgliedsstaaten koordiniert kombinieren kann. Sie hat somit weitergehende Rechte als eine mitgliedsstaatliche Staatsanwaltschaft nach einer nationalen Ordnung allein. Die Europäische Staatsanwaltschaft kann also Rosinenpickerei betreiben und die effektivsten mitgliedsstaatlichen Ermittlungsmaßnahmen mit den niedrigsten Eingriffsvoraussetzungen summieren – mit der Gefahr, dass das Schutzniveau dieser summierten Maßnahmen noch unter das niedrigste Schutzniveau eines einzelnen Mitgliedsstaats sinkt. In dieser Konstellation ist es also besonders wichtig, dass die Europäische Staatsanwaltschaft den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt, um nicht in einer Art race to the bottom die Rechte des Beschuldigten zu verletzten. Hier besteht allerdings ein Defizit effektiven Rechtsschutzes, worauf die Berliner Strafrechtsprofessorin Anette Grünewald hinweist: Im Vorverfahren kann die zuständige Justizbehörde bzw. der Ermittlungsrichter jeweils nur über die Ermittlungsmaßnahmen im eigenen Mitgliedsstaat befinden. Dadurch droht aber, dass der „Summierungseffekt“ durch die kombinierten Ermittlungsmaßnahmen von den Gerichten gerade nicht überprüft wird. Damit wäre der fair trial-Grundsatz – in seiner Ausprägung des rechtlichen Gehörs – verletzt.

Zweifelhafte Überprüfung von Beweiserhebungen

Auch die Regelung, ob und wie die Gerichte im Hauptverfahren Beweismittel verwerten können, erscheint problematisch. Nach Art. 30 VO-V sind Beweismittel, die die Europäische Staatsanwaltschaft beibringt, „ohne Validierung oder ein sonstiges rechtliches Verfahren zulässig – auch wenn das innerstaatliche Recht des Mitgliedstaats, in dem das Gericht seinen Sitz hat, andere Vorschriften für die Erhebung oder Beibringung dieser Beweismittel enthält“.  Eine Einschränkung gibt es dabei: Das gilt nur, wenn sich die Zulassung der Beweismittel „nach Auffassung des Gerichts nicht negativ auf die Fairness des Verfahrens oder die Verteidigungsrechte auswirken würde, wie sie in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.“

Aus dem fair trial-Grundsatz folgt, dass das Gericht die Möglichkeit haben muss zu überprüfen, ob die Beweiserhebung allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen hat. Die Regelung in Art. 30 VO-V lässt diese Prüfmöglichkeit nur als Ausnahmefall zu. Auch wenn dieser Ausnahmefall den fair trial-Grundsatz ausdrücklich einschließt, so bleibt ohne konkretere gerichtliche Prüfmöglichkeiten der Beschuldigten nicht hinreichend geschützt. Denn so besteht die Gefahr, dass die Gerichte vom Grundsatz ausgehen, alle Beweise unbesehen verwerten zu können, und die Beweiserhebung nur noch in seltenen Ausnahmefällen überprüfen.

Fehlende „Waffengleichheit“

Das Hauptproblem für die Beschuldigtenrechte besteht darin, dass zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Beschuldigten keine „Waffengleichheit“ herrscht. Denn zunächst kann die Europäische Staatsanwaltschaft in allen Mitgliedsstaaten Ermittlungsmaßnahmen anordnen (Art. 26 VO-V, vgl. oben). Vor allem aber kann sie sich aussuchen, in welchem von mehreren möglichen Mitgliedsstaaten sie das Hauptsacheverfahren durchführen möchte – etwa dem des Tat- oder dem des Aufenthaltsorts (Art. 27 Abs. 4 VO-V). Sie wird hierbei die Tendenz haben, den Mitgliedsstaat zu wählen, der die effizienteste Strafverfolgung verspricht (sog. forum shopping). Dieser große Ermessenspielraum der Europäischen Staatsanwaltschaft wird u.a. von der European Criminal Policy Initiative als Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot auf der Rechtsfolgenseite angesehen.

Mit diesen weitreichenden Möglichkeiten der Europäischen Staatsanwaltschaft korrespondieren keine ähnlich weitgehenden Verteidigungsrechte des Beschuldigten. Vielmehr wird es einem – meist nur mit der nationalen Rechtslage vertrauten – Strafverteidiger weder im Ermittlungs- noch im Hauptverfahren möglich sein, die verschiedenen strafprozessualen Möglichkeiten der unterschiedlichen Prozessordnungen der Mitgliedsstaaten auszuschöpfen. Gerade wenn lange unsicher ist, in welchem Mitgliedsstaat Anklage erhoben wird, können Beschuldigte sich nur schwer verteidigen.

Verbesserungsvorschläge für die Verordnung

Was bedeutet dies nun für eine zukünftige Europäische Staatsanwaltschaft? Aus der Sicht des fair trial-Gesichtspunktes sicher nicht, dass sie nicht eingerichtet werden sollte. Denn es ist möglich, die Verordnung an einigen Stellen zu verbessern und dadurch das Ziel der effektiven Strafverfolgung mit dem fair trial-Grundsatz unter einen Hut zu bringen. So wäre z.B. ein einheitlicher, klarer Katalog von Beschuldigtenrechten wünschenswert. Im Ermittlungsverfahren sollten die nationalen Gerichte neben den eigenen nationalen Ermittlungsmaßnahmen auch den besagten „Summierungseffekt“ mitprüfen können, um effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Verordnung sollte zudem konkreter regeln, wann das Hauptsachegericht Beweiserhebungen aus anderen Mitgliedsstaaten überprüfen und eine Verwertung ablehnen kann.

Und vor allem sollte eine Institution geschaffen werden, die – ähnlich wie das Office of Public Counsel for the Defence am Internationalen Strafgerichtshof – die Verteidigung der Beschuldigten unterstützt und somit eine „Waffengleichheit“ mit der Europäischen Staatsanwaltschaft herstellt. Vorschläge hierfür sind bereits vorhanden und reichen von einem sog. Eurodefensor hin zu einer Ombudsperson (eine gute Übersicht findet sich hier). Letztlich laufen diese Vorschläge darauf hinaus, die Strafverfahrensregelungen weiter zu harmonisieren und einer europäischen Strafverfahrensordnung anzunähern. Das könnte allerdings dem Subsidiaritätsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 EUV) widersprechen, zumal mehrere Mitgliedsstaaten insoweit ohnehin schon Bedenken haben, was die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft an sich betrifft. Wenn die EU sich mit ihren Plänen durchsetzt, wird sie aber nicht daran vorbeikommen, den fair trial-Grundsatz zu berücksichtigen und nicht nur die Effektivität der Strafverfolgung, sondern auch die Beschuldigtenrechte zu stärken.

Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung ins rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.


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  1. Toggenburg Thu 20 Feb 2014 at 21:18 - Reply

    Siehe dazu das gutachten der eu grundrechteagentur.

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