Europarecht sticht Grundgesetz, und Karlsruhe prüft Europarecht
Wir sind alle noch ganz erschöpft von dem Eurorettungs-Urteil und den vielen Rätselfragen, die es uns zu lösen aufgibt. Da kommt die nächste Senatsentscheidung aus Karlsruhe zum Thema Europa hereingeflattert, die zwar politisch nicht so brisant ist, aber dafür juristisch ziemlich interessant.
Es geht um einen urheberrechtlichen Fall, in dem eine italienische Designerfirma, die in Lizenz Le-Corbusier-Möbel herstellt (s. Bild), eine andere Firma verklagt hat, die Nachbildungen solcher Möbel in einer Lounge aufgestellt hatte. Das ist irgendwie urheberrechtlich problematisch, was mich aber gar nicht weiter intessiert, weil der Punkt an der Entscheidung ganz woanders liegt.
Europarecht sticht Grundgesetz
Erstens geht es um die Frage, ob die italienische Firma in Deutschland überhaupt wegen Verletzung ihres Eigentumsgrundrechts klagen kann. Nach Art. 19 III GG gelten die Grundrechte des Grundgesetzes
auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.
Das heißt im Gegenschluss: für ausländische nicht.
So hatte dies das BVerfG bisher auch gesehen. Jetzt aber hat sich der Erste Senat entschlossen, das Grundgesetz europarechtskonform auszulegen und Art. 19 III, an dessen klarem Wortlaut kein Weg vorbei führt, eine direkt auf das Europarecht gestützte “Anwendungserweiterung” angedeihen zu lassen.
Ein italienisches Unternehmen abblitzen zu lassen, nur weil es aus Italien ist, wäre eine eklatant europarechtswidrige Diskriminierung. Eigentlich müsste man, wenn der Wortlaut wie hier keine europarechtskonforme Auslegung zulässt, sagen: Tja, das ist dann halt so. Soll der verfassungsändernde Gesetzgeber diesen Skandal beheben, ob mit oder ohne Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH.
Das tut der Erste Senat aber nicht, sondern stellt auf den Anwendungsvorrang des europarechtlichen Diskriminierungsverbots ab, der mit der Einführung des Art. 23 I 3 GG immerhin vom verfassungsändernden Gesetzgeber gebilligt worden sei. Das heißt, dass die diskriminierende Einschränkung auf Inländer, die Art. 19 III GG vornimmt, unangewendet bleiben muss. Ergo Anwendungserweiterung.
Leuchtet mir methodisch ein, und politisch sowieso.
Gab es das schon mal, dass das BVerfG wegen Europarecht eine ausdrückliche Vorgabe des Grundgesetzes killt?
Europarechtliche Teil-Superrevision
Der zweite interessante Punkt an der Entscheidung betrifft die Frage, ob das BVerfG angebliche Grundrechtsverletzungen, die auf eine Entscheidung des europäischen Gesetzgebers beruhen, überhaupt prüft. 2007 hatte der Erste Senat im Emissionshandels-Urteil festgehalten, dass das BVerfG seine Jurisdiktion gemäß Solange II auch dann nicht ausübt, wenn es um deutsche Gesetze geht, die EU-Richtlinien umsetzen und dabei keinen eigenen Regelungsspielraum ausfüllen.
Das lässt die Frage offen, was passiert, wenn z.B. der BGH sagt, hier gibt es keinen Umsetzungsspielraum, und sich gleichzeitig weigert, die Sache dem EuGH vorzulegen.
Dann ist die logische Folge, dass es überhaupt kein Gericht mehr gibt, das die Grundrechtsjurisdiktion des BGH überwacht. Das kann nicht sein in der Solange-II-Logik: In diesem Fall überprüft das BVerfG dann eben, ob das Fachgericht zu Recht den Umsetzungsspielraum des Gesetzgebers bei Null angesetzt hat oder nicht.
Also eine Art europarechtliche Teil-Superrevision, oder wie?
Wäre da nicht doch die sauberere Lösung, endlich dem Recht auf den gesetzlichen Richter Zähne zu verleihen und dafür zu sorgen, dass die Fachgerichte ihrer Pflicht nachkommen, dem EuGH vorzulegen?
Foto: Edoardo Costa, Flickr Creative Commons
abgesehen von der Art.19-Problematik gibt es ja noch die “Deutschengrundrechte”, die dürften ja dann eigentlich auch für EU-Ausländer gelten, folgt man der BVerfG-Linie, oder?
absolut. Ist das nicht überhaupt eh schon so? Würde mich fast wundern, wenn das Problem zB bei der Berufsfreiheit nicht schon mal aufgetaucht wäre…
“So hatte dies das BVerfG bisher auch gesehen. Jetzt aber hat sich der Erste Senat entschlossen, das Grundgesetz europarechtskonform auszulegen und Art. 19 III, an dessen klarem Wortlaut kein Weg vorbei führt, eine direkt auf das Europarecht gestützte “Anwendungserweiterung” angedeihen zu lassen.”
Dazu ist aber das Verfassungsgericht nicht legitimiert, denn jedwede Änderung der Grundrechte sind nach Art. 79 Abs. 3 nicht erlaubt.
@Andreas Frick: Wie kommen Sie denn auf die Idee? In 79 III steht “die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze” (Hervorhebung von mir). Jurastudium erstes Semester.