Evidenzbasierte Politik ist ein Menschenrecht
Die Swiss National COVID-19 Science Task Force auf dem Prüfstand
Die Akademie der Wissenschaften Schweiz hat diesen Monat eine umfassende Studie zur Rolle der Wissenschaft bei der politischen Reaktion der Schweiz auf die COVID-19-Pandemie publiziert. Darin wird festgehalten, dass es für die wissenschaftliche Politikberatung im Allgemeinen keine rechtliche Grundlage in der schweizerischen Gesetzgebung gibt. Ungeachtet blieb bei der Studie und den Angriffen durch die Politik, dass die einzelnen Mitglieder der Task Force auch in der Kommunikation ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse von der Wissenschaftsfreiheit geschützt sind und, dass die Bevölkerung ein Recht auf evidenzbasierte Politik hat.
Weltweit erlebt die Wissenschaft seit dem Ausbruch von COVID-19 eine Sternstunde. Damit einher ging auch eine Verschiebung der Rolle der Wissenschaftler*innen hin zu politischen Akteur*innen. Am 1. April 2020 wurde die Swiss National COVID-19 Science Task Force gegründet, die historisch einzigartig ist. Durch die regelmässigen Pressekonferenzen und Publikationen von Policy Briefs hat die Task Force mittlerweile nationale Bekanntheit erlangt. Die Wissenschaftler*innen bewegen sich nicht mehr in der Abgeschiedenheit und Unberührtheit der «Elfenbeintürme», sondern stehen nunmehr den politischen Entscheidungsträger*innen sichtbar beratend zur Seite.
Die prominente Rolle des wissenschaftlichen Beratungsgremiums gefällt nicht allen Politiker*innen, weshalb die Task Force in Bezug auf ihre fehlende gesetzliche Grundlage und Kommunikation vermehrt Angriffen ausgesetzt ist. So forderte dieses Jahr ein Nationalrat der schweizerischen Volkspartei die sofortige Auflösung der Task Force. Dies war nicht das erste Mal, dass in der Wirtschaftskommission des Nationalrats gegen die Task Force geschossen wurde. Bereits im März dieses Jahres wollte die Kommission die Task Force an das politische Gängelband nehmen. Die Kommission hatte damals verlangt, dass sich die Task Force nicht mehr öffentlich zu den Corona-Maßnahmen äussern solle. Sie wünschte, dass die Kommunikation an die Bevölkerung nur noch über den Bundesrat oder das Parlament erfolgen soll. Dieser «Maulkorb»-Antrag wurde jedoch im Parlament abgelehnt.
Wissenschaftliche Kommunikation als Teil der Wissenschaftsfreiheit
Die Mitglieder der Task Force, allesamt Wissenschaftler*innen, sind von der in der Bundesverfassung (Art. 20) und in UNO-Pakt I (Art. 15 Abs. 3) verankerten Wissenschaftsfreiheit geschützt. Darüber hinaus ist die Wissenschaftsfreiheit auch als Teil der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 19 Abs. 2 UNO-Pakt II und Art. 10 EMRK) garantiert. Die Wissenschaftsfreiheit schützt unter anderem die wissenschaftliche Kommunikation. Somit steht es den Wissenschaftler*innen frei, wann und wie sie ihre Forschungsergebnisse kommunizieren möchten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lässt Einschränkungen in die wissenschaftliche Kommunikation nur unter äusserst strengen Voraussetzungen zu. Dies ist für die Wissenschaft, welche zentral auf nationaler und internationaler Zusammenarbeit aufbaut, von äusserster Wichtigkeit. Wissenschaftliche Äusserungen einer systematischen Präventivkontrolle zu unterwerfen, würde den Kerngehalt der Wissenschaftsfreiheit verletzen. Ein solcher Eingriff, wie es die Kommission anfänglich mit dem «Maulkorb»-Antrag angedacht hatte, ist folglich mit der grund- und menschenrechtlich verankerten Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar.
Ein Recht auf evidenzbasierte Politik
Des Weiteren ist das im UNO-Pakt I verankerte Recht, an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts teilzuhaben (kurz: Right to Science, Art. 15), vom Staat zu gewährleisten. Zum Kerngehalt des Right to Science gehört nach dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auch das Recht der Bevölkerung auf eine evidenzbasierte Politik. Dies bedeutet, dass die staatlichen Maßnahmen mit den besten verfügbaren und allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen sind. Der Ausbruch von COVID-19 hat aufgezeigt, wie sehr die Politik auf die Wissenschaft angewiesen ist, um möglichst schnell und nachhaltig aus dieser Krise herauszufinden. Denn gerade in Krisenzeiten wie der COVID-19-Pandemie bietet die Wissenschaft Halt und Orientierung. Es ist folglich begrüßenswert, dass der Bundesrat die Swiss National COVID-19 Science Task Force mandatiert hat, die Bundes- und Kantonsbehörden bei der Bewältigung der Pandemie beratend zu unterstützen.
Das Recht auf evidenzbasierte Politik verlangt auch, dass die Politik mit der Wissenschaft in einem Dialog steht. Dass gewisse Politiker*innen die Task Force als Gegnerin ansehen, gründet auf einem falschen Politikverständnis. Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, der Politik fertige Konzepte zu liefern. Die Wissenschaft untersucht mögliche Risiken und erarbeitet zukunftsorientierte Handlungsmöglichkeiten. Damit bringt sie eine neue Qualität in die politischen Debatten, welche es zu erhalten gilt. Der Entscheid darüber, welche Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung ergriffen werden, obliegt jedoch weiterhin der Politik. Dies ist auch korrekt, denn die politischen Entscheidungsträger*innen stehen letztendlich gegenüber der Bevölkerung in der Verantwortung. Die Konsequenzen einer unwissenschaftlichen Pandemiepolitik muss die gesamte Bevölkerung tragen. Deshalb müssen die Politiker*innen transparent aufzeigen, inwiefern sie den wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen haben und weshalb sie in ihrer Entscheidfindung von den wissenschaftlichen Empfehlungen abgewichen sind. Es ist aus diesem Grunde essenziell, dass den Vertreter*innen der Wissenschaft ein mediales Sprachrohr zur Verfügung gestellt wird und ein direkter Austausch mit der Politik erfolgt. Damit wird auch die Gefahr einer Rosinenpickerei und Erfindung von wissenschaftlichen Daten und Quellen gemäßigt. Denn Politiker*innen sollen nicht lediglich auf diejenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse abstellen dürfen, welche ihrer politischen Agenda dienen.
Wissenschaft als unerlässliche Ressource für die Politik
Krisen wie die COVID-19-Pandemie bringen viel Unsicherheit mit sich. Genau in solchen Zeiten gilt es, die Wissenschaft als Leuchtturm zu sehen, welche Licht ins Dunkel bringt. Die rund siebzig führenden Wissenschaftler*innen in der Task Force stellen ihre Expertise allesamt ehrenamtlich und unentgeltlich zur Verfügung. Damit erweisen sie dem Bund und der Bevölkerung einen unschätzbaren Dienst. In Anbetracht dessen gilt es, Angriffe auf die Legitimität der Task Force und Kommunikation der Task Force Mitglieder zu unterlassen und Kritik sachlich zu evaluieren – insbesondere um drohende Verletzungen von Grund- und Menschenrechten zu verhindern. Anstatt undifferenzierte Kritik zu üben, sollte der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik gestärkt werden. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass genau hier angesetzt werden muss, um Krisensituationen effizient und nachhaltig bewältigen zu können. Gerade in der Schweiz – wo auf höchstem Niveau geforscht wird – sollte die Wissenschaft als Ressource wertgeschätzt und nicht mundtot gemacht werden.