Ex Oriente Lux?
Österreich hat gewählt. Wie erwartet hat Sebastian Kurz die Wahl gewonnen. Die Konservativen sind nun die stärkste Partei. Einer Wiederauflage ihrer Koalition mit der Freiheitlichen Partei steht nichts im Wege.
Ein Architekt dieser ersten Koalition, Andreas Khol, hat die Ursache für den Erfolg von Kurz gelassen ausgesprochen. Er habe davon profitiert, dass er Asyl, Zuwanderung und den radikalen Islam zu den zentralen Themen seines Wahlkampfs gemacht hätte.
Das ist wenigstens die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte verschweigt Khol wohl aus Höflichkeit. Kurz hat davon profitiert, dass er die Themen der FPÖ zu den Themen der bürgerlichen Mitte gemacht hat.
Geholfen hat dabei gewiss, dass er als Integrations- und Außenminister wohl in der ersten Reihe seinen Mann gestanden hat. Das hat ihm Glaubwürdigkeit verliehen.
Aber mindestens ebenso wichtig war es, dass er nicht so unfein wirkt wie die Vertreter der FPÖ, denen es oftmals an einer proletarischen Aura nicht mangelt. Kurz ist adrett. Er ist jung und tüchtig. Seine Lernkurve ist erstaunlich. Er spricht artig. Er ist der geborene Wunschschwiegersohn. Deswegen eignet er sich so vorzüglich zum politischen Verpackungskünstler. Was, wenn es in der Lederjacke verzapft wird, vulgär anmuten mag, klingt vernünftig und klug, wenn es der junge Mann im dunkelblauen Anzug präsentiert.
Kurz ermöglicht es allen Bürgerlichen, zu ihrer Angst vor Zuwanderung und Islamisierung zu stehen. Er normalisiert diese Angst. Er normalisiert sie, indem er sie mit einer „christlich-sozialen“ Haltung vereinbar macht.
Kurz hat dieses Attribut reaktiviert. Er präsentiert sich als „christlich-sozial“.
Natürlich weiß niemand mehr, wofür die Christlichsozialen gestanden sind. Schon am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war das alles andere als klar gewesen. Mittlerweile ist der Begriff „christlich-sozial“ inhaltsleer. Die Worthülse lebt vom fragwürdigen Glanz vergangener Zeiten (Achtung: Dr. Karl Lueger!). „Christlich-sozial“ ist ein schönes Wort, mit dem sich hässliche Dinge behübschen lassen.
Thomas Bernhard, Österreichs großer Übertreiber, apostrophierte seine geliebte Heimat wiederholt als „katholisch-nationalsozialistisch“. Das war natürlich böse und hat viele verärgert. Aber vielleicht hatte er in einem Punkt recht: In Österreich werden schlimme politische Inhalte salonfähig, sobald sie als katholisch verkauft werden.
Wohin wird Österreich nun gehen? Auch hier hat uns Khol schon die Richtung gewiesen: gen Osten! Schon träumt man von der Wiederauferstehung Großösterreichs. Zu den Träumern gehört neben Khol auch der FPÖ-Chef Karl-Heinz Strache. Beide setzen sich für Österreichs Beitritt zur Visegrád-Gruppe ein. Selbstverständlich müsste Österreich als primus inter pares die führende Rolle spielen.
Für Leute wie Khol und Strache ist es Österreich bestimmt, das erste osteuropäische Land zu sein.
Wenn man von der darin enthaltenen Zumutung an unsere Freunde nördlich und östlich von uns einmal absieht, ist das gleich doppelt fragwürdig:
Zum einen verkennt diese Vision die Diskontinuität der geschichtlichen Entwicklung. Österreich hat keine kommunistische Vergangenheit. Es fehlt die typische Mischung von Ostalgie und Turbokapitalismus. Auch muss Österreich nicht die Löhne niedrig halten, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu beweisen. Die Jugend läuft aus Österreich nicht weg, weil sie im eigenen Land keine Zukunft für sich sieht. Die Österreicher und die Osteuropäer sitzen nicht im selben Boot.
Zum anderen leiden unsere osteuropäischen Freunde unter den Langzeitfolgen ihrer unglücklichen Geschichte. Von Lenin bis Fukuyama und Europa kamen die großen Verheißungen von außen. Aber am Ende gab es entweder Unterdrückung oder den langsamen Zusammenbruch. Unsere osteuropäischen Freunde sehen sich nicht zu Unrecht in der Rolle von Opfern der geschichtlichen Entwicklung. Opfer erwarten Hilfe. Reziprozität kann ihnen nicht genug sein. Deswegen sind sie nicht immer damit zufrieden, gleichberechtigte Partner zu sein. Aus dem entstehenden Frust mag sich erklären, warum Osteuropäer zu den ersten gehören, die das Handtuch werfen, wenn die Europäische Union in Schwierigkeiten steckt. Wie Krastev denkwürdig ausführt, sind sie daran gewöhnt, großartige Projekte scheitern zu sehen: die Habsburger Monarchie, den Kommunismus, die Europäische Union: It’s always the same; it’s all the same.
Österreich als Hegemon im osteuropäischen Raum, das bedeutet: Herrschaft über Menschen, die an ihren Opferstatus gewöhnt sind und allen großen politischen Entwürfen ironisierend misstrauen. Dazu kommen das Verfolgen nationaler Sonderwege in der EU und die Feier einer vom Liberalismus gereinigten Demokratie. Das nenne ich doch eine Vision!
Wie reagieren darauf die vormals progressiven Kräfte?
Als das entscheidende Trennende im Verhältnis zu den Konservativen gilt in Österreich nunmehr in der Tat die Stellung zur Europäischen Union. Die Konservativen wissen, was Sie von der EU nicht wollen, nämlich mehr als den freien Markt und den Intergouvernmentalismus zum Schutz der Außengrenzen oder der Verlagerung aller Asylverfahren auf den afrikanischen Kontinent.
Demgegenüber sind die progressiven Kräfte „für Europa“. Brav.
Aber wofür sind sie eigentlich? Sind sie wirklich für Junckers Ausdehnung der Eurozone auf alle Mitgliedstaaten? Das wäre wohl absurd. Leider wissen weder die Grünen noch die Sozialdemokraten wofür sie sind, wenn sie für Europa sind, außer, versteht sich, für den Frieden, regulierte international business relations, belgische Schokolade und französischen Wein.
Deswegen ist Kurz Wahlsieg besonders bedrückend. Der Umbenennung des rechten Programms in ein christlich-soziales stehen progressive Kräfte gegenüber, die weder die Kraft haben, sich irgendwo hin zu bewegen, noch wissen, wohin sie eigentlich gehen wollten, wenn sie diese Kraft hätten.
Die Grüne Partei ist bei der Wahl zerbröselt worden. Wahrscheinlich kommt sie nicht einmal ins Parlament. Für diese Niederlage gibt es – abgesehen von Querelen und Spaltungen – gar keine so schwer verständlichen Gründe.
Die Grünen stehen für den Klimaschutz und ein an den Neoliberalismus adaptiertes linkes Projekt. Die neoliberale Linke ist für den sozialen Fortschritt. Allerdings will sie ihn nicht durch Umverteilung erreichen. Ihr gefällt das Umbenennen besser. Das kostet wenig. Auch ist die Umgestaltung von Institutionen ihre Sache nicht. Sie verspricht sich Verbesserung durch das Einschließen derjenigen, die bislang noch nicht dazugehört haben. Das Umbenennen nervt, und das Inkludieren schafft Platzprobleme und intensiveren Wettbewerb. Warum sollte das jemand wollen, der sich bedrängt fühlt und mit Abstiegsängsten kämpft? Wer von knirschenden Sozialsystemen abhängig ist, muss die Willkommenskultur der wohlbestallten Bioliberalen als Vernachlässigung empfinden.
Damit sind wir bei den Sozialdemokraten. Von ihnen erhielten wir nach der Wahl die denkbar schlechteste Reaktion: Es hätte ja noch viel Schlimmer kommen können; man habe den Stimmenanteil immerhin gehalten. Man habe sich nicht unterkriegen lassen.
Mit Christian Kern als Spitzenkandidaten hätte diese Wahl zur Wiedergeburt der Partei werden können. Aber das ist schief gegangen, nicht nur wegen der Vorwürfe des „dirty campaining“, sondern weil die Sozialdemokratie ihren Josephinismus nur mehr schwer an die Wählerinnen und Wähler bringt.
Alles Gute kommt von oben. Seit Kreisky war dem so. Der Sohn reicher Eltern war Sozialdemokrat aus Überzeugung. Er hat sich der Arbeiterbewegung angenommen, ohne ihr zu entstammen. Seine sozialistische Einstellung war glaubwürdig. Er war Sozialist aus Einsicht, wenn auch nicht aus Not.
Auch nach Kreisky ist in der Sozialdemokratie das Gute immer von oben gekommen, nämlich von Machern. Sie haben unten begonnen: Vranitzky, Klima und Kern haben beeindruckende Karrieren gemacht, bevor sie politisch hervortraten. Aber man wusste und weiß bei ihnen nie, ob sie primär Karrieristen oder Sozialisten sind. Ein Macher, der eine große politische Idee bloß zum Lebensabschnittspartner wählt, ist nicht wahnsinnig glaubwürdig. Kern will für 10 Jahre politisch führen und danach Kinderbücher schreiben. Wo da wohl die wahre Leidenschaft liegt?
Die österreichische Sozialdemokratie wurde in der ersten Republik von Intellektuellen angeführt. Das funktioniert vielleicht nicht mehr. Aber diesen Leuten war eine gewisse Integrität, eine asketische Hingabe an die Sache inhärent.
Der Sozialdemokratie fehlen solche Persönlichkeiten. Mit Leuten dieses Schlags ließe sich zu den größeren Ideen zurückkehren. Das wäre auch hoch an der Zeit.
Eine politische Partei, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat, sollte die erste sein, die sich den Transformationen der Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung annimmt. Dabei handelt es sich um keine Kleinigkeit. Mit der Digitalisierung wird es in unserer Gesellschaft endgültig zu wenig Arbeit geben. Historisch hat sich die Arbeit schwerpunktmäßig von der Landwirtschaft über die Industrie zu den Dienstleistungen verlagert. Diese Kette der Substituierungen ist mit der Digitalisierung ausgeschöpft. Wir werden immer weniger Dienstleistungen brauchen, die von Menschen erbracht werden.
Damit stellen sich Herausforderungen, die kein Staat allein bewältigen kann. Sie erfordern wenigstens eine gesamteuropäische Aktion. Der Zweck und die Notwendigkeit Europas werden mit einem Mal klar. Dass eine vernünftige Antwort auf diese Entwicklung auch eine Kulturrevolution einschließen muss, liegt auf der Hand.
Auf diese Entwicklung haben sich die österreichischen Parteien noch nicht eingestellt. Vielleicht ist die österreichische Wahl daher bloß ein Gruß, den uns die Vergangenheit in einem Moment entbietet, wo sie von der Zukunft bereits verschlungen wird.
Demokratie könnte so wunderbar sein, wenn es keine Wähler gäbe. Könnte man die Wahlen eigentlich nicht durch Juristen ersetzen, die die Verfassung auslegen? Dann bräuchte man sich nicht mit den Zumutungen herumschlagen, die einem das Wahlvolk in seiner Uneinsichtigkeit immer wieder präsentiert.