26 February 2014

Franken für Deutschland? Zeit für ein einheitliches EU-Wahlrecht!

Das Europäische Parlament erstellt einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen.

So steht es in Art. 223 AEUV. Dieser Entwurf muss sodann von Rat (einstimmig) und Parlament (mit Mitgliedermehrheit) angenommen und in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Bis heute ist dies nicht geschehen, obwohl es diese Vorschrift in dieser bzw. ähnlicher Form bereits seit Jahrzehnten gibt.

Wenn man dem heutigen Urteil des zweiten Senats etwas eindeutig Positives abgewinnen will, dann dies: Es legt erneut offen, dass  es ein verfassungspolitisch und unionsverfassungsrechtlich unhaltbarer Zustand ist, daß es immer noch keine Einigung über ein unionsweites Wahlrecht für das Europäische Parlament gibt. Man kann durchaus von Politikversagen sprechen.

Alles andere ist offensichtlich nicht ganz so einfach, was sich nicht nur im Abstimmungsergebnis des Senats (5 : 3) und im bemerkenswerten Sondervotum des Richters Müller zeigt, sondern auch darin, daß es in einem kurzen Zeitraum von etwas über zwei Jahren zwei Entscheidungen gibt – auch die erste mit einem argumentationsschweren Sondervotum der seinerzeitigen Richter Di Fabio und Mellinghoff. Die verfassungsrechtlichen Güter der Wahlrechtsgleichheit einerseits und der Funktionsfähigkeit von Parlamenten andererseits muß man bewerten und gewichten, und das Bundesverfassungsgericht hat nun zum zweiten Mal die Waage in Richtung Erfolgswertgleichheit gesenkt.

Wenn Entscheidungen knapp ausfallen, ist es nicht besonders schwer, das Gegenteil zu vertreten. Die überzeugenden Argumente aus den drei Sondervoten müssen nicht wiederholt werden, doch drei Punkte verdienen Hervorhebung bzw. Vertiefung.

Erstens: Für das Bundesverfassungsgericht kommt es offensichtlich auf die „antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition“ an. Fehlt es daran, läßt sich eine Sperrklausel nicht rechtfertigen. In der Tat: Die institutionelle Struktur der EU folgt nicht dem „Westminster-Modell“ (in dem sich die Antagonisten sogar gegenübersitzen). Warum aber fällt die Erschwerung der parlamentarischen Arbeit – Richter Müller zählt die umfangreichen Kreations- und Legislativfunktionen des Europäischen Parlaments in Rdnr. 26 seines Sondervotums auf – nur so gering ins Gewicht?

Gewiss, das Bundesverfassungsgericht hat dies bereits in der Vorgängerentscheidung umfassend erörtert und etwa das „Trilog-Verfahren“ in beachtlicher Tiefe analyisert. Damals hieß es:

Die in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und Abgeordneten des Europäischen Parlaments haben im Kern übereinstimmend die Erwartung geäußert, mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das Europäische Parlament werde die Mehrheitsgewinnung erschwert. Dies allein genügt jedoch nicht, um eine mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments darzutun, die einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit rechtfertigen könnte… (Rdnr. 112 des Urteils vom 9. November 2011).

Wäre die übereinstimmende Einschätzung der Sachkundigen und Abgeordneten nicht schon damals stärker zu gewichten gewesen? Und: Wenn das Europäische Parlament dereinst antagonistisch genug binnenstrukturiert ist, damit die Sperrklausel gerechtfertigt wäre, überschritte die Unionsverfassung dann nicht die im Lissabon-Urteil errichtete Grenze der Bundesstaatlichkeit?

Zweitens: Die nächste Unwucht besteht im Vergleich zum aktuellen Deutschen Bundestag. Von der „antagonistischen Profilierung von Regierung und Opposition“ findet sich dort keine Spur. Der größte Wahlsieger bildet zusammen mit demjenigen die Regierung, der sein Ziel nicht erreicht hat; für die Opposition reicht es rechnerisch nicht einmal zur gemeinsamen Erlangung der Minderheitenquoren. Die Mehrheit der Wähler hat bürgerlich gewählt (wobei die AfD wegen ihrer europapolitischen Schnittmenge mit der Partei Die Linke außen vor bleiben kann), im Parlament gibt es rechnerisch eine Mehrheit links der Mitte. Diese Situation spricht gegen eine unterschiedliche Behandlung von Bundestag und Europaparlament. Freilich: Das könnte auch bedeuten, die Fünf-Prozent-Klausel auch bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag abzuschaffen.

Drittens: Wenn dem Bundesverfassungsgericht, wie im Lissabon-Urteil, das Stimmrechtsungleichgewicht zu Lasten Deutschlands so schlimm findet, dass es darin das entscheidende Defizit der demokratischen Struktur der EU sieht, soll es dann so gar keine Rolle spielen, wer denn die knappen deutschen Sitze im EP einnimmt? Die Lektüre der Antragsteller regt teils zum Schmunzeln an, teils zum Lachen (und das ist ja auch etwas wert; „Die Partei“ des Komikers Sonneborn darf natürlich nicht fehlen), aber teils eben auch nicht, wenn die „Spinner“ von gestern die Repräsentanten von heute sind. Parteien dienen dazu, politische Interessen zu bündeln, um ihren Ausgleich im Konflikt zu ermöglichen. Gruppierte Partikularinteressen der Senioren, Tiere, Internetfreaks oder Franken (die Aufzählung ist zugegeben heterogen und in ihrer Oberflächlichkeit der Kürze der Zeit geschuldet) vermögen dies nicht zu leisten.

Nochmals: Die Abwägung ist nicht leicht. Das Ergebnis ist nicht überzeugend, aber auch nicht unvertretbar. Vor allem aber liegt der Ball nun eindeutig im Feld der Europäischen Union. Im Juni 2013 ist nach endloser Verzögerung endlich der vom Primärrecht (Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV) geforderte Beschluss über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zustandegekommen. Zeit, nun auch den eindeutigen Auftrag des Art. 223 AEUV zu erfüllen – und zwar unter Festschreibung einer europaweit einheitlichen Sperrklausel.


No Comments

  1. Alexander Wuttke Wed 26 Feb 2014 at 18:40 - Reply

    Danke. Vor allem den Punkt gegen Ende von Argument 1 fand ich spannend.
    Was mir als Laie beim Lesen des Plädoyers für ein europaweites Wahlrecht mit Sperrhürde natürlich sofort in den Kopf schoss:
    Substantiell wäre doch damit nichts anders, oder? Die Changengleiheit wird beschnitten und dem stehen keine höheren Güter gegebenüber.
    Im Urteil gehen sie ja auch ausführlich auf Normwiederholung und Organtreue ein.
    Macht es bei der Beurteilung der Verfassungsgemäßheit einen Unterschied, welches Organ ein grundgesetzwidriges Gesetz/Richtlinie beschließt?
    Müsste das BVerfG so eine Richtlinie nicht dann ebenfalls kippen oder dürfte es das gar nicht?
    Das Gericht könnte doch dann nicht ruhig sitzen bleiben. Schließlich geht es ja um die Gleichheit aller Bürger etc.

  2. Frank B Thu 27 Feb 2014 at 09:35 - Reply

    Ich wäre auch sehr gespannt, wie das BVErfG damit umginge, dass nun euoparechtlich eine Sperrklausel vereinbart wäre, die nach (knapper) Ansicht des Gerichts das Demokratieprinzip verletzt. Das wäre doch ein klarer Fall für die Identitätskontrolle?

  3. AX Thu 27 Feb 2014 at 12:12 - Reply

    Ich sehe keinen Ansatzpunkt für eine Kontrolle einer nach Art. 223 AEUV beschlossenen Sperrklausel in Karlsruhe:
    Es handelte sich dann um einen Unionsrechtsakt, der eindeutig von einer Kompetenz der Union gedeckt ist und damit nicht in jene der Mitgliedstaaten übergreift. Da die Union mit einer (vom EuGH bestätigten) Sperrklausel auch nicht den “unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz” verletzten würde, wäre etwa eine Verfassungsbeschwerde “von vorneherein unzulässig”.

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