16 June 2020

Freiheit im politischen Meinungskampf

Der EGMR urteilt zu BDS

Der EGMR hat in einem hierzulande((vgl. aber New York Times vom 11.06.2020)) bisher wenig beachteten Urteil das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit im politischen Diskurs bestätigt und gestärkt (Baldassi et autres c. France, Nr. 15271/16, 11.6.2020). Es ging um die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung von französischen Aktivisten der sogenannten BDS (Boycott-Divestment-Sanction)-Bewegung, die sich bekanntlich mittels einer – keineswegs einheitlichen – Boykott- und Sanktionspolitik gegen die Politik der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten wendet((differenzierend Senfft, derFreitag 2/2018; Thrall, Guardian 14.8.2018)) und auch hierzulande Gegenstand heftiger Polemiken ist((differenzierend Asseburg, in Israel & Palästina Zeitschrift I-III/2019)), die sogar zu einem parteiübergreifenden Anti-BDS-Beschluss des Bundestags geführt haben((kritisch dazu etwa Zechlin, Blätter für Deutsche und Internationale Politik 2/2020, 103)).

Im vorliegenden Verfahren hatten die AktivistInnen in den Jahren 2009 und 2010 in zwei französischen Supermärkten im Elsass zum Boykott israelischer Waren aufgerufen, indem sie diese Waren als solche den Kunden des Supermarkts kenntlich machten und dazu Flugblätter verteilten. Daraufhin wurde gegen sie ein Strafverfahren aufgrund Art. 24 Abs. 8 des französischen Gesetzes vom 29.7.1881 „sur la liberté de la presse“ eingeleitet. Die genannte Vorschrift sieht eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine Geldstrafe von 45.000 € oder beides für Personen vor, die an Aktivitäten teilnehmen, mit denen zur Diskriminierung, zum Hass oder zur Gewalt zulasten einer Person oder einer Gruppe von Personen aus diskriminierenden Gründen aufgerufen wird((„Ceux qui … auront provoqué à la discrimination, à la haine ou à la violence à l’égard d’une personne ou d’un groupe de personnes à raison de leur origine ou de leur appartenance ou de leur non-appartenance à une ethnie, une nation, une race ou une religion déterminée, seront punis … .“)). Hatte das erstinstanzliche Tribunal correctionnel de Mulhouse die Betroffenen noch freigesprochen, u.a. weil mit den Aufrufen „Es lebe Palästina“, „Boykott der aus Israel importierten Produkte“ u.ä. die Vorschrift nicht erfüllt sei, sondern allenfalls eine – tatbestandlich nicht erfasste – ökonomische Diskriminierung (EGMR, para. 12), so hob das Berufungsgericht((Cour d’appel de Colmar)) dieses Urteil auf und verurteilte die Angeklagten (para. 13-15); die Revision wurde vom Kassationsgerichtshof((Cour de Cassation)) verworfen (para. 16 f.).

Die Beschwerdeführer rügten Verletzungen von Art. 7 und Art. 10 EMRK, wobei erstere Rüge vom Gerichtshof kurzerhand mit der Begründung abgelehnt wurde (para. 35 ff.), dass aufgrund richterrechtlicher Auslegung der besagte Art. 24 Abs. 8 auch die wirtschaftliche Diskriminierung in Form von Boykottaufrufen gegen israelische Produkte einschließe, obwohl er nur von Diskriminierung (ohne „wirtschaftlich) spricht (para. 35 ff.). Dass die Sache nicht so einfach ist, wird in der abweichenden Meinung von Richterin O’Leary gekonnt ausgeführt (abwM, para. 13 ff.), denn zum einen stellt sich ja (immer) die Frage, wie gefestigt eine richterrechtliche Fortentwicklung sein muss((dazu etwa Pessino c. France, Nr. 40403/02, 10.10.2006, para. 28, „…à partir du libellé de la disposition pertinente et au besoin à l’aide de l’interprétation qui en est donnée par les tribunaux, quels actes et omissions engagent sa responsabilité pénale“)); zum anderen – in casu besonders relevant – wird der eine wirtschaftliche Diskriminierung explizit enthaltene Art. 225-2 Code Pénal nur in Art. 24 Abs. 9 des besagten Gesetzes, nicht aber in dem hier einschlägigen Abs. 8 in Bezug genommen. 

Die intrikate Auslegung von Art. 7 EMRK soll uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen, denn der Schwerpunkt und die über die konkrete Sache hinausgehende Wirkung der Entscheidung liegt in der Auslegung der Meinungsäußerungsfreiheit i.S.v. Art. 10 EMRK (EGMR, para. 58 ff.). Insoweit ist zunächst schon bemerkenswert, dass ein Eingriff in Art. 10 durch die strafrechtliche Verurteilung zwischen den Verfahrensbeteiligten unstrittig war (para. 58); darüber hinaus hat dieKammer insgesamt – einstimmig (!) – eine Verletzung angenommen (para. 81). Sie sieht – im Sinne der üblichen dreistufigen Prüfung – zunächst (1.) ohne weiteres eine gesetzliche Grundlage (Art. 10 Abs. 2 EMRK)  in dem besagten französischen Gesetz und hält auch (2.) das (damit verfolgte) Ziel, des Schutzes der (wirtschaftlichen) Rechte Dritter (hier der israelischen Importeure oder der Verkäufer der israelischen Produkte) grundsätzlich für legitim. Sie befasst sich sodann (3.) eingehender mit der Frage, ob besagte Einschränkungen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ seien (para. 61 ff.), also in casu verhältnismäßig waren. 

Insoweit hält die Kammer Boykottaufrufe als „besondere Art der Ausübung der Meinungsäußerungfreiheit“((„modalité particulière d’exercice de la liberté d’expression“)) (para. 64) für ein legitimes Mittel des politischen Meinungskampfes und grenzt die damit einhergehende Forderung einer (legitimen) „differenzierten Behandlung“((„traitement différencié“)) von einer (illegitimen) Diskriminierung der betroffenen Adressaten ab (ebd.); eine Diskriminierung zeichne sich durch einen Aufruf zur Intoleranz kombiniert mit Gewalt und Hass aus (ebd.). Damit ist die rote Linie markiert, die dann auch nochmal im Zusammenhang mit dem politischen Diskurs betont wird, der zwar „polemisch“ und „virulent“ sein, aber eben nicht in  Gewalt, Hass oder Intoleranz ausarten dürfe((„sauf s’il dégénère en un appel à la violence, à la haine ou à l’intolérance“)) (para. 79). Zu beachten ist dabei auch, dass gerade bei politischen Auseinandersetzungen um Angelegenheiten allgemeinen öffentlichen Interesses – dazu zählt die Kammer explizit die Frage der Beachtung des Völkerrechts durch den Staat Israel sowie der Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung (para. 78) – die Meinungsäußerungsfreiheit nur unter sehr engen Voraussetzungen eingeschränkt werden kann((zu dieser st. Rspr. s. etwa HK-EMRK/Daiber, Art. 10 Rn. 34 ff.; BeckOK MigR/Letsche/Rössler EMRK Art. 10 Rn. 13)). 

Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass die Meinungsäußerungsfreiheit bei allen staatlichen Entscheidung mit potentiell einschränkender Wirkung, insbesondere auch bei (straf)gerichtlichen Entscheidungen, angemessen Beachtung finden muss. Einschlägige Strafvorschriften müssen, mit anderen Worten, im Lichte von Art. 10 EMRK im Wege praktischer Konkordanz restriktiv ausgelegt werden. Dies sei hier nicht geschehen sei, weshalb die Verurteilung unzureichend begründet worden sei((„ne repose pas sur des motifs pertinents et suffisants“)) (EGMR para. 80). Die Kammer ist nicht überzeugt, dass der nationale Strafrichter die Vorschriften in Übereinstimmung mit Art. 10 EMRK angewendet habe und die Entscheidungen auf einer akzeptablen Tatsachenwürdigung beruhten((“n’est pas convaincue que le juge interne ait appliqué des règles conformes aux principes consacrés à l’article 10 et se soit fondé sur une appréciation acceptable des faits“)) (ebd.).

Unabhängig davon wie man zu BDS steht, kommt der Entscheidung schon deshalb eine weitreichende Bedeutung zu, weil sie Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufgrund des (häufig reflexhaften) Vorwurfs der antisemitischen (oder sonstigen) Diskriminierung)((zu entsprechenden Anti-BDS Initiativen in Europa s. De Leo, OpinioJuris, 16.6.2020; für die USA s. Harvard Law Review 113 (2020) 1360)) einen Riegel vorschiebt. Dabei enthält sich die Kammer in weiser Zurückhaltung jeglicher Bewertung von BDS – sie beschreibt letztlich nur deren Entstehungsgeschichte und Anliegen (para. 5) –, doch bewertet sie immerhin den streitgegenständlichen Boykottaufruf als legitimen politischen Protest ohne rassistische oder antisemitische Konnotation oder darin liegender Aufforderung zu Hass, Gewalt und Intoleranz((„Absence de propos racistes ou antisémites et d’appel à la haine, la violence et l’intolérance“)) (S. 1, abstract) und stellt bezüglich der Beschwerdeführer fest, dass diese nicht aus den genannten Gründen verurteilt wurden ((“les requérants n’ont pas été condamnés pour avoir proféré des propos racistes ou antisémites ou pour avoir appelé à la haine ou à la violence”)) (para. 71). Daraus ist gefolgert worden, dass die Kammer den Vorwurf der diskriminierenden und antisemitischen Haltung von BDS „firmly and categorically“ zurückgewiesen habe ((De Leo, OpinioJuris, 16.6.2020)). Das geht aber wohl zu weit, denn die Kammer hatte sich nicht zu BDS, sondern dazu zu verhalten, ob bestimmte französische Strafgerichtsentscheidungen mit der Konvention vereinbar sind. Stellt sich insoweit das der Verurteilung zugrundeliegende Verhalten als noch erlaubte Meinungsäußerung dar, muss es hiermit sein Bewenden haben. Andererseits kann es aber auch nicht darauf ankommen, dass Äußerungen aus BDS-Kreisen, die ihrem Inhalt nach von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, ggf. anschlussfähig sind für Personen, die die Grenzen des Zulässigen überschreiten.

Aus all dem folgt, dass Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit, die mit pauschalen Rassismus- und/oder Antisemitismusvorwürfen begründet und mitunter auch von – an höchster staatlicher Stelle angesiedelten – „zivilen Glaubensrichtern“ verordnet werden, vor Art. 10 EMRK und damit auch in Straßburg kaum Bestand haben dürften. Dies liegt im Übrigen auf der Linie von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, mit denen kommunale Verbotsverfügungen gegen BDS-nahe Personen oder Gruppen, aufgehoben wurden ((zur Zulassung einer Veranstaltung OVG Oldenburg v. 27.3.2019; zur Zulassung des Deutsch-Palästinensischen Frauenvereins e.V. zum jährlichen Bonner Kultur- und Begegnungsfest VG Köln v. 13.9.2019)). Jüngst hat im ähnlichen Sinne auch der UK Supreme Court am 29.4.2020 mit knapper (3:2) Mehrheit entschieden, dass eine Regierungsrichtlinie, die es den Kommunalverwaltungen verbietet, ihre Rentengelder aus ethischen Gründen nicht in Unternehmen anzulegen, die in irgendeiner Form an der israelischen Besatzungspolitik wirtschaftlich partizipieren, rechtswidrig sei. So steht es den britischen Kommunalverwaltungen also frei, solche Unternehmen zu boykottieren. 


One Comment

  1. Helmut Suttor Wed 17 Jun 2020 at 17:21 - Reply

    BDS-Beschlüsse: Bisher vernachlässigte Normen – Demokratiegebot und Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern

    Für die BDS-Beschlüsse in Deutschland stellt sich die Frage, ob diese nicht dem Demokratiegebot widersprechen, also der Rechtsprechung, die sich gestützt auf Art. 20 Abs. 2 GG ausgebildet hat.

    Bei BDS geht es um einen Meinungsstreit, der zwischen einer Mehrheit und Minderheit ausgetragen wird, auf beiden Seiten von Menschen mit und ohne jüdischen Hintergrund. Nach dem Demokratiegebot darf der Staat in eine solche Debatte nicht “von oben nach unten” und v.a. nicht lenkend eingreifen. In München z.B. ist schon die Befassung mit BDS-Themen in städtischen Räumlichkeiten verboten:

    “Ziel des Stadtratsbeschlusses ist es vielmehr in Umsetzung der vom Stadtrat der Beklagten gefassten und in Nr. 1 des Stadtratsbeschlusses kodifizierten politischen Grundsatzentscheidung, sämtliche städtische Räumlichkeiten nicht mehr für Veranstaltungen – sowohl befürwortende als auch kritische – die sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, zur Verfügung zu stellen” (VG München, Urteil v. 12.12.2018).
    Wie das Münchner Kulturreferat in seiner Stellungnahme vor Beschlussfassung ausführte, können durch die weitgefasste Formulierung im Münchner Beschluss (Beschlussvorlage II / BV II. 3a+b) “nahezu alle Themenfelder des Nahostkonflikts in einen Zusammenhang mit der BDS-Kampagne gebracht ” und durch Raumverbote sanktioniert werden.

    In München geht es nicht mehr darum, dass der Staat in ein öffentliche Debatte lenkend eingreift, sondern dass er einen Themenbereich dem öffentlichen Diskurs entzieht u.z. zu einem Zeitpunkt gesteigerten öffentlichen Debattenbedarfs.

    Die dem Demokratiegebot entsprechende Rechtssprechung hat das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren Dügida vs. Stadt Düsseldorf ausführlich dargelegt. Darin wird auch ausgeführt, wie der Staat in gesellschaftliche Debatten intervenieren darf und sollte und wie nicht. Das übergeordnete Ziel “staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit” besteht darin, “den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten (…) Staatliche Amtsträger dürfen ferner in der öffentlichen Diskussion Vertreter anderer Meinungen weder ausgrenzen noch gezielt diskreditieren, solange deren Positionen die für alle geltenden rechtlichen Grenzen nicht überschreiten, namentlich nicht die allgemeinen Strafgesetze verletzen. Nur so kann die Integrationsfunktion des Staates sichergestellt werden, die ebenfalls im Demokratieprinzip wurzelt.”

    Symbolische Aktionen (der Düsseldorfer OB hatte zur Unterstützung einer Gegendemostration die Lichter an städtischen Gebäuden ausschalten lassen) ohne ein argumentatives Angebot seien nicht ausreichend.

    Das Bundesverwaltungsgericht verurteilt den Staat nicht zum Zuschauen, auch nicht zur Äquidistanz, es schreibt ihm vielmehr eine aktive Rolle zu in Wahrnehmung seiner Integrationsfunktion.

    Wenn man diese auf die Antisemitismus-Beauftragten bezieht ist zunächst klar, dass dieses Rollenverständnis nicht vereinbar ist mit “diskursiven Schrankenwärtern”. Zweitens stellt sich die Frage ob die diskursive Kompetenz bei den aktuellen Amtsträgern vorhanden ist. Diese Frage stellt sich bei Felix Klein und schärfer noch bei anderen Amtsträgern wie in Hessen (Uwe Becker, gelernter Bankkaufmann) oder Schleswig-Holstein (Harry Peter Carstensen, gelernter Landwirt).

    Ein weiteres Rechtsgebiet, dass bisher in der BDS-Debatte zu wenig berücksichtigt wurde, ist die Rechtsprechung zur Äußerungsbefugnis von Amtsträgern. Für Amtsträger gilt bekanntlich nicht die Meinungsfreiheit, wie für einfache Bürger. Sie haben sich mit einer gewissen Sorgfalt und Zurückhaltung unter Berücksichtigung von Fakten und deren gewissenhafter Abwägung zu äußern. Uwe Becker kümmert sich darum wenig. Er hält sich noch nicht einmal an die Regeln, die zwischen einfachen Bürgern gelten, deren Recht auf freie Meinungsäußerung durch die Persönlichkeitsrechte von Mitbürgern eingeschränkt ist. Er kann sich das leisten, weil in den Kommunalparlamenten wenn es um BDS geht eine informelle Block-Parteien-Koalition herrscht, die alles durchgehen lässt. Uwe Becker hat auf eine Anfrage der FDP-Fraktion zur Rechtmäßigkeit der BDS-Beschlüsse die Antwort auf alle Fragen mit Bezug auf Grundrechte verweigert. Gefragt wurde u.a. nach der Bedeutung für Frankfurt der einschlägigen in Sachen BDS inzwischen ergangenen Urteile (die auch Prof. Ambos erwähnt).

    Antwort Beckers: Die Kommentierung einzelner Gerichtsentscheidungen ist nicht zielführend, da diese keine Frankfurter Einzelfälle betreffen.

    So steht das in einem Magistratsbeschluss, den der Frankfurter Oberbürgermeister unterschrieben hat.

    Ergo: Das Thema Menschenrechte ist wichtig. Die beiden hier genannten Rechtsgebiete oder Normen (Demokratiegebot, Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern) sind bisher in Gerichtsverfahren nicht zur Sprache gekommen – wenn ich nicht irre. Sie sollten aber in die Erörterung einbezogen werden, weil Sie helfen den Charakter und die rechtspolitische Dimension der BDS-Beschlüsse zu erfassen. Was anderes ist auch noch wichtig: Man sollte die Aufmerksam richten die Auswirkungen der Beschlüsse auf kommunaler Ebene.

    Helmut Suttor, Frankfurt

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