Freiheit in höchsten Nöten
Warum die Corona-Krise nicht zum Verfassungsnotstand stilisiert werden darf
Innerhalb weniger Tage hat die Dynamik der Corona-Pandemie die Politik zu nie dagewesenen Freiheitseingriffen gezwungen: Gottesdienste wurden verboten, Grenzen geschlossen, Geschäfte dichtgemacht und inzwischen darf das Haus überhaupt nur noch mit Einschränkungen verlassen werden. Die FlattenTheCurve-Maßnahmen erschüttern unser Gemeinwesen. Noch im Februar entsprach es allgemeiner Meinung in den Medien, dass ein Lockdown wie in der chinesischen Provinz Hubei in westlichen Gesellschaften gar nicht denkbar sei. Das änderte sich schlagartig mit den Bildern aus Italien, wo sich Schwerstkranke in den Krankenhausfluren regelrecht stapelten, wo Ärzte zu Entscheidungen darüber gezwungen waren, wer noch behandelt werden kann und wen man sterben lassen muss. Über Nacht sahen sich westliche Gesellschaften mit der Erkenntnis konfrontiert, dass auch sie weder gegen das Virus noch gegen drastische Bekämpfungsmaßnahmen und damit verbundene Freiheitsbeschränkungen immun sind.
Plötzlich steht unser westliches Selbstverständnis infrage: Was unterscheidet uns noch von autoritären Regimen wie dem in China, wenn man nicht einmal mehr frei vor die Haustür treten darf? Mit voller Wucht erreichte diese Debatte in der vergangenen Woche auch das Verfassungsblog. Den Ausgangspunkt machte ein Beitrag von Hans Michael Heinig, der sich speziell mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Gottesdienstverboten befasste. Eine wie beiläufig eingestreute allgemeine Lageeinschätzung entfaltete in der letzten Woche ihre ganze rhetorische Kraft: „Ungern befände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat.“ Damit hatte Heinig ein Stichwort geliefert, das zu einer der meistzitierten Wendungen auf dem Blog wurde. In engem Takt prasselten die Warnungen auf das Blog ein. So stellte Andrea Edenharter unter der Überschrift „Freiheitsrechte ade“ die Verhältnismäßigkeit von Ausgangssperren generell in Abrede, Uwe Volkmann sah sich zu staatstheoretischen Überlegungen über den Ausnahmezustand veranlasst und Thorsten Kingreen verlangte „eine andere Art von Präventionsarbeit (zu) starten: de(n) Schutz des Rechts“ – um nur eine kleine Auswahl zu zitieren.
Fehleranfälligkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung transparent machen
Mit vorschnellen Urteilen ist aber Vorsicht geboten. Das zeigt schon die rasante Entwicklung der letzten drei Monate: Im Januar oder Februar wäre es uns noch völlig unverhältnismäßig vorgekommen, alle Einreisenden aus China für zwei Wochen unter Quarantäne zu stellen. In der Rückschau fragt sich, ob dies nicht geradezu geboten gewesen wäre, um uns die jetzigen einschneidenden Maßnahmen womöglich zu ersparen. Kaum noch zu glauben ist aus heutiger Perspektive, wie lange mit dem Verbot von Großveranstaltungen gezögert wurde und etwa Anfang März noch Borussia Mönchengladbach wenige Kilometer vom Kreis Heinsberg entfernt vor 50.000 Zuschauern gegen Borussia Dortmund spielen konnte.
Wenn die Rechtswissenschaft im Austausch mit Virologen und Epidemiologen aktuell nicht nur spezifisches über Corona-Viren, sondern auch strukturell etwas lernen kann, so ist es Transparenz gegenüber der Fehleranfälligkeit eigener wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wenn wir unsere Erkenntnismöglichkeiten zur materiellen Rechtmäßigkeit einschneidender FlattenTheCurve-Maßnahmen kritisch überprüfen, müssen wir zugeben, vielfach nur spekulieren können. Die materielle Rechtmäßigkeit entscheidet sich nämlich regelmäßig mit der Subsumtion unter die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Im Kern geht es darum, ob die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck stehen. Bei der Beurteilung von Gegenmaßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie ergibt sich allerdings das Problem, dass wir viel mehr über das Gewicht der Freiheitseingriffe als über das Gewicht des verfolgten Zwecks wissen.
Welche Bedeutung Grundrechte wie die Freiheit der Person, der Schutz von Ehe und Familie, die allgemeine Handlungsfreiheit oder die Religionsfreiheit haben, darüber gibt es ganze (derzeit geschlossene) Bibliotheken und lang entwickelte Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts. Worüber wir aber derzeit noch sehr wenig wissen, was sich ständig ändern kann, ist das Gewicht des mit den Gegenmaßnahmen verfolgten Zwecks. Nur im Ansatz ist klar, dass es um den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und damit ebenfalls um ein wichtiges von der Verfassung geschütztes Rechtsgut geht. Für die Gewichtung im Rahmen der Angemessenheit ist aber von entscheidender Bedeutung, wie groß die Gefahren für Leib und Leben sind und welche Erfolgschancen Gegenmaßnahmen überhaupt haben.
Dazu fehlen uns zunächst wichtige Sachinformationen: Wir kennen nicht die Dunkelziffer erfasster Infektionen und deswegen nicht die Gesamtinzidenz in der Bevölkerung und auch nicht die wirkliche Sterblichkeit. Die genaue Zahl von Patienten, die beatmungspflichtig werden, kann nur geschätzt werden und wir können auch nicht genau vorhersagen, wie viele zusätzliche Kapazitäten im Gesundheitswesen aufgebaut werden können. Niemand weiß derzeit, ob und wieweit steigende Temperaturen die Krankheit eindämmen und ob und wann wirksame Heilmittel oder ein Impfstoff gefunden werden. Niemand von uns hat Erfahrungswerte, welche gesellschaftlichen Folgen mit einem zeitweisen Zusammenbruch der Krankenhausversorgung verbunden sein können. Aber auch die Auswirkungen eines monatelangen Shutdown auf die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung ist letztlich Spekulation.
Die juristische Verhältnismäßigkeitsprüfung steht damit strukturell vor der gleichen Schwierigkeit, die sich derzeit für epidemiologische Modellrechnungen ergibt: Man kann die einzelnen Schritte in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ähnlich kleinschrittig und differenziert ziselieren wie ein kompliziertes mathematisches Modell und bekommt dann womöglich sehr feine und differenzierte Subsumtion. Nur stehen am Anfang dieser Rechnung immer Annahmen, die in das System eingespeist werden. Zum Beispiel bei Stefan Huster hier auf dem Verfassungsblog: Die wirtschaftlichen Folgen werden immens sein, den jungen Leuten wird bei einer Infektion nicht viel passieren. Erweisen sich die Annahmen im Nachhinein als falsch, kann am Ende trotz aller Bemühung um eine differenzierte Subsumtion ein grob falsches Ergebnis herauskommen.
Demokratie vs. autoritärer Staat: Demokratische Verfahren machen den Unterschied
Juristen sind es gewohnt, dass sie Fälle trotz Unsicherheiten über den Sachverhalt entscheiden müssen. Selbstverständlich können alle Maßnahmen, die der Staat gegen die COVID-19-Pandemie unternimmt, einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. Wir sind eben kein hysterischer Hygienestaat, sondern bleiben ein funktionierender Rechts(wege-)staat. Die beschriebenen Unsicherheiten müssen sich aber auf den gerichtlichen Prüfungsmaßstab auswirken: Sie führen zu einer weitreichenden Einschätzungsprärogative des Parlaments. Auch ein Rechtsstaat kann temporär unter fortwährender Beachtung der Verhältnismäßigkeit „Hygienestaat“ werden, wenn sich eine Pandemie nur mit außergewöhnlichen Mitteln bekämpfen lässt.
Wenn aber die freiheitliche Verfassungsordnung unter den derzeitigen Umständen ähnliche Freiheitsbeschränkungen zulässt, wie sie zur Abwehr der Infektionsgefahren in autoritären Staaten wie China ergriffen wurden, dann ist ihre demokratische Legitimation umso wichtiger. Freiheitsbeschränkungen zur Infektionsbekämpfung müssen deswegen auf hinreichend konkreten formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen beruhen, worauf insbesondere Anika Klafki völlig zu Recht aufmerksam gemacht hat. Deswegen war es richtig, dass der Bundestag hier nachjustiert hat, wenn es auch wünschenswert erscheint, dass nach Überwindung der Pandemie alle Bestimmungen noch einmal in Ruhe systematisch geordnet und diskutiert werden.
Vor allem aber darf nicht aus den außergewöhnlichen inhaltlichen Herausforderungen an Politik vorschnell auf einen Notstand der Verfassungsinstitutionen geschlossen werden. Hysterisch waren Überlegungen, in einer schnellen Verfassungsänderung den Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a GG) als Notparlament auch in Friedenszeiten zu etablieren (dagegen bereits Christoph Möllers). Bei allem Ernst der Lage ist die Funktionsfähigkeit des Bundestags nicht ernsthaft in Gefahr.
In der laufenden Sitzungswoche konnten mögliche Ansteckungsgefahren mit minimalinvasiven Maßnahmen bekämpft werden: Im Parlament verständigte man sich im Pairing-Verfahren auf eine reduzierte Anwesenheit im Parlament, was aber kaum weiter aufgefallen wäre, wenn darüber nicht im Vorfeld so viel geredet worden wäre. Denn ohnehin sind im Plenum meist viel weniger als die Hälfte der Abgeordneten anwesend. Der Bundestag bleibt aber beschlussfähig, solange dieser Umstand nicht gerügt wird (§ 45 GOBT). Nun hat der Bundestag das Quorum mittels einer Geschäftsordnungsänderung befristet bis zum 30. September noch weiter auf ein Viertel der Mitglieder abgesenkt. Die Regelung dürfte angesichts der aktuellen Situation mit dem Demokratieprinzip in Einklang stehen, zumal es jedem Abgeordneten freisteht, das Plenum aufzusuchen. Mit entsprechenden Maßnahmen lässt sich eine breite Beteiligung der Abgeordneten weiterhin sicherstellen. Bei der namentlichen Abstimmung über die Aussetzung der Schuldenbremse, für die eine Kanzlermehrheit erforderlich war (Art. 115 II 6, 7 GG), wurden Urnen in der Lobby aufgestellt Sicherheitsabstände mit Klebebändern auf dem Boden markiert.
Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit
Hoffentlich behalten diejenigen Recht, die (noch) immer meinen, es werde letztlich nicht so schlimm kommen und die ein oder andere derzeitige Maßnahme sei verzichtbar. Wenn es aber doch schlimm kommt, dann muss die Demokratie unter Beweis stellen, dass auch sie die Gesundheit ihrer Bürger bestmöglich schützen kann. Es wäre eine fatale Spätfolge der Corona-Pandemie, wenn der Eindruck entstünde, nur autoritäre Staaten könnten eine solche Krise bewältigen. Deswegen dürfen die gewaltigen Herausforderungen, unter den gegebenen Umständen bestmögliche Sachentscheidungen zu treffen, nicht zu einer Krise des Verfassungsstaats stilisiert werden. Harte Freiheitsbeschränkungen, die demokratisch legitimiert sind und strikt am notwendigen und angemessenen Maß zur Bekämpfung der Epidemie orientiert sind, haben nichts mit dem Gebaren autoritärer Staaten gemein. Zur Freiheit einer freien Gesellschaft gehört es, Einsicht in die Notwendigkeit zu zeigen.