11 February 2019

Freiheit oder Gleichheit? Kopftuchverbote im Spannungsfeld von Unionsrecht und Grundgesetz

Am 30. Januar hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) dem EuGH gemäß Artikel 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung betreffend ein Kopftuchverbot gegenüber einer Drogeriemarkt-Angestellten vorgelegt. Zuvor hatte das Arbeitsgericht Hamburg (ArbG Hamburg) den EuGH bereits Ende November 2018 mit der Vorabentscheidung bezüglich eines Kopftuchverbotes gegenüber einer Hamburger Erzieherin betraut. Hintergrund beider Vorlagen ist eine mögliche Kollision der jüngsten deutschen und europäischen Rechtsprechung zu Kopftuchverboten, bei der das vergleichsweise hohe deutsche Schutzniveau zugunsten von Kopftuchträgerinnen auf dem Spiel steht.

Im Vergleich zur neueren Rechtsprechung des EuGH von 2017 (Achbita) hat das Bundesverfassungsgericht 2015 (Lehrerin) und 2016 (Erzieherin) – insbesondere mit dem Erfordernis einer konkreten Gefahr oder Störung für die relevanten Schutzgüter – gegenüber Kopftuchverboten eine deutlich restriktivere Haltung eingenommen. Entscheidend dafür, an welchen Maßstab sich deutsche Fachgerichte künftig zu halten haben, könnte nun sein, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht auf den Bereich des Diskriminierungsschutzes bezieht, sondern auf die Freiheit der Religionsausübung.

Die Vorlagen seitens des ArbG Hamburg und des BAG werfen die Frage auf, ob das Unionsrecht hier Anwendungsvorrang genießt – anders wäre dies wohl nur zu beurteilen, wenn es sich bei dem freiheitsrechtlichen Schutz, der kopftuchtragenden Musliminnen in Deutschland gewährt wird, zugleich um ein zulässiges, höheres Schutzniveau „in Bezug auf Diskriminierungen“ i.S.v. Artikel 8 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG handelt (eigene Hervorhebung).

Der freiheitsrechtliche Ansatz des BVerfG

Während der EuGH die Kopftuchverbote im Lichte der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, also naturgemäß aus einer gleichheitsrechtlichen Perspektive beleuchtet und analysiert, beschränkt bzw. konzentriert sich das BVerfG regelmäßig auf eine freiheitsrechtliche Analyse im Rahmen von Artikel 4 GG.

In den bisherigen Entscheidungen zu Kopftuchverboten für Lehrerinnen, Erzieherinnen und Rechtsreferendarinnen steht im Zentrum der gerichtlichen Erwägungen jeweils die Religionsfreiheit, während das Gleichheitsrecht (allenfalls) beiläufig miterwähnt wird. In seiner Kopftuchentscheidung von 2015 erwähnt das Verfassungsgericht das Gleichheitsrecht mit Blick auf das Verbot religiöser Bekundungen allein in Bezug auf geschlechtsspezifische, nicht aber auf religionsspezifische Diskriminierung. Im Fall des Kopftuchverbots für Erzieherinnen geht das BVerfG auf das ebenfalls gerügte Diskriminierungsverbot gar nicht näher ein mit der Begründung, eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes habe die Beschwerdeführerin nicht substantiiert genug dargelegt. Im Beschluss zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen von 2017 findet das Diskriminierungsverbot keinerlei Erwähnung.

Zurecht wird in der Literatur mit Simon regelmäßig auf das „Schattendasein“ hingewiesen, welches das Diskriminierungsverbot, insbesondere jenes aus religiösen Gründen, in der Rechtsprechung führt. Nun könnte genau dieser blinde Fleck dazu führen, dass das vergleichsweise hohe deutsche Schutzniveau für religiöse Minderheiten durch einen weniger ausgeprägten Diskriminierungsschutz auf europäischer Ebene unterlaufen wird.

Unterschiedliche Schutzniveaus im Unions- und Verfassungsrecht

In Achbita hatte der EuGH 2017 erstmals Gelegenheit, eigene Standards für Kopftuchverbote zu formulieren. Das Vorlageverfahren betraf die Vereinbarkeit eines betrieblichen Kopftuchverbotes mit unionsrechtlichem Diskriminierungsrecht. Der EuGH befand ein Verbot des sichtbaren Tragens religiöser Bekleidung (auch wenn es faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen trifft) in Unternehmen dann für zulässig, wenn es aufgrund einer internen Regel unterschiedslos für alle Beschäftigten mit Kundenkontakt gilt und Teil einer allgemeinen und undifferenzierten Unternehmenspolitik darstellt.

Demgegenüber fordert das BVerfG in seiner Rechtsprechung für die Verfassungsmäßigkeit eines Kopftuchverbotes regelmäßig eine konkrete Gefahr oder Störung mit Blick auf die kollidierenden Schutzgüter (im Schulkontext etwa mit Blick auf die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden). Auch das BAG verlangt entsprechend für den Kontext privater Arbeitsverhältnisse im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz (mit Blick auf das kollidierende Rechtsgut unternehmerischer Freiheit) bislang stets das Vorliegen konkreter betrieblicher Störungen oder wirtschaftlicher Einbußen. Hiernach ist ein allgemeines und undifferenziertes Verbot ohne konkreten Anlass also gerade nicht zulässig.

Die (Vorlage-)Frage nach dem Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht in Sachen Kopftuchverbot

Das ArbG Hamburg hat den EuGH um Klärung der Frage gebeten, ob das Europarecht angesichts der Mindestschutz-Klausel des Artikel 8 I der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie „einer nationalen Regelung entgegen[stehe], nach der zum Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit ein Verbot religiöser Bekleidung nicht schon aufgrund einer abstrakten Eignung zur Gefährdung der Neutralität des Arbeitgebers, sondern nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr […] gerechtfertigt werden kann“ (Vorlagefrage 2b).

Das BAG wünscht, noch zugespitzter, Klarheit darüber, ob „nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften i.S.v. Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen“ (Vorlagefrage 2b) oder ob „nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung […] wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben“ müssen (Vorlagefrage 3).

Beide Gerichte möchten damit geklärt wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn nach nationaler Rechtsprechung ein Verbot religiöser Bekleidung – entgegen dem EuGH – nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr gerechtfertigt werden kann. Die Vorlagefragen betreffen im Kern das Verhältnis des deutschen Verfassungsrechts zum Unionsrecht.

Im Kollisionsfall gilt grundsätzlich ein Anwendungsvorrang von Unionsrecht vor nationalem Recht – einschließlich des Verfassungsrechts. Andererseits legt die europäische Rahmenrichtlinie ihrem Artikel 8 zufolge lediglich Mindestanforderungen fest; den Mitgliedstaaten steht es hiernach also frei, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten. Die Richtlinie soll folglich gerade keine Absenkung des in den Mitgliedstaaten bestehenden Schutzniveaus bewirken. Markiert Achbita also lediglich einen unionseinheitlichen Mindeststandard und können deutsche Gerichte an ihrer bisherigen Rechtsprechung zu Kopftüchern am Arbeitsplatz ohne Verstoß gegen Unionsrecht festhalten, oder müssen die Vorgaben der deutschen Verfassung im Zweifel doch hinter dem Unionsrecht zurücktreten?

Höheres Schutzniveau „in Bezug auf Diskriminierungen“?

Der maßgebliche Artikel 8 der Rahmenrichtlinie bestimmt (mit eigenen Hervorhebungen):

(1) Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.

(2) Die Umsetzung dieser Richtlinie darf keinesfalls als Rechtfertigung für eine Absenkung des von den Mitgliedstaaten bereits garantierten allgemeinen Schutzniveaus in Bezug auf Diskriminierungen in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen benutzt werden.

Dem Wortlaut zufolge beschränkt sich die Möglichkeit eines höheren nationalen Schutzniveaus auf den Bereich des Diskriminierungsrechts, im Sinne eines höheren diskriminierungsrechtlichen Schutzniveaus – im Unterschied zu einem höheren freiheitsrechtlichen Schutzniveau.

Es stellt sich folglich die Frage, ob die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ein Schutzniveau „in Bezug auf Diskriminierungen“ etabliert, das durch die Richtlinie nicht abgesenkt werden soll, und ob Artikel 4 in der entsprechenden Auslegung durch das BVerfG als Vorschrift zu verstehen ist, die „im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger“ als die durch Achbita markierten europarechtlichen Standards ist.

Gleichheit als Inhalt von Freiheit?

Außer Frage steht, dass Verbote religiöser Bekleidung diskriminierungsrechtlich von erheblicher Relevanz sind. In Anbetracht ihrer benachteiligenden, exkludierenden und stigmatisierenden Wirkung betreffen sie gerade das Gleichheitsrecht im Kern. Die Diskriminierung erstreckt sich dabei nicht nur auf das Merkmal der Religion, sondern zugleich – aufgrund der überwiegenden Betroffenheit muslimischer Frauen – auch auf das Geschlecht.

Die Urteile der deutschen Gerichte sollten daher nicht so verstanden werden, dass die diskriminierungsrechtliche Relevanz der Verbotsgesetze durch den Fokus auf die Religionsfreiheit infrage gestellt würde; das BVerfG verweist selbst auf die „verstärkende“ Wirkung des Diskriminierungsverbots gegenüber der Religionsfreiheit.

Vielmehr ist das unglückliche Schattendasein des Gleichheitsrechts zum großen Teil auf (stillschweigende) Annahmen über das Konkurrenzverhältnis von Freiheits- und Gleichheitsrecht zurückzuführen. So wird vielfach davon ausgegangen, das Freiheitsrecht decke wesentliche Aspekte, die unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten von Bedeutung seien, bereits mit ab – religiöse Gleichheit sei also gewissermaßen religiöser Freiheit immanent.

Mit Blick auf die Historie der Religionsfreiheit des Grundgesetzes und die entsprechende Betonung der besonderen Bedeutung der Religionsfreiheit gerade für religiöse Minderheiten auch seitens der Rechtsprechung ist dem im Ansatz zuzustimmen, und die Religionsfreiheit stets als Garantie gleicher Freiheit zu verstehen.

Die aktuell bedeutsame Frage der Natur des verfassungsrechtlich gewährten Schutzniveaus (freiheits- oder gleichheitsrechtlich) verdeutlicht jedoch, dass eine stärkere eigenständige Berücksichtigung und Betonung des Gleichheitsrechts mit Blick auf Verbote religiöser Bekleidung dringend geboten erscheint.

Eigenständige Bedeutung des Gleichheitsrechts

Eine auch gleichheitsrechtliche Betrachtung erscheint schon deswegen angemessen, da die diskriminierende Wirkung den Charakter der Verbote wesentlich prägt. Doch wie die anhängigen Verfahren zeigen, ist sie auch mit Blick auf die Notwendigkeit gefordert, verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Maßstäbe miteinander in Einklang zu bringen und Missverständnisse bezüglich ihres Verhältnisses zu vermeiden.

Hätte das BVerfG seine Entscheidungen auf gleichheitsrechtliche Erwägungen gestützt, so wäre der Fall klar: Artikel 8 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie wäre einschlägig, und Deutschland könnte weiterhin über das europarechtlich vorgegebene Mindestschutzniveau hinausgehen. Die einseitige Präferenz des BVerfG für eine freiheitsrechtliche Analyse unter weitgehender Vernachlässigung der gleichheitsrechtlichen Perspektive könnte demgegenüber dazu führen, dass das in Deutschland gewährleistete verfassungsrechtliche Schutzniveau durch einen Anwendungsvorrang sekundären EU-Rechts untergraben wird.

Es bleibt also zu hoffen, dass der freiheitsrechtliche Ansatz des BVerfG nicht in dem Sinne missverstanden wird, wie es die irreführende Formulierung der Vorlagefragen geradezu provoziert: Es geht gerade nicht nur um „nationale Regelungen, die die Religionsfreiheit schützen“. Der Schutz, welcher kopftuchtragenden Musliminnen in Deutschland unter dem Grundgesetz gewährt wird, geht substanziell über die Mindestanforderungen der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie hinaus und bezieht sich dabei naturgemäß neben religiöser Freiheit zugleich immer auch auf Diskriminierung.


4 Comments

  1. VJS Mon 11 Feb 2019 at 19:43 - Reply

    Guter Beitrag, sehr verständlich geschrieben. Aber ist eine nachträgliche Korrektur/Klarstellung durch das BVerfG, in der der gleichheitsrechtliche Aspekt hervorgehoben wird, nicht auch nach einer Entscheidung des EuGH im Sinne der “irreführenden Formulierung der Vorlagefragen” noch möglich?

  2. ER Tue 12 Feb 2019 at 10:01 - Reply

    Guter Beitrag. Aber er geht in keiner Weise auf die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 der Grundrechte-Charta der EU ein, welche der EuGH als Freiheitsrecht ebenso gegen die Religionsfreiheit nach Art. 10 wird abwägen müssen. Die Thematik lässt sich also m.E. nicht auf den Konflikt (Religions-)Freiheit Gleichheit (Anti-Diskriminierung) reduzieren.

  3. Winfried Tue 12 Feb 2019 at 11:06 - Reply

    Hallo,

    Danke für den Beitrag.

    Verstehe ich es richtig, dass ‘Diskriminierung’ und ‘Religionsfreiheit’ nicht direkt in Bezug und somit kein Vorrang von Unionsrecht zu Verfassungsrecht abgeleitet werden kann !?

    (siehe…
    Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt die unmittelbare Anwendbarkeit der entsprechenden Bestimmung des Unionsrechts voraus, die wiederum die „unmittelbare Geltung“ des Unionsrechts voraussetzt.

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Anwendungsvorrang
    )

    Mit freundlichen Grüßen

    Winfried Hartwig

  4. Bryan Hayes Tue 19 Feb 2019 at 20:17 - Reply

    “Im Kollisionsfall gilt grundsätzlich ein Anwendungsvorrang von Unionsrecht vor nationalem Recht – einschließlich des Verfassungsrechts.”: Nichts dergleichen ist der Fall. Das GG steht über jeglichem Recht, welches innerhalb der EU auf Wege gebracht wurde und welches ohnehin maximal dann überhaupt erst Rechtsgültigkeit entfaltet, wenn es in Form eines Bundesgesetzes in Kraft gesetzt wird.

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