Gediegene Gegenerzählung
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesnotbremse einer eingehenden verfassungsrechtlichen Kontrolle unterzogen, ohne sich hinter Entscheidungsspielräumen der Politik zu verstecken. Die überzeugenden Beschlüsse zu den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie zu den Schulschließungen lassen auch Folgerungen zur Vereinbarkeit der jetzt diskutierten Maßnahmen mit dem Grundgesetz zu.
I. Grundsätzliche Zustimmung
Nein, das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtliche Notbremse nicht gezogen. Der Erste Senat hat gestern zentrale Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zur Bekämpfung der dritten Welle der COVID-19-Pandemie – es ging um Kontaktbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen – mit bemerkenswerter Entschiedenheit und einstimmig für verfassungskonform erklärt. In den Wochen zuvor war aus dem Kreis der künftigen Koalitionsparteien wiederholt auch das Verfassungsrecht als Grund für das Ausbleiben energischerer Schritte in der Bekämpfung der inzwischen vierten Welle der Pandemie genannt worden. Das lässt sich so nicht aufrechterhalten. Wer jetzt aber meint, das Bundesverfassungsgericht hätte den politischen Organen carte blanche gegeben und man müsse von ihm deshalb rechtsstaatlich enttäuscht sein, kann die beiden weit ausgreifenden, zusammen rund 180 Seiten umfassenden Beschlüsse nicht sorgfältig gelesen haben. Dass die Entscheidungen über die „Bundesnotbremse“ ausgerechnet in dem Moment veröffentlicht werden, in dem auf Grund steigender Inzidenzen und teilweise überlasteter Krankenhäuser viele nach sofortigem und entschiedenem Handeln der Politik rufen, war so sicher nicht geplant. Der Zeitpunkt ist aber kein schlechter für einige zentrale Botschaften aus Karlsruhe, die in die Diskussion über das weitere Vorgehen gestern sofort Bewegung gebracht haben: Die Lage ist komplex und gefährlich, und es gibt trotz wachsender Gewissheiten noch manches, was wir über die Ausbreitung und die effektive Bekämpfung der Pandemie nicht wissen. Doch das ist kein Grund dafür, Fakten in Abrede zu stellen, an Verlautbarungen über die Pandemie nicht mehr zu glauben oder den Kopf in den Sand zu stecken. Die beiden Beschlüsse zur „Bundesnotbremse“ setzen hier einen wohltuenden Kontrapunkt: Sie erklären noch einmal viele Zusammenhänge bis hin zu den Ansteckungsgefahren in geschlossenen Räumen und im Freien und legen die Herkunft des aufbereiteten Wissens penibel offen. Sie zeigen, wie man abwägungsrelevantes Material zusammenträgt und dabei mit Unsicherheiten umgeht. Und sie führen vor, wie man sich bei der gerichtlichen Kontrolle der politischen Organe nicht an ihre Stelle setzt und dabei trotzdem nicht den Eindruck erweckt, nicht so genau hingeschaut zu haben. Die Überzeugungskraft der Entscheidungen liegt darin, dass sie sehr eingehend und gut nachvollziehbar begründen, warum die mit der Pandemiebekämpfung verbundenen Grundrechtseingriffe zum Schutz überragend wichtiger öffentlicher Interessen (zu denen gerade auch die Grundrechte derjenigen gehören, die durch die Maßnahmen geschützt werden) zulässig waren, die massiven und vor allem im Fall der Schulschließungen erschreckenden Konsequenzen dabei aber nicht ausblenden oder gar kleinreden. Es ist vorbildlich, wie unbeirrt das Bundesverfassungsgericht auf jede Reduktion von Komplexität verzichtet, wie umfassend es Expert*innen zu Wort kommen lässt, die sich natürlich nicht immer einig sind, und wie eindringlich es verdeutlicht, aus welchen Gründen auch tiefgehende Grundrechtseingriffe mit erheblicher Breitenwirkung in einer Pandemie rechtmäßig sein können. Damit hat es zugleich unfairen Unterstellungen einer zu großen Politiknähe und dem in Pandemiezeiten verbreiteten Narrativ einer Erosion des Rechtsstaats durch Gerichte, die nur noch willfährig abnicken, was Parlamente oder Regierungen entscheiden, den Boden entzogen. Der allgemeine Diskurs über die Pandemie und ihre Bekämpfung könnte sich von der gediegenen Qualität der Entscheidungen eine Scheibe abschneiden und auf mehr Faktentreue, mehr Komplexitäts- und Ambiguitätstoleranz und weniger Gebrüll und Larmoyanz setzen. Dass auch der Verzicht auf Unfug hilfreich ist, macht das Bundesverfassungsgericht auf seine Weise deutlich, indem es unsubstantiierte Behauptungen zur Unzumutbarkeit der Testpflicht in Schulen oder des Maskentragens so einfach nicht gelten lässt.
II. Kernaussagen zur Vereinbarkeit der Maßnahmen mit den Grundrechten
1. Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte
Von besonderem Interesse sind in grundrechtlicher Hinsicht die Ausführungen des Senats zur Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahmen und zur hierfür adäquaten Kontrolldichte. Es sollte zur Akzeptanz der Entscheidungen beitragen, dass das Bundesverfassungsgericht zwar die Entscheidungsspielräume des demokratisch legitimierten Gesetzgebers herausstellt und auch respektiert, sich aber nicht dahinter zurückzieht. Der Senat spricht zwar aus, dass überwiegend nur eine Vertretbarkeitskontrolle vorzunehmen ist, wobei er andeutet, dass sich dies bei längerem Verlauf der Pandemie ändern könnte. Er betont aber, dass angesichts der beträchtlichen Eingriffsintensität der Maßnahmen auch nachgeprüft werden muss, ob die tatsächlichen Annahmen, die den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu Grunde lagen, und die darauf gestützten Einschätzungen zur Vorgehensweise plausibel waren. Dies wird so eingehend geprüft, dass man nicht den Eindruck gewinnt, der Senat verabschiede sich mit der Reduktion der Kontrolldichte im Grunde aus einer ernsthaften Prüfung. Schon der Zweck der einzelnen Maßnahmen wird nicht einfach hingenommen, sondern eingehend nachvollzogen. Dabei wird beispielsweise deutlich, warum es zu kurz greift, wenn gegen nächtliche Ausgangssperren eingewendet wird, dass die Ansteckungsgefahr nachts im Freien gering ist; denn im Wesentlichen geht es um eine kontrollierbare Flankierung zur Durchsetzung von Kontaktbeschränkungen, die durch „gelöstes und geselliges Verhalten“ am Abend nicht unterlaufen werden sollen. Die eingehende Prüfung der Eignung der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens zieht sich nicht darauf zurück, die Annahme der Eignung sei nicht offenkundig verfehlt. Stattdessen werden die einzelnen Maßnahmen bei der Prüfung der Vertretbarkeit der Eignungsprognose in ihrem Zusammenhang gesehen und nach ihrem jeweiligen Beitrag zur Pandemiebekämpfung befragt, wozu sich bei allen noch bestehenden Ungewissheiten einiges sagen lässt. Zur Anknüpfung der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen an den Inzidenzwert 100 weist der Senat darauf hin, dass nahezu alle sachkundigen Dritten die Sieben-Tage-Inzidenz als sensibles Frühwarnzeichen ansehen und dass bei Überschreitung des Schwellenwerts die wichtige Nachverfolgung von Kontaktpersonen nicht mehr möglich ist. Zu den Schulschließungen stellt der Senat fest, es habe vertretbar angenommen werden dürfen, dass geöffnete Schulen einen Beitrag zum Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung leisteten. Bei der Prüfung der Erforderlichkeitsprognose ist wohl die Feststellung am wichtigsten, dass die gleiche Eignung weniger eingriffsintensiver Maßnahmen „in jeder Hinsicht eindeutig feststehen“ muss, was für alle in Betracht kommenden Alternativen verneint wird – eine Prämisse, die für die an Fahrt aufnehmende Diskussion einer allgemeinen Impfpflicht wichtig ist. Auch bei der abschließenden Kontrolle der Angemessenheit kann man dem Bundesverfassungsgericht nicht vorwerfen, sich zu weit aus der Kontrolle zurückgezogen zu haben: Wie eingangs schon erwähnt, werden die belastenden Effekte der Maßnahmen bis hin zur Vereinsamung Alleinstehender, zur Unzulässigkeit von haushaltsübergreifenden Familientreffen, zum Verlust der Gruppenfähigkeit von Kindern und Jugendlichen und zu wachsender häuslicher Gewalt eingehend dargestellt und nicht beschönigt. Zugleich wird aber die Notwendigkeit der Maßnahmen zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter herausgestellt, sowohl in Gestalt der Gesundheit und des Lebens von Menschen als auch in Gestalt der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Es gelingt dem Senat, anschaulich zu machen, warum der Gesetzgeber trotz der massiven Eingriffsintensität seiner Maßnahmen so wie geschehen handeln durfte: Kontaktbeschränkungen „waren und sind“ zur Begrenzung von Infektionen „nach insoweit gesicherten fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ein hochwirksames Mittel“. Entscheidende Bedeutung kommt der Befristung der Maßnahmen und den Bemühungen zu, ihre Auswirkungen abzufedern, wobei es für die Schulschließungen eine Rolle spielt, dass sie erst ab einem Inzidenzwert von 165 vollständig griffen. Bedeutung könnte in Zukunft etwa im Kontext von Geschäftsschließungen noch der Hinweis darauf erlangen, dass staatliche Versäumnisse rechtzeitigen Handelns, die dazu führen, dass irgendwann wieder scharfe Maßnahmen ergriffen werden müssen, das Gewicht der dann erfolgenden Eingriffe in der Abwägung erhöhen. Ob allerdings dieser verfassungspolitisch sympathische Ingerenzgedanke ernsthaft dazu führen kann, dass dem zögerlichen Staat um fünf vor zwölf grundrechtlich die Hände gebunden sind, müsste auch im Hinblick auf Schutzpflichten noch einmal sorgfältig überdacht werden. Auch beim Hinweis auf die Notwendigkeit der kontinuierlichen Beobachtung und Analyse der Pandemie lässt der Senat durchblicken, dass hier noch Luft nach oben ist, etwa im Hinblick auf die relativ späte systematische Erhebung von Daten zur Bedeutung der Schulen für das Infektionsgeschehen. Dass die Einschätzung des Gesetzgebers, die „Bundesnotbremse“ werde die dritte Welle zusammen mit dem damals erst beginnenden Impffortschritt brechen, sich im Nachhinein als zutreffend erwiesen hat, wird gar nicht erwähnt.
Nicht restlos überzeugend ist allerdings der Umgang des Senats mit der Kompetenzfrage im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auch für die Anordnung von Schulschließungen wird aus meiner Sicht überzeugend dem Kompetenztitel für den Infektionsschutz entnommen. Dann aber wird dem Bund bei der Prüfung der Angemessenheit nicht vorgeworfen, dass er nicht selbst für klare Vorgaben für eine Abfederung der belastenden Wirkungen für die Schüler*innen etwa durch Vorgaben für die Quantität und Qualität des Distanzunterrichts gesorgt hat; denn dafür seien ja die Länder zuständig, was nicht näher begründet wird. Aus Kompetenzgründen soll also in der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht verarbeitet werden können, dass – ich kann das natürlich nur punktuell beurteilen – die notwendige Flankierung ausfallenden Präsenzunterrichts im Umfang eines halben Schuljahres durch einen Distanzunterricht mit Hand und Fuß wohl nicht nur im Ausnahmefall unterblieben ist? Abgesehen davon, dass die Länder – wie wir jetzt wissen – aus dem Bildungsgrundrecht dazu verpflichtet gewesen wären, auf den massiven Ausfall von Präsenzunterricht schneller und besser zu reagieren, kann das Kompetenzproblem nicht zu Lasten der Grundrechtsträger*innen gehen. Ob man hier eine Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs für die bildungspolitische Flankierung von Schulschließungen annimmt, dem Bund die Kompetenz für Schulschließungen vorenthält oder jedenfalls von einer Pflicht der Länder (auch) gegenüber dem Bund ausgeht, Schulschließungen bildungspolitisch abzufedern (auf insoweit fehlende Absprachen weist der Senat mit kritischem Unterton hin), mag man unterschiedlich sehen. Jedenfalls aber darf durch die Kompetenzverteilung kein blinder Fleck in der Grundrechtsprüfung entstehen, vor allem dann nicht, wenn die Länder ihren eigenen verfassungsrechtlichen Pflichten nicht nachkommen. Dass die Länder von Verfassungs wegen zur Kompensation wegfallenden Präsenzunterrichts durch Distanzunterricht verpflichtet sind, hat sich durch das Außerkrafttreten der „Bundesnotbremse“ nicht erledigt: Auch ohne flächendeckende Schulschließungen nehmen die Homeschooling-Tage wegen positiver Pooltests, zunehmender Quarantäneanordnungen und eines auch infolge des partiellen Wegfalls der Maskenpflicht wachsenden Ausbruchsgeschehens wieder zu.
2. Bildungsgrundrecht, Belastungsverlagerungen, Grundrechtseingriffe durch Gesetz und vorzeitige Verfassungsbeschwerde
Die Entscheidungen enthalten neben den wichtigen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit auch grundrechtsdogmatische Aussagen von weitreichender Bedeutung, auf die ich nur in aller Kürze hinweisen kann. Grundlegend neu ist die in der Sache vollkommen überzeugende Annahme eines Grundrechts auf schulische Bildung, das Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG entnommen wird und dessen verschiedene Gewährleistungsdimensionen eingehend ausbuchstabiert werden. An der ein oder anderen Stelle hätte man sich mit Blick auf das teils chaotische Vorgehen der Schulpolitik auf Landesebene und auf die zurückhaltende Mobilisierung erforderlicher Finanzmittel allerdings noch klarere Worte vorstellen können. Beispielsweise wird der grundsätzlich zutreffende politische Entscheidungsspielraum über die Priorisierung nur begrenzt zur Verfügung stehender Finanzmittel in Relation zur völlig zu Recht betonten Bedeutung von Schulunterricht für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen doch allzu stark gemacht. Im Kontext der Pandemiebekämpfung wird allerdings unmissverständlich festgestellt, dass es aus dem Bildungsgrundrecht einen Anspruch auf Distanzunterricht gibt, soweit Präsenzunterricht nicht stattfinden kann. Wer miterleben durfte, wie nordrhein-westfälische Schulpolitik mit entfallendem Präsenzunterricht umgegangen ist, weiß um die Bedeutung dieses Anspruchs, der angesichts erster Überlegungen zu verlängerten „Weihnachtsferien“ schon bald relevant werden könnte.
Wichtige Ausführungen finden sich außerdem zum Gleichheitsgrundrecht, zur Rechtsschutzgarantie und zu den Anforderungen an Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG: Die Wahrnehmung, den Schüler*innen und den Kindergartenkindern wäre schärfer zu Leibe gerückt worden als der Arbeitswelt, wird jedenfalls verfassungsrechtlich mit dem Hinweis darauf relativiert, dass die Bereiche nicht ohne Weiteres miteinander vergleichbar seien. Der Hinweis darauf, dass ganz allgemein kein Anspruch auf Belastungsverlagerungen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Grundrechtsträger*innen bestehe, ist von weitreichender Bedeutung und kann hier nicht näher gewürdigt werden. Nicht frei von Zweifeln ist die Argumentation, nach der Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht nicht nur – wie es in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG heißt – „auf Grund eines Gesetzes“, sondern auch durch Gesetz zulässig sind. Der Senat will das aus der Eingriffsqualität gesetzlicher Ausgangsbeschränkungen auch ohne körperliche Zwangswirkung ableiten. Zwingend ist das nicht, da ein erweitertes Verständnis des Grundrechtseingriffs auch nicht rechtfertigungsfähige Eingriffe erfassen kann. Überzeugend ist dagegen die Argumentation, nach der die Rechtsschutzgarantie nicht dadurch verletzt wird, dass Grundrechtseingriffe unmittelbar durch Gesetz und nicht erst durch gesetzeskonkretisierendes Verwaltungshandeln vorgenommen werden. Denn es geht hier nicht darum, einzelfallbezogenes Handeln zum Gegenstand von Gesetzen zu machen und dadurch den Rechtsschutz abzuschneiden, sondern darum, auf die Regelung von Einzelfällen aus triftigen Gründen zu verzichten. Ebenfalls nicht zweifelsfrei ist die Annahme einer gegenwärtigen Betroffenheit der Beschwerdeführenden durch die Regelungen der „Bundesnotbremse“, bevor diese durch die Überschreitung bestimmter Inzidenzwerte überhaupt zur Anwendung kamen (und ohne dass ihr künftiges Eingreifen gesichert feststand). Man kann zwar nachvollziehen, warum hier kein Zulässigkeitsproblem gesehen werden sollte. Doch als allgemeinen Grundsatz möchte man die Verfassungsbeschwerde vor der Zeit vielleicht nicht etabliert wissen.
III. Und jetzt? Verfassungsrechtliche Folgerungen für die künftige Pandemiebekämpfung – Lockdown, Schulschließungen und allgemeine Impfpflicht
Die vom Bundesverfassungsgericht überprüfte „Bundesnotbremse“ gehört der Vergangenheit an. Schon gestern war jedoch zu vernehmen, es brauche jetzt eine neue „Notbremse“. Dass das gerade novellierte Infektionsschutzgesetz bald wieder verschärft werden wird, ist wahrscheinlich; diskutiert und teils auf Landesebene beschlossen werden Verbote oder Einschränkungen von Großveranstaltungen, Schließungen von Bars und Diskotheken und die Verlängerung der Weihnachtsferien – die nächste Gesprächsrunde steht unmittelbar bevor. Was hat das Bundesverfassungsgericht zwischen den Zeilen zu alldem gesagt? Kontaktbeschränkungen nach dem Vorbild der früheren „Bundesnotbremse“ werden nach der jetzigen Entscheidung auch künftig ohne Verfassungsverstoß möglich sein – sie „waren und sind“ nach dem Senat ein hoch wirksames Mittel zur Reduktion von Infektionen. Die Rechtsgüter, die es jetzt zu schützen gilt, sind keine anderen als die vormals geschützten, und sie sind momentan auch nicht weniger bedroht als in der dritten Welle. Eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Ungeimpften ist dabei möglich und naheliegend. Angesichts von Impfdurchbrüchen, der Tatsache, dass es aktuell beim Boostern mangels vorausschauender Planung leider schon wieder mehr Impfwillige als Impfmöglichkeiten gibt, und der Unsicherheiten über die neue Virusvariante könnten jedoch auch darauf gestützte allgemeine Kontaktbeschränkungen zulässig sein, allerdings nur bei enger zeitlicher Begrenzung. Wenngleich der Senat durch eine eigens ausgegliederte Randnummer auf die Feststellung Wert gelegt hat, dass Ausgangsbeschränkungen „nur in einer äußersten Gefahrenlage“ in Betracht kommen, lässt sich dem Beschluss nicht entnehmen, dass sie jetzt ausgeschlossen wären.
Anders sieht es für Schulschließungen aus: Das Bundesverfassungsgericht betont die besonderen Erschwernisse für Kinder und Jugendliche durch den Wegfall des Präsenzunterrichts und weist mehrfach auf die besonderen Belastungen der etwa drei Millionen Grundschüler*innen hin. Zugleich stellt es fest, dass Schulschließungen mit wachsendem Impffortschritt in der Bevölkerung und angesichts des bereits aufsummierten Unterrichtsausfalls schwerer zu rechtfertigen sein werden, weil es dabei weniger um die Eindämmung des pandemischen Geschehens im Kinder- und Jugendbereich als in der Gesamtbevölkerung geht. Solange es bei der Erkenntnis bleibt, dass Schulkinder, für die ein Impfstoff nun zugelassen, aber noch nicht verfügbar ist, nur selten schwer erkranken, lassen sich flächendeckende Schulschließungen verfassungsrechtlich kaum mehr rechtfertigen – schon gar nicht ohne das Angebot eines Distanzunterrichts, der diesen Namen verdient; dabei weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass die Zumutbarkeit etwaiger weiterer Schulschließungen sich auch danach bemesse, ob vorher naheliegende Vorkehrungen wie etwa eine weitere Digitalisierung des Schulbetriebs ergriffen wurden. Hier ist vielerorts noch viel zu tun. Zu der teilweise bereits vorgeschlagenen Verlängerung der bevorstehenden Weihnachtsferien, die – soweit es nicht nur um wenige Tage gehen soll – eine verkappte Schulschließung unter besinnlichem Namen ist, muss man deshalb klar sagen: Ein weiterer pandemiebedingter Ausfall von Präsenzunterricht ohne Kompensation durch Distanzunterricht wäre verfassungswidrig und könnte von den betroffenen Schüler*innen auf der Grundlage ihres Bildungsgrundrechts abgewehrt werden.
Zur allgemeinen Impfpflicht, für die sich gestern Abend der künftige Bundeskanzler ausgesprochen hat, konnte das Bundesverfassungsgericht in seiner Bewertung gänzlich anderer Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung naturgemäß kaum etwas sagen. Woher manche die Gewissheit nehmen wollen, dass die nach Lage der Dinge einzig Erfolg versprechende Maßnahme zur Vermeidung künftiger Wellen mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, bleibt aus rein verfassungsrechtlicher Perspektive allerdings offen. Zweierlei kann an dieser Stelle aus den Beschlüssen mitgenommen werden: Erstens muss die gleiche Eignung einer weniger eingriffsintensiven Maßnahme „in jeder Hinsicht eindeutig feststehen“. Das ist wichtig, weil man sich fragen kann, ob die Impfkampagne der scheidenden Bundesregierung optimal war, ob also alle Möglichkeiten ausgereizt wurden, die Bevölkerung zu überzeugen oder jedenfalls zu überreden, sich impfen zu lassen. Maßnahmen, die unterhalb der Schwelle einer allgemeinen Impfpflicht jetzt noch ergriffen werden könnten und die auch ergriffen werden müssten, wenn und weil ihre gleiche Eignung feststünde, drängen sich mir nicht auf. Die verfassungsrechtlich entscheidende und schwierige Frage, was „Impfpflicht“ im Hinblick auf ihre Durchsetzung im Fall der Nichtbefolgung genau bedeuten soll, ist damit natürlich nicht beantwortet; die begriffliche Unterscheidung von „Impflicht“ und „Impfzwang“ ist hier nicht hilfreich, weil der Zwang eine Modalität der Durchsetzung der Pflicht ist und die Anordnung einer Pflicht unter Verzicht auf jede Durchsetzung auch unterhalb des in der bisherigen Debatte kategorisch ausgeschlossenen körperlichen Zwangs etwa durch Bußgelder auf halbem Wege stehenbleiben würde. Zweitens verdeutlicht der wiederholte Hinweis des Bundesverfassungsgerichts darauf, dass es bei der Bekämpfung der Pandemie um den Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter geht, dass auch tiefgreifende Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein können. Damit besteht ein verfassungsrechtlicher Handlungsrahmen für die Politik, der keineswegs unbegrenzt ist, aber die erforderlichen Spielräume für demokratisch legitimiertes Handeln belässt. Diese Spielräume bestmöglich zu nutzen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, bleibt auch und gerade jetzt die Aufgabe der politischen Organe.
„Die Begrenzung staatlicher Macht ist ein Kennzeichen des modernen demokratischen Verfassungsstaates.“
Das jedenfalls war bislang der Grundsatz des BVErfG und von diesem hat sich das Gericht (nicht erst) mit den beiden Beschlüssen entfernt. Dem Gesetzgeber wurde – um es auf den Punkt zu bringen – ein nahezu grenzenloser Ermessensspielraum zugestanden. Die Überprüfungskompetenz des BVerfG damit aber sogleich auf ein Nullum und die ex-post auf eine ex-ante Betrachtung reduziert.
Der Weg zu weiteren grundrechtseinschränkenden Maßnahmen ist damit geebnet. Die Impfpflicht klopft bereits an die Tür. In diesem Zusammenhang lässt sich der der Autor zu der Aussage hinreißen, dass: “Maßnahmen, die unterhalb der Schwelle einer allgemeinen Impfpflicht jetzt noch ergriffen werden könnten und die auch ergriffen werden müssten, wenn und weil ihre gleiche Eignung feststünde, drängen sich mir nicht auf. ”
Ich möchte ihm entgegenhalten, dass der Ausbau (und eben nicht der Abbau) von Intensivbetten nur eine naheliegende Lösung wäre, die sicherlich mit einer geringeren Eingriffsintensität einherginge.
Denn bei der Bekämpfung der Pandemie geht es eben nicht darum, mittels Automatismen Inzidenzwerte zu unterschreiten, sondern den Gesundheitsschutz und die individuelle Freiheit in eine ausgewogene Balance zu bringen. Das Verfassungsgericht hat aber den Schutz von Leben und Gesundheit als ein Gemeinwohlziel von überragender Bedeutung definiert, dem sich im Ergebnis alles unterzuordnen hat.
Oder, um es einfacher zu sagen: der Zweck heiligte die Mittel.
Sehr geehrter Herr Professor Sauer,
Ihrer Einschätzung, das Bundesverfassungsgericht habe die Bundesnotbremse einer eingehenden verfassungsrechtlichen Kontrolle unterzogen, ohne sich hinter Entscheidungsspielräumen der Politik zu verstecken, vermag ich mich nicht anzuschließen.
Dass Gegenteiliges der Fall war, lässt sich meines Erachtens den beiden Beschlüssen selbst entnehmen. So heißt es dort bei der Darlegung des Prüfungsmaßstabs für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also bei der zentralen Weichenstellung für den Kern der Rechtfertigungsprüfung, jeweils wörtlich (Bundesnotbremse I, Rn. 217 und Bundesnotbremse II, Rn. 135): “Auch bei der Prüfung der Angemessenheit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ([…]; strenger etwa BVerfGE 153, 182 ; […]).” Das Bundesverfassungsgericht räumt damit selbst ein, dass es in den Beschlüssen zur Bundesnotbremse nicht den strengsten in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung anerkannten Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt hat.
Liest man die angegebene Fundstelle nach – es handelt sich um den Beschluss des Zweitens Senats zu § 217 Abs. 1 StGB vom 26. Februar 2020, also aus der Zeit unmittelbar vor der Pandemie – findet man dort – unter Verweis auf ältere Rechtsprechung – die bemerkenswerte Aussage, die Entscheidung des Gesetzgebers unterliege einer “hohen Kontrolldichte”, wenn schwere Grundrechtseingriffe in Frage stünden. Dass es bei den Entscheidungen zur Bundesnotbremse um solche schweren Grundrechtseingriffe geht, stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch wiederum in beiden Beschlüssen selbst fest (vgl. Bundesnotbremse I, Rn. 291 und Bundesnotbremse II, Rn. 136). Eine lückenlose verfassungsrechtliche Argumentation hätte daher nach meiner Auffassung eine Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, warum die “hohe Kontrolldichte” hier nicht zur Anwendung zu bringen ist. Da diese jedoch vollständig fehlt, erscheint der Verdacht, dass hier nicht das Ergebnis aus dem verfassungsrechtlichen Maßstab abgeleitet, sondern umgekehrt der – reduzierte – verfassungsrechtliche Maßstab am gewünschten Ergebnis orientiert wurde, jedenfalls nicht fernliegend.
Was, wenn nicht das, ist ein Verstecken hinter Entscheidungsspielräumen der Politik?
Thomas Lammers
Dem Lob für die Entscheidung des BVerfG zur “Bundesnotbremse” vermag ich mich jedenfalls in dieser Breite nicht anzuschließen. Dies gilt für eine ganze Reihe von Gesichtspunkten: Konnte die Freiheitsentziehung wirklich “durch Gesetz erfolgen? Zeigt nicht die sehr langsame Behandlung der gegen die Bundesnotbremse gerichteten Eilanträge durch das BVerfG ganz exemplarisch, dass hier bei schwersten Grundrechtseingriffen wegen der Wahl eines selbstvollziehenden Gesetzes als Handlungsform empfindliche Rechtsschutzlücken geschaffen wurden?
Ganz besonders gilt dies aber m.E. für die Entscheidung zur Frage der nächtlichen Ausgangssperre, die in Abwägungs- und Begründungstiefe wesentlich hinter der übrigen Entscheidung zurückbleibt und bei deutlich geringerer Kontrolldichte zu einem nicht überzeugenden Ergebnis führt.
Insbesondere wurde vom BVerfG die nächtliche Ausgangssperre mehr oder minder monolithisch geprüft, ohne eingehend zu analysieren, ob die konkrete Ausgestaltung der Regelung verfassungsgemäß oder “überschießend” war. Beobachtet wurde insofern nur, ob gewisse Ausnahmen die Eingriffstiefe abgemildert haben, nicht aber, ob eine mildere Gestaltung gleich geeignet jedenfalls aber verhältnismäßiger gewesen wäre.
Wichtig sind dabei im Ausgangspunkt zwei Gedanken. Erstens: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer Eignung der Ausgangsperre zu einer Beeinflussung des Infektionsgeschehens waren (und sind) überaus begrenzt und bleiben etwa weit hinter der Verlässlichkeit der Erkenntnisse bezüglich der Übertragungswege der Infektion und der Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen als solche zurück. Die in Rn. 279 und Rn. 280 zusammengefassten Erkenntnisse (die sich lediglich auf die Stellungnahme des “MODUS-COVID-Teams” stützen) werden vom BVerfG auf die Formel gebracht sie ließen die Maßnahme “nicht als offensichtlich wirkungslos oder gar kontraproduktiv” erscheinen. Das ist – bei einer sehr einschneidenden Maßnahme – bereits für sich genommen ein sehr niedriger Maßstab für die Kontrolle. Die dort wiedergegebene Stellungnahme bezieht sich zudem auf die Wirksamkeit einer nicht näher definierten “Ausgangssperre”, ohne aber auf die genaue Ausgestaltung einer solchen Ausgangssperre (insbesondere Zeitdauer und Ausnahmen) einzugehen. Es bleibt mit anderen Worten nicht nur weitgehend unklar, welchen Nutzen eine “Ausgangssperre” hatte, sondern es ist auch völlig offen geblieben – und nicht erwogen worden – ob eine “mildere” Ausgestaltung der Ausgangssperre die (unklare) Wirkung herabgesetzt hätte.
Dies ist – zweitens – vor allem auch deshalb relevant, weil die konkret gewählte Ausgestaltung der nächtlichen Ausgangssperre ganz bewusst und auch Verhaltensweisen umfasste, die für sich genommenen wissenschaftlich eindeutig keinerlei Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen haben konnten. So kann etwa bei allein ausgeübter, körperlicher Bewegung offensichtlich keine Übertragung stattfinden. Diese Tätigkeit war allerdings ganz bewusst nur noch in einem Zeitraum von 22 Uhr bis 24 Uhr zulässig (vgl. Rn. 262), obwohl die Ansteckungswahrscheinlichkeit zu späterer Stunde nicht zunimmt.
Ob die Unterbindung nach dem Infektionsschutzgesetz zulässiger privater Kontakte im durch die Kontaktbeschränkungen gestatteten Rahmen (vgl. Rn. 280) überhaupt ein legitimes Ziel einer Regelung sein konnte oder nicht, kann dabei im Ergebnis sogar offen bleiben. Es erscheint jedenfalls nicht zweifelsfrei, dem Grundrechtsberechtigten die Ausübung derjenigen Freiheiten, die gerade zur Schaffung der Verhältnismäßigkeit verblieben sind (sprich: die Ausnahmen von den Kontaktbeschränkungen), im selben Atemzug durch flankierende Maßnahmen besonders schwer zu machen, um ihn von der Grundrechtsausübung “indirekt” abzuhalten. Dafür mag ein Bauchgefühl sprechen, am Abend sei das Risiko von Verstößen gegen die Kontaktbeschränkungen besonders hoch, wobei die Berechtigung dieser Annahme (Größe des Risikos? Abhängigkeit von Ort und Wochentagen?) unklar bleibt.
Entscheidend ist diese Frage letztlich nicht, weil verschiedene Aktivitäten – wie etwa die alleine stattfindende, sportliche Betätigung – von vorneherein nicht dazu dienen, sich von oder zu privaten Treffen zu bewegen. Für solche Aktivitäten bleibt mithin nur das Argument der Kontrollierbarkeit der Ausgangssperre insgesamt übrig. Daran ist aber bereits sehr problematisch, dass einem Einzelnen, der sich völlig “unverdächtig” und “ungefährlich” verhält ein Verhalten (nur) deshalb untersagt wird, weil nicht kontrollierbar ist, ob er nicht doch etwas Verbotenes beabsichtigt. Durch das bußgeldbewehrte Verbot wurde dabei nicht nur – was gravierend genug gewesen wäre – die Beweislast für “ungefährliches” Verhalten umgekehrt, sondern die Möglichkeit zum auch nachträglichen Nachweis “ungefährlicher” Tätigkeit im Außenbereich gänzlich abgeschnitten. Das konkrete Handeln des Einzelnen spielt damit in diesem Bereich (abgesehen von engen und teils unklar gefassten Ausnahmetatbeständen) keine Rolle mehr, da er i.E. als “unwiderleglich vermuteter Infektionscontainer” einer schematischen Behandlung unterworfen wird. Ein dringendes, nachweisbare Bedürfnis die individuelle Freiheit in dieser Form zu beschneiden und durch einen Gedanken des abstrakten Kollektivschutzes zu ersetzen, ist nicht erkennbar und auch der Entscheidung des BVerfG nicht zu entnehmen. Wieso etwa die Zulässigkeit der “allein ausgeübten, körperlichen Bewegung” zwischen 22 Uhr und 24 Uhr die Effektivität der Kontrollmaßnahmen nicht beeinträchtigen sollte, nach 24 Uhr aber schon, ist nicht erkennbar. Eher ist davon auszugehen, dass sich eine Kontrolle von im freien befindlichen Einzelpersonen nach 24 Uhr besser durchführen lässt, da mit fortschreitender Uhrzeit insgesamt weniger Personen dort anzutreffen sind. Es wäre daher eher naheliegend gewesen, die Ausnahmetatbestände zu späterer Uhrzeit “weicher” auszugestalten, Jedenfalls finden sich aber im Beschluss keine Ausführungen dazu, ob und inwieweit eine “weichere” Gestaltung der Ausgangssperre die ohnehin unzureichend belegte Effektivität der Maßnahme negativ beeinflusst hätte.
Wenig überzeugend sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des BVerfG dazu, dass die Eingriffsintensität durch die Erlaubnis der Bewegung im öffentlichen Raum bis 24 Uhr abgemildert worden sei (Rn. 301), wo doch die richtige Frage gewesen wäre, ob es für die zeitliche Begrenzung solcher Tätigkeit einen (willkürfreien) Grund gab. Die Feststellung, der Aufenthalt außerhalb der eigenen Wohnung habe für die meisten Menschen in der Zeit von 22 bis 5 Uhr eine geringere Bedeutung (Rn. 301), mag als “Nachtwächterweisheit” empirisch zutreffen. In einer Grundrechtsprüfung, die immer an den Verhältnissen und der Lebensgestaltung des Einzelnen ansetzen muss, kann eine derartige “Durchschnittsbetrachtung” gleichwohl nicht entscheidend sein. Denn die individuelle Lebensgestaltung der Beschwerdeführer verdient keinen geringeren grundrechtlichen Schutz, nur weil sie “untypisch” wäre.
Wenn das BVerfG abschließend in Rn. 303 nochmals (wenngleich in eher beschönigender Wortwahl) die Unsicherheit der Wirkungen einer (wie auch immer definierten) nächtlichen Ausgangssperre betont und sich zugleich auf eine bloße Vertretbarkeitskontrolle beschränkt, wird die Grundrechtskontrolle für den grundrechtlich sehr belastenden Bereich nächtlicher Ausgangssperren weitgehend zurückgedrängt. Es ist bedenklich – und wird hoffentlich keine “Schule” machen – dass das BVerfG auch dort keinen individuellen Grundrechtsschutz gewährt, wo unproblematische, individuelle Verhaltensweisen auf diffus abgegrenzte und (für diesen Bereich) weitgehend nicht belegte Gemeinwohlbelange treffen.
Jedenfalls für diesen Teilbereich wurde bedauerlicherweise die Chance verpasst, den weitestgehend abgewogenen und sinnvollen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verfassungsrechtliche Leitplanken zu geben und gleichzeitig zu demonstrieren, dass das Grundgesetz auch und gerade in Extremsituationen Individualschutz vor möglicherweise gut gemeinten, aber überschießenden Maßnahmen gewährt.
Nach dem BVerfG ist es zulässig, eine an sich ungefährliche Ausübung der körperlichen Bewegungsfreiheit zu verbieten, wenn dieses Verbot als Teil eines nicht offensichtlich wirkungslosen Gesamtkonzepts die Durchsetzung einer anderen Maßnahme des Gesundheitsschutzes erleichtert – und das unmittelbar per Gesetz, also ohne gerichtlichen Rechtsschutz. Kann das richtig sein – und wo führt das hin?
(1) In die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG soll laut dem BVerfG auch unmittelbar durch Gesetz eingegriffen werden können. Die Begründung (Rn. 267-273) ist kurz und nahezu frei von Verweisen auf bisherige Rechtsprechung oder gar auf Entscheidungen anderer Gerichte. Der Wortlaut „auf Grund eines (förmlichen) Gesetzes“ wird für nicht „zwingend“ erklärt, gestützt durch einen selektiven Vergleich nur mit Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG, also nicht auch anderen Artikeln (Rn. 269). Es folgen sehr dünne entstehungsgeschichtliche Ausführungen, die „kein klares Bild“ zeichnen (Rn. 270). Im Kern steht eine teleologische Argumentation (Rn. 271 f.), die sprachlich auffällig und in der Sache wenig überzeugend ist: Die Freiheit der Person schützt nicht „nunmehr“, also erst seit dieser Entscheidung auch vor staatlichen Eingriffen ohne körperliche Zwangswirkung; „nichts spricht dafür“ gehört eher in anwaltliche Schriftsätze; der Gesetzgeber „wird“ nicht durch die Entscheidung „selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden“, sondern ist es ohnehin nach Art. 1 Abs. 3 GG; Gebrauch „von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit“ würde das Parlament gerade auch machen, wenn es eine Behörde zu einem entsprechenden Vollzugsakt befugte; dass „kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz“ drohe, ist nicht mehr als eine These – zumal ein Verlust an Rechtsschutz ja offenkundig ist.
Insgesamt ist das nicht im prüfungsrechtlichen Sinne falsch, aber deutlich weniger plausibel als die Argumentation von Tristan Wißgott (https://staging.verfassungsblog.de/keine-self-executing-ausgangssperre/) – die nicht einmal zitiert wird.
(2) Die Entscheidung hält die Freiheitsbeschränkungen als Maßnahmen von „erhebliche[r] Eingriffsintensität“ und mit „außerordentlicher Streubreite“ für verhältnismäßig (Rn. 274-303). Dabei wird zwar erwähnt, dass Ausgangsbeschränkungen lediglich Instrumente „der Kontrolle und Förderung der Einhaltung der […] Kontaktbeschränkungen“ (Rn. 275) sind. Weil, anders als der Kontakt mit einer anderen Person, das Verlassen der Wohnung selbst nicht infektiös sein kann, tragen Ausgangssperren bekanntlich allenfalls mittelbar zur Eindämmung des Pandemiegeschehens bei, indem sie private Zusammenkünfte zeitlich begrenzen und erschweren können. Eine auch nur angedeutete verfassungsrechtliche Grenze für eine derartige Vorverlagerung – entsprechend der polizeirechtlichen Gefahrenschwelle – zieht das BVerfG aber nicht: Alles ist gesetzgeberischer Einschätzungsspielraum, solange (vermeintlich) „flankierende“ Maßnahmen nicht „offensichtlich wirkungslos oder gar kontraproduktiv“ (Rn. 279) sind. Eine Parlamentsmehrheit, die eine solche Prüfung nicht bestünde, müsste sich schon sehr ungeschickt anstellen. Leider ist auch nicht ersichtlich, dass das BVerfG nur für eine „äußerste Gefahrenlage“ (Rn. 305) im Bereich des Infektionsschutzes derart weiche freiheitrechtliche Standards vertritt – Übertragungen auf das Feld der „Inneren Sicherheit“ könnten zu befürchten sein.
Auch Vorgaben für die Auswahl der Mittel, die das gesetzgeberisch verfolgte Ziel erreichen sollen, macht das BVerfG nicht. Dabei war hier der Missstand mit Händen zu greifen, dass Ausgangssperren das Privatleben noch breiter und tiefer als andere Maßnahmen beeinträchtigten, ohne dass zugleich im Arbeitsleben auch nur halbwegs effektive Maßnahmen gegen deutlich riskantere Verhaltensweisen getroffen worden wären (beispielsweise durch strengere Masken- und Home-Office-Pflichten für Unternehmen). Das Gericht verengt stattdessen künstlich den Blick darauf, „ob auf das Element der Ausgangsbeschränkung[en] hätte verzichtet werden können, ohne das übergeordnete Ziel der Kontaktbeschränkungen insgesamt zu gefährden“ (Rn. 282). Das ist die falsche, jedenfalls eine bislang an dieser Stelle der Verhältnismäßigkeitsprüfung ungewöhnliche Frage – so verstanden, dürfte kaum je etwas nicht erforderlich sein.
Im Übrigen fällt nicht nur die angekündigte Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Gesamtkonzepts (Rn. 290) letztlich flach: Auch die Situationen der Beschwerdeführenden oder andere typische Fallkonstellationen werden im Rahmen der Verhältnismäßigkeit nicht einmal kursorisch betrachtet. Damit bleibt wenig übrig vom Rechtsschutz gegen das selbstvollziehende Gesetz.
(3) Wen, außer vielleicht Claire Underwood, beeinträchtigen denn ernsthaft nächtliche Ausgangssperren, wenn es Ausnahmen gibt für Notfälle und andere berechtigte Zwecke – bis hin zum Gassigehen mit dem deutschen Lieblingshaustier? Die Frage so zu stellen, hieße die Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Freiheitsbeschränkungen aufzugeben. Es bleibt nur zu hoffen, dass das BVerfG mit seiner Entscheidungsbegründung nicht dazu beiträgt, den während der Pandemie ohnehin grassierenden „Not kennt kein Gebot“-Illiberalismus weiter zu befördern.