Generalanwältin Eleanor Sharpston: mit dem Brexit verlieren wir eine Kraft für das europäische Asylrecht
In den kommenden Monaten wird das Vereinigte Königreich wohl aus der Europäischen Union ausscheiden. Ob am 29. März oder nach Fristverlängerung erst später – der Austritt ist in greifbare Nähe gerückt. Es gibt viele Gründe, den Brexit zu beweinen. Auf Seiten der EU ist einer davon Generalanwältin Eleanor Sharpston. Sharpston hat speziell für das europäische Asylrecht in den letzten Jahren eine zentrale Rolle gespielt. Sie schrieb die Schlussanträge in A.S. und Jafari, in Karim, Ghezelbash und Mengesteab, in Bolbol und El Kott, und die Liste lässt sich noch eine Weile fortsetzen. Theresa Mays Bemühungen, Sharpston auch nach Austritt noch am Gerichtshof zu halten, waren nicht erfolgreich. Zwar wird der Gerichtshof weiter für Streitigkeiten zuständig sein, die Vereinbarungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (UK) oder die Rechte von EU-Bürgern in UK betreffen, aber ohne britischen Richter oder britische Generalanwältin.
Sharpstons Schlussanträge prägten das Asylrecht, weil sie es mehrfach schafften, in diesem Minenfeld mitgliedstaatlicher Empfindlichkeiten und Kraftmeiereien klug zu differenzieren und unerwarteten Raum für Interpretation zu finden. Sharpston sah – und benannte – bei der Auslegung des Rechts die Wirklichkeit, welche den einzelnen Fall umgab. Das wohl markanteste Beispiel dafür war ihr Schlussantrag zu den Fällen A.S. und Jafari, in welchen es um die rechtliche Bewertung der dichten Entwicklungen vom Sommer 2015 bis Frühjahr 2016 ging. Konkret hatten Österreich und Slowenien dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, wie legale und illegale Einreise im Rahmen der Dublin-Verordnung mit den entsprechenden Zuständigkeiten abzugrenzen seien. Obwohl es nicht um Deutschland ging, sahen viele in dem Fall auch die ersehnte Bewertung des Handelns Merkels – eine Diskussion, von der manche offenbar nicht genug bekommen können.
Sharpston hatte argumentiert, dass angesichts der außergewöhnlichen Umstände und des koordinierten Vorgehens der Mitgliedstaaten die Einreise nicht als „illegal“ zu bewerten und daher nicht der Staat der ersten Einreise, sondern der, in welchem erstmals ein Asylantrag gestellt wurde, nach der Dublin-Verordnung zuständig sei. Der Gerichtshof war dem nicht gefolgt, mit durchaus überzeugenden Gründen (wie Constantin Hruschka hier darlegte). Doch unabhängig von diesem Ergebnis bleibt Sharpstons Schlussantrag ein bemerkenswerter Text. In 18 einleitenden Absätzen fasst sie das Dilemma des Dublin-Systems sowie die Ereignisse von 2015 zusammen. „Betrachtet man Europa auf einer Landkarte und legt eine Karte der Europäischen Union darüber“, schreibt sie, „treten einige offenkundige Wahrheiten zutage.“ Dass das Zuständigkeitssystem der EU auf der wahrheitsfernen Fiktion aufbaut, in allen Staaten träfen ähnlich viele Asylsuchende ein, ist natürlich eine Binsenweisheit – aber eine, die es lohnt immer wieder zu benennen, so lange das System unverändert fortbesteht. Daneben ist Sharpstons Zusammenfassung der Entwicklung vom Mai 2015 bis Februar 2016 wieder-lesenswert, weil sie konkret und pragmatisch die Herausforderungen und Entscheidungen beschreibt. Ihr Hinweis auf die Außergewöhnlichkeit der Situation ist, auch wenn man ihrem Ergebnis nicht zustimmt, ein Korrektiv gegenüber der Panik, welche die politische Diskussion prägt. Ein Weg, das Flüchtlingsrecht auszuhöhlen, ist, es nicht angesichts konkreter Asylsuchender, sondern angesichts einer hypothetischen, unbegrenzten Zahl auszulegen. Sharpstons Schlussantrag in A.S. und Jafari suchte mitten in einem wild ums Migrationsthema tanzenden Europa diesen Blick auf die Wirklichkeit, ohne dabei die rechtlichen Festlegungen als irrelevant beiseitezuschieben.
Subjektive Rechte unter der Dublin-Verordnung
Eine herausragende Rolle spielten Sharpstons Schlussanträge hinsichtlich der Herausbildung von subjektiven Rechten unter der Dublin-Verordnung. Dass Asylsuchende die fehlerhafte Anwendung der Dublin-Verordnung in Verfahren rügen können, ist eine der wichtigsten Entwicklungen des europäischen Asylrechts in den letzten Jahren. (Ich habe dazu ausführlicher anlässlich der Entscheidung Mengesteab geschrieben.) Für diese Entwicklung war die Reform der Verordnung von Dublin-II zu Dublin-III erheblich; aber es bedurfte der Auslegung, was diese Reform tatsächlich für die Frage subjektive Rechte bedeutet. Generalanwalt Niilo Jääskinen schrieb mit Blick auf die Dublin-II-Verordnung im Schlussantrag zum Fall Kaveh Puid noch, sie sei „nicht darauf gerichtet, Rechte des Einzelnen zu begründen, sondern die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu ordnen“ (para. 58). Dem folgte das Gericht damals, und bestätigte dieses Verständnis im Fall Abdullahi. Nach der Reform war es Eleanor Sharpston, die die Schlussanträge in den Fällen Karim und Ghezelbash schrieb und diese sorgfältig vom Fall Abdullahi abgrenzte. Sie begründete in zwei getrennten Schlussanträgen, weshalb die Dublin‑III-Verordnung nicht mehr als rein zwischenstaatliches Instrument verstanden werden kann (Antrag Ghezelbash, para. 70), und Asylbeantragende daher die fehlerhafte Anwendung der Kriterien geltend machen können (Antrag Karim, para. 33, 46). Der EuGH folgte dem und erweiterte dieses Verständnis im Fall Mengesteab, für welchen Sharpston ebenfalls den Schlussantrag schrieb. Zuletzt bestätigte er die Rügbarkeit von Dublin-Vorgaben durch Asylsuchende im Fall Shiri – auch hier schrieb Sharpston den Schlussantrag.
Nun lässt sich der Einfluss der Generalanwälte natürlich nie genau messen: Hätte der Gerichtshof mit einem anderen Schlussantrag anders entschieden? Inwiefern haben Ergebnis und Argumentation des Schlussantrags die Rechtsprechung, aber auch den Diskurs über das Recht gestaltet? Das lässt sich nur einschätzen, kaum nachweisen. Manches spricht dafür, dass Sharpston einen Anteil an dieser Entwicklung hatte.
Verantwortungsteilung im GEAS
Es sähe womöglich schlechter aus ohne Eleanor Sharpston, aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht gut steht um das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Die Kommission hat ihre Pläne, die Dublin-Verordnung zu reformieren, wegen des Widerstands von Mitgliedstaaten aufgegeben. Dabei besteht Einigkeit, dass die gegenwärtige Situation mit sehr ungleichen Asylanerkennungsaussichten, Anreizen zur Weiterreise, langwierigen Dublin-Verfahren und unterschiedlich erfolgreichen Bemühungen um Dublin-Überstellungen ungerecht, aufwendig und durch und durch dysfunktional ist. Das wirkt sich auch auf die Situation an den europäischen Außengrenzen aus. Fast wöchentlich wird gegenwärtig um die Aufnahme einiger dutzend Asylsuchende gerungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen wie Sea Watch im Mittelmeer gerettet haben. Italien verweigert Schiffen die Einfahrt in Häfen und fordert andere Mitgliedsstaaten auf, zuerst die Aufnahme zuzusagen. Gegen Innenminister Matteo Salvini ist in Sizilien eine strafrechtliche Anklage anhängig wegen Freiheitsberaubung von 177 Migranten, die im August sechs Tage an Bord eines Rettungsschiffs festsaßen; die politische Entscheidung, das Verfahren gegen den Innenminister zuzulassen, steht noch aus.
Doch auch von der Person Salvini abgesehen hat sich der Streit über Verantwortungsteilung für im Mittelmeer Gerettete in eine katastrophale Sackgasse bewegt. Über jede einzelne Aufnahme zu verhandeln, beansprucht Energie, die anders besser eingesetzt wäre. Der Streit geht zulasten der Asylsuchenden, die auf Schiffen festsitzen, vor allem aber zulasten derer, die nicht gerettet werden können, weil die Schiffe vor Häfen warten. Ende Januar entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte per einstweiliger Maßnahme, dass Italien zwar nicht verpflichtet sei, die Asylsuchenden an Land zu lassen, wohl aber, angemessene medizinische Versorgung, Essen, Wasser und sonstige notwendige Grundmittel bereitzustellen. Es ist eine fabrizierte Krise, die nun humanitäre Mindestversorgung erfordert.
Angesichts dieses Patts im mitgliedstaatlichen Streit über Zuständigkeit lohnt es eine Argumentationslinie Sharpston im Schlussantrag zum Fall Mengesteab in Erinnerung zu rufen: Da warf sie die – im Vorabentscheidungsersuchen selbst nicht gestellte – Frage auf, ob der Küstenstaat eigentlich tatsächlich unter Artikel 13 Abs. 1 der Dublin-Verordnung für Personen verantwortlich ist, die nach einer Such- und Rettungsaktion an Land gebracht werden. Die Passage (ab para. 48) ist im Ganzen lesenswert. Unter anderem schreibt Sharpston da (in para. 50): „Es scheint eine unausgesprochene Annahme zu geben, dass potenzielle Antragsteller auf internationalen Schutz, die nach dem Übersetzen auf dem Seeweg im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ankommen, die Außengrenzen dieses Mitgliedstaats zwangsläufig im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung ,illegal’ überschritten haben müssten. Diese Vermutung dürfte sich meines Erachtens nicht in jedem Fall zwangsläufig als richtig erweisen.“
Mir geht es mir hier nicht darum, die Frage in der Sache zu diskutieren. Es ist auch klar, dass es kaum in der Macht des Gerichtshofs steht, den mitgliedstaatlichen Streit über Zuständigkeit aufzulösen – das ist Aufgabe des europäischen Gesetzgebers. Sharpstons Argumentation ist aber ein Beispiel kluger und wirklichkeitswacher Rechtsauslegung: Sie zeigt, wie es möglich ist, den Text von Normen immer wieder unter Bezugnahme auf seine Gründe und mit Blick auf die gegenwärtige Situation aufzuklappen. Ein Aspekt dabei ist ihre ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Kriterium des „illegalen Überschreitens“, im Schlussantrag zu Mengesteab ebenso wie in dem zu A.S. und Jafari. Würde eine Person unbemerkt an Land gehen und sich später an staatliche Stellen wenden, argumentiert sie in ersterem, könne man wohl von einem illegalen Überschreiten der Grenze sprechen. Aber wenn eine Person auf hoher See gerettet und anschließend an Land gebracht wird? Sharpston weist auf die sich überlagernden Regeln des internationalen und des Europäischen Flüchtlingsrechts sowie des internationalen Seerechts hin.
Was stattdessen Zuständigkeitsregel sein sollte, führt sie in diesem Exkurs in Mengesteab nicht aus; angesichts des Vorschlags in A.S. und Jafari wohl der Staat, in dem ein Asylantrag gestellt wird. Doch selbst wenn man das nicht für überzeugend hält, bewirkt die Argumentation eines: Sie wirft ein neues Licht auf die Grundlage, auf der Mitgliedstaaten über Verantwortungsteilung verhandeln, und hebt die gemeinsame und europäische Natur der Seenotrettung im Mittelmeer hervor. In diesem Sinn betont Sharpston die politischen Bekenntnisse zum Flüchtlingsschutz und die Forderungen, die Todesfälle im Mittelmeer zu mindern. Solche Bekenntnisse und Forderungen – wie aktuell beispielsweise vom Kommissar für Migration Dimitris Avramapoulous – sind natürlich kein Auslegungsfaden für EU-Recht. Aber es ist Teil des Problems europäischen Asylrechts, dass politische Rhetorik und tatsächliches Handeln oft zu weit auseinander klaffen. Das Recht leidet unter dieser Lücke zwischen Lippenbekenntnissen und Missachtung, zwischen dem Selbstbild Europas und den Zuständen in griechischen Hotspots. Die Lücke zu verkleinern, wird für das Fortbestehen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zentral sein; die Mittel der Judikative sind dabei begrenzt. Aber Sharpstons Schlussanträge schafften es oftmals, in der Auslegung des Rechts die rahmende Politik in einer Weise in den Blick zu nehmen und zu benennen, die dem Klaffen entgegenwirkte.
Dana, dein Aufsatz ist wirklich sehr lesenswert, und dieser wurde von Eleanor Sharpston selbst gelobt.