12 December 2019

Giving a Toss about the Social Media Cut and Thrust

Wahlkampf politischer Parteien in sozialen Netzwerken

Die aktuelle Wahl in Großbritannien wird schon jetzt als “fake news and disinformation general election” beschrieben. Wie auch immer die heutige Wahl ausgeht, klar ist, dass auch politische Parteien sich während des Wahlkampfs vor allem in sozialen Netzwerken äußerst fragwürdiger Methoden bedient haben. Ein Blick in die deutsche Rechtsordnung zeigt, dass eindeutig täuschendes Verhalten politischer Akteure nicht mit der Verfassung vereinbar wäre. Darüber hinaus besteht jedoch ein Flickenteppich gesetzlicher Regelungen, der Wahlwerbungen politischer Parteien in sozialen Netzwerken keine ausreichenden Grenzen setzt.

Während des ersten TV-Duells zwischen Premierminister Boris Johnson und Herausforderer Jeremy Corbin benannte die britische Conservative Party einen offiziell der Partei zugeordneten Twitter-Account, @CCHQPress, in „factcheckUK“ um. Die damals knapp 76.000 Follower des Accounts erhielten in der Folge mit dem Wort „FACT“ beginnende Tweets, die Parteibotschaften oder in tatsächlicher Hinsicht sehr fragwürdige „Fakten“ verbreiteten. Kurz nach Ende der Debatte nahm das Profil wieder seine übliche Gestalt an. Die gezielte Verdeckung eines offiziellen Partei-Accounts wirft die Frage nach Regeln für den digitalen Wahlkampf neu auch in Deutschland auf.

Verfassungsrechtlicher Status von Parteien

Zur Beurteilung der Rechtsstellung von Parteien im Wahlkampf ist zunächst ihre verfassungsrechtliche Stellung zu betrachten. Ob der fehlenden Definitionskompetenz des Gesetzgebers (vgl. § 2 Abs. 1 PartG) handelt es sich bei Parteien i.S.d. Art. 21 Abs. 1 GG anerkanntermaßen um Vereine des bürgerlichen Rechts, die durch eine regelmäßige Teilnahme an Wahlen auf die politische Willensbildung des Volkes Einfluss nehmen.  Die Pflicht, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, besteht dabei qua Verfassungsauftrag und ist das Charakteristikum aller politischen Parteien. Ihre Rolle muss so verstanden werden, dass sich die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk realisieren kann. Um diesen Verfassungsauftrags zu erfüllen, nehmen die Parteien eine Vermittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft ein und entziehen sich so nicht zuletzt auch in der Wahrnehmung von Wählern und Bürgern gewissermaßen der Dichotomie zwischen staatlichem und privatem Dasein. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass Parteien vom Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite als grundrechtsberechtigt und auf der anderen Seite als im Organstreitverfahren beteiligtenfähig angesehen werden. 

Unbeschadet dieser einzigartigen Rechtsstellung steht hinsichtlich der Parteikommunikation indes fest, dass es sich dabei nicht etwa um staatliche Öffentlichkeitsarbeit handelt, die unmittelbar an Grundrechte gebunden wäre. Vielmehr lässt sich das Informationshandeln von Parteien auf die Wahrnehmung der freiheitlichen Kommunikationsgrundrechte stützen, auch wenn spätestens seit der Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr allein die Rechtsform über die bedeutsame Grenze von Grundrechtsbindung und -berechtigung entscheidet. Ein “Parteienprivileg” zugunsten politischer Parteien bei der Auslegung der Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht jedoch ausdrücklich verneint. Gleichwohl ergeben sich damit im Gegensatz zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit für die Parteien hinsichtlich ihrer Kommunikation mit den Bürgern deutlich größere Spielräume. Ausdrückliche Begrenzungen bestehen für sie nicht. Lediglich einzelne einfachgesetzliche Regelungen, denen – so viel sei vorweggenommen – kein vorausschauendes Regelungskonzept zugrunde liegt, beschränken das Informationshandeln im Wahlkampf. All dies lässt sich damit erklären, dass die Parteien der Konzeption des Grundgesetzes nach trotz ihrer hybriden Funktion primär als Sprachrohr der gesellschaftlichen Willensbildung dienen. Dies beruht darauf, dass die Parteien erheblich an der Volkswillensbildung mitwirken, die wiederum in die Willensbildung der Staatsorgane einfließt und schließlich Grundlage aller verbindlichen Hoheitsentscheidungen wird.

Schutz der Wählerwillensbildung

Unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Freiheiten und ihres Verfassungsauftrags sind die Grenzen der Wahlwerbung politischer Parteien zu bestimmen. Die von Art. 21 Abs. 1 GG hervorgehobene Willensbildung des Volkes wird durch verfassungsrechtliche wie einfach-gesetzliche Normen gesichert. Für den Wahlakt ist insbesondere die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Freiheit der Wahl zu beachten. Diese umfasst einerseits den Schutz des Wahlvorgangs selbst; andererseits konstituiert er im zeitlichen Vorfeld auch einen Schutz der Phase der Wahlvorbereitung. Wahlberechtigte sollen „ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können“ (BVerfGE 44, 125, 139). Wähler müssen daher in allen Verfahrensstadien einer Wahl gegen Zwang, Druck und alle Beeinflussungen auch durch Parteien geschützt sein, die die freie Willensentscheidung ernstlich beeinträchtigen.

Entsprechend konkretisiert der einfach-gesetzliche Rechtsrahmen verschiedene Grenzen für die Wahlwerbung. § 107a StGB bestraft – mit einem sehr engen Anwendungsbereich – das Herbeiführen eines unrichtigen Wahlergebnisses. Gem. § 32 I BWahlG und äquivalenten Regelungen in den Landeswahlgesetzen (z.B. § 38 LWahlG SH) sind während der Wahlzeit in und an dem Gebäude, in dem sich der Wahlraum befindet, sowie unmittelbar vor dem Zugang zu dem Gebäude jede Beeinflussung der Wähler durch Wort, Ton, Schrift oder Bild sowie jede Unterschriftensammlung verboten.

Jenseits dieser auf den Wahlakt selbst beschränkten Regelungen und weiterer strafrechtlich erfasster Verhaltensweisen existieren punktuelle Regelungen für spezielle Formen der Wahlwerbung. Wahlsichtwerbung durch Plakate im öffentlichen Straßenraum stellt eine Sondernutzung dar, die eine Sondernutzungserlaubnis nach dem jeweiligen Straßen- und Wegegesetz des Landes erforderlich macht. Parteien haben im Regelfall einen Anspruch auf die Erteilung einer solchen Erlaubnis zum Aufstellen von Wahlplakaten, der zeitlich auf unmittelbare Wahlkampfzeiten (deren Bestimmung freilich uneinheitlich erfolgt) beschränkt ist. Dem straßenrechtlichen Regime korrespondiert für den Bereich des Rundfunks § 42 RStV, wonach Parteien während ihrer Beteiligung an den Wahlen zum Deutschen Bundestag bzw. für das Europäische Parlament gegen Erstattung der Selbstkosten angemessene Sendezeit einzuräumen ist, wenn mindestens eine Landesliste bzw. ein Wahlvorschlag für sie zugelassen wurde. Auf die Nutzung von kommunalen öffentlichen Einrichtungen durch Parteien etwa für Parteitage kann ein Anspruch bestehen, soweit sie innerhalb des Widmungszwecks liegt und sich im Rahmen des geltenden Rechts bewegt. Für die Verteilung der verschiedenen Wahlwerbemöglichkeiten unter Parteien bei begrenzter Kapazität ist regelmäßig der Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit (vgl. § 5 PartG) zu beachten.

Der beschriebene Rechtsrahmen für Wahlwerbung erscheint aufgrund der verschiedenen Regelungsorte als unübersichtlich; er war indes ausreichend weit, um potentielle Schwierigkeiten im Bereich analoger Wahlwerbung angemessen bewältigen zu können.

Netzwerkspezifische (verfassungsrechtliche) Grenzen

Überträgt man diese Regelungen auf die Kommunikation in sozialen Netzwerken, stellt man fest, dass der bisherige Flickenteppich an Regelungen durch die neuen Möglichkeiten sozialer Netzwerke an seine Grenzen stößt. Eine Handhabung der Wahlwerbung politischer Parteien in sozialen Netzwerken und von Täuschungen wie in Großbritannien ist hierdurch nicht möglich. Abseits des von Twitter im Wege der Selbstregulierung beschlossenen Verbots politischer Werbung, welches sich nur auf gesponsorte Werbeanzeigen bezieht, finden sich keine spezifischen Regelungen für den Wahlkampf (von Parteien) in sozialen Netzwerken.

Dabei lässt sich aus ihrer verfassungsrechtlichen Stellung entnehmen, dass der Wahlwerbung auch in sozialen Netzwerken Grenzen gesetzt sein müssen. Wenngleich Parteien als Grundrechtsträgern auch in sozialen Netzwerken im Vergleich zu Amtsträgern weitere Möglichkeiten der Einwirkung auf die Willensbildung zustehen müssen, ist ihr im Vergleich zu anderen Grundrechtsträgern exponierter Charakter zu berücksichtigen. Mit ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe geht zwangsläufig ein erhebliches Maß an Verantwortung für die Parteien einher, das sich nicht zuletzt auch in den gesetzlich fixierten Rechenschafts- und Offenlegungspflichten hinsichtlich ihrer Finanzierung manifestiert. Täuschungen über die Verantwortlichkeit für Accounts und irreführende Inhalte mögen einer Partei dabei helfen, sich größtmögliches Gehör im Wahlkampf zu verschaffen. Sie sind aber zugleich geeignet, eine freie und offene Willensbildung der Wähler zu beschränken und verlassen damit den Boden einer demokratischen Willensbildung. Insofern scheint es angebracht – hinsichtlich des obigen Beispiels aus Großbritannien sogar zwingend –, die Einflussnahme der Parteien auf die Willensbildung des Volkes zu begrenzen und dergestalt Täuschungen sowie undemokratisches Verhalten im Wege einer ausdrücklichen Begrenzung ihrer Parteikommunikation zu verhindern. Um den Verfassungsauftrag aus Art. 21 Abs. 1 GG zu konkretisieren, müssen insbesondere mit Blick auf soziale Netzwerke als neue Wahlkampfbühne verstärkt Art. 20 und 38 GG herangezogen und zeitgerecht interpretiert werden, die das grundgesetzliche Parteiverständnis mitprägen und eine Grenze undemokratischen Handelns darstellen, die auch für Akteure im „staatsaffinen“ Bereich (teilweise) gelten muss. Die Sonderstellung der Parteien kann insofern auch eine Begrenzung ihrer Meinungsfreiheit rechtfertigen. Die Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes bezweckt letztlich nicht das Wohl der Parteien, sondern ermöglicht die Willensbildung des Volkes.

Als Ausfluss ihres verfassungsrechtlichen Auftrags ist von politischen Parteien ein Mindestmaß an Transparenz im Wahlkampf zu verlangen. Dieses wird verfehlt, wenn ihre Wahlwerbung objektiv eine Täuschung der Empfänger (der Wahlberechtigten) darstellt. Konkret folgt hieraus für soziale Netzwerke, dass Parteien die von ihnen und ihren Wahlbewerbern genutzten Accounts als solche erkennbar gestalten müssen. Eine Umfirmierung in einen vermeintlich neutralen Account wie durch die britische Conservative Party verstößt demnach gegen den von Art. 21 Abs. 1 GG vorgegebenen Auftrag. Gleiches gilt, wenn eine Partei von vornherein Accounts einsetzt, um ihre Wahlwerbung zu verbreiten, ohne ihre Verantwortlichkeit dafür in der Beschreibung des Accounts kenntlich zu machen. Für den Inhalt von Wahlwerbung gilt für Parteien wie für andere Grundrechtsträger, dass die bewusste Lüge oder andere Unwahrheiten, die der Äußernde erkenntlich bereits im Zeitpunkt der Äußerung als unwahr einordnen kann, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sind.

Gestaltung gesetzlicher Schutzvorkehrungen

Netzwerkspezifische, gesetzliche Regelungen zur Wahlwerbung wären wünschenswert, um diese Grenzen festzulegen. Eine Chance hierzu bietet der (geplante) Medienstaatsvertrag der Länder (MStV). Der Rundfunkstaatsvertrag enthält noch rudimentäre Vorgaben für politische Inhalte im Rundfunk und erkennt damit die Bedeutung des medialen Einflusses der Politik. Der von den Ministerpräsidenten unlängst verabschiedete Entwurf des MStV hingegen greift die mediale Aktivität der Parteien nicht ausreichend auf, obwohl der Regelungsinitiative grundsätzlich ein Problembewusstsein in Bezug auf die neuen Kommunikationsentwicklungen zu entnehmen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besitzen Inhalte des Rundfunks erhöhte Suggestivkraft, Aktualität und Breitenwirkung, was eine besondere Handhabung erforderlich macht(e). Dass der Rundfunk durch die Aufhebung des sog. Frequenzvorbehalts und den Erfolg der sozialen Netzwerke (sog. Intermediäre i.S.d. MStV) an Bedeutung verloren hat, beherzigen die Länder im Entwurf des MStV nur unzureichend. Mittlerweile haben die Intermediäre, insbesondere die sozialen Netzwerke, den Rundfunk in seiner herkömmlichen Form zu großen Teilen abgelöst. Gerade junge, weniger politikerfahrene Menschen nutzen sie als Informationsquellen und vertrauen – insbesondere bei offiziellen Accounts – auf die dort veröffentlichten Inhalte. Dass den Parteien in den sozialen Netzwerken keine Grenzen auferlegt werden verwundert auch, wenn man sich vor Augen führt, dass die Veranstaltung von Rundfunk von Seiten des Staates aufgrund der in der Verfassung verankerten sog. “Staatsfreiheit des Rundfunks” strengstens verboten ist. Die grenzenlose Aktivität der Parteien in sozialen Netzwerken erscheint (auch) vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig.

Notwendigkeit einer Diskussion um Regeln für den digitalen Bereich

Es zeigt sich somit, dass trotz der zunehmenden Nutzung sozialer Netzwerke für Wahlwerbung keine gesetzlichen Grenzen für die zulässige Einflussnahme durch politische Parteien definiert sind. Dabei zeigt der britische Wahlkampf erneut, dass hier neue Möglichkeiten entstehen, die auch Parteien in einer Art und Weise nutzen, die in einer Demokratie zumindest befremdlich ist. Der ehemalige britische Außenminister Dominic Raab schätzte den beschriebenen Vorfall prägnant ein: “No one gives a toss about the social media cut and thrust”.

Mit dem Grundgesetz sind gezielte Täuschungen über die Identität der kommunizierenden Partei jedenfalls unvereinbar. Dieser Umstand scheint jedoch (bisher) nicht auszureichen, damit der Gesetzgeber endlich die Parteikommunikation reguliert. Möglicherweise liegt dies – getreu dem Motto “Wo kein Kläger, da kein Richter” – daran, dass die Parteien selbst und damit auch die ihnen angehörigen Hoheitsträger sowie Parlamentarier kein Interesse an einer Regulierung haben. Rechtsstaatlich geboten ist sie allemal. Zu hoffen ist, dass die Vorkommnisse in Nachbarstaaten einen Anlass liefern, die notwendige politische und juristische Diskussion über Regeln des Wahlkampfs im digitalen Bereich zu führen und Dominic Raab mit seiner Einschätzung nicht Recht behält.


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