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17 November 2017

Gleiche Freiheit für alle! Zur freiheitsrechtlichen Begründung des BVerfG in der Entscheidung zur Dritten Option

Geschlechtliche Vielfalt ist auch rechtlich mehr als Zweigeschlechtlichkeit, so das BVerfG in seinem Beschluss zur „dritten Option“: Das aktuelle Personenstandsrecht ist verfassungswidrig, soweit es dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt. Ebenso revolutionär wie das Ergebnis ist auch die Begründung: Der Senat ordnet den Schutz der Geschlechtsidentität erstmals nicht nur dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG zu, sondern auch dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Im Rahmen des Symposiums wirft dieser Beitrag einen Blick auf die freiheitsrechtliche Begründung und arbeitet heraus, warum es wichtig ist, Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte nicht isoliert voneinander zu betrachten.

BVerfG: Recht auf Geschlechtsidentität für Inter*-Personen

Seit dem ersten sogenannten Transsexuellen-Urteil im Jahr 1978 (BVerfGE 49, 286) erkennt das BVerfG einen Schutz der Geschlechtsidentität an und verortet es im allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG. Mit der nun ergangenen ersten Entscheidung des BVerfG zu Inter*-Personen fasst das BVerfG ausdrücklich auch jene Menschen unter den Schutz der geschlechtlichen Identität, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind (Rn. 40). Diese würden nicht nur durch fehlerhafte Zuordnungen als „Frau“ oder „Mann“, sondern im Rahmen der derzeitigen Rechtslage auch durch die Wahl der gesetzlichen Variante „fehlende Angabe“ (§ 22 Abs. 3 PStG) in ihrer geschlechtlichen Identität beeinträchtigt (Rn. 43). Durch letzteres würde gerade nicht abgebildet, dass sich die beschwerdeführende Person weder als Mann noch als Frau noch als geschlechtslos begreife, sondern nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich habe (Rn. 43).

Das Urteil bildet den Höhepunkt einer bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die schon früh Grundannahmen der Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt und zunehmend aufgeweicht hat. Einmal mehr zeigt sich das BVerfG als Vorkämpfer für die Etablierung von Rechten und den Abbau von Diskriminierungen und damit als dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs voraus. Dass es dabei nicht nur auf das Recht auf Geschlechtsidentität abstellt, sondern auch auf das besondere Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG (dessen dogmatische Weiterentwicklung Nora Markard für dieses Symposium herausgearbeitet hat), fügt der Entscheidung noch einen weiteren positiven Aspekt hinzu. Dies liegt an der Ambivalenz von Freiheitsrechten: Zwar können sie Freiheit beschreiben, sichern und weiterentwickeln, andererseits laufen sie aber auch Gefahr, blind für marginalisierte Gruppen und gesellschaftliche Ungleichheiten zu sein.

Das Freiheitsrecht als Fortschrittsmotor

Freiheitsrechte sind die Basis freiheitlicher Rechtsordnungen. Nötig und wirkmächtig sind sie, weil sie das jeweilige Recht ausdrücklich benennen: Das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Religionsfreiheit oder – wie hier – das Recht auf Geschlechtsidentität. Das jeweilige Recht hat damit einen Namen, wird ausgefüllt durch Auslegung und Anwendung, durch die Arbeit mit diesem Recht in Wissenschaft und Praxis.

Für marginalisierte Gruppen ist dies von besonderer Bedeutung: Das Zusprechen oder gar Entwickeln von Freiheitsrechten statuiert für sie erst bestimmte Rechte, formuliert diese ausdrücklich und gibt ihnen damit ein wirkmächtiges Mittel an die Hand: Im Kampf um die Durchsetzung dieses Rechts, für weitere Rechte sowie nicht zuletzt auch zur Anerkennung ihrer Selbst durch gesellschaftliche Mehrheiten.

Beispielhaft dafür steht das Recht auf Geschlechtsidentität. Seit seiner Entwicklung durch das BVerfG im Jahr 1978 ist es Grundlage für den Kampf transidenter Menschen um Rechte und gesellschaftliche Anerkennung.

Risiken eines allein freiheitsrechtlichen Schutzes

Ein allein freiheitsrechtlicher Schutz ist freilich risikobehaftet. Dies gilt jedenfalls für gesellschaftliche Minderheiten. Exemplarisch dafür stehen wiederum die Entscheidungen des BVerfG zu Geschlecht und Sexualität. Die ausschließliche Fokussierung auf Freiheitrechte beinhaltet stets die Gefahr, dass das jeweilige Freiheitsrecht mit Blick auf Befindlichkeiten der gesellschaftlichen Mehrheit eingeschränkt wird – so etwa im „Homosexuellenurteil“ des BVerfG: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.“ (BVerfGE 6, 389, 434). Auch im Rahmen der sogenannten ersten Transsexuellen-Entscheidung des BVerfG betont das Gericht, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nur in den Schranken des Sittengesetzes gewährleistet werde (BVerfGE 49, 286, 299) – und gelangt zum Schutz transsexueller Menschen durch eine Abgrenzung Transsexueller von anderen „sexuell Gestörten“. Sehr lesenswert herausgearbeitet hat diese „Sanitisierung“ transsexueller Menschen Laura Adamietz.

Zudem besteht stets das Risiko, dass das jeweilige Freiheitsrecht zu einem besonderen (Minderheiten-)Recht wird (hier: das Recht auf Geschlechtsidentität) – und darüber diskutiert wird, ob es der Minderheit, deren Andersartigkeit damit zunächst betont wird, zusteht oder nicht. Mehr noch: ob es ihr gewährt werden sollte. Diese Herangehensweise mag in einer liberalen Gesellschaft als überkommen gelten, scheint aber doch, selbst bei progressiven Zeitgenoss*innen immer mal wieder auf. Generös paternalistisch heißt es etwa in einem Kommentar von Klaus Hempel (ARD):

„Diesen Grundrechtsschutz darf man Intersexuellen aber nicht verwehren, nur weil sie sich in der Minderheit befinden oder wir uns mit ihnen schwer tun. Dann ist es allerdings logisch und konsequent, dass wir alle ihnen ein eigenes, drittes Geschlecht zubilligen.“

Dies verleitet dazu, die Tatsache zu übersehen, dass die Mehrheit das verhandelte Recht bereits hat – und es deshalb der Minderheit in gleicher Weise zustehen muss: Sei es straflos einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit anderen Erwachsenen zu haben, andere Erwachsene zu heiraten oder eben: das Recht auf Geschlechtsidentität und damit das Recht auf die Eintragung des eigenen Geschlechts in das Personenstandsregister.

Kombination von Freiheits- und Gleichheitsrechten

Zwar lassen auch Gleichheitsrechte Differenzierungen zu. Im Unterschied zur alleinigen Anwendung von Freiheitsrechten ist bei richtiger Anwendung der Diskriminierungsverbote aber zumindest immer ein Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft notwendig, und die dabei möglicherweise zu Tage tretende Schlechterbehandlung der Minderheit ist zu rechtfertigen. Nur über die Kombination von Freiheits- und Gleichheitsrechten wird es möglich, die Perspektive des „Normalbürgers“ zu verlassen, ungleich verteilte Freiheitsrechte sichtbar werden zu lassen und so Paternalismus und Hierarchien zu vermeiden.

Dies gelingt dem BVerfG in der Entscheidung zur „dritten Option“ ausgesprochen gut. Das mag auch daran liegen, dass die Entscheidungsgründe sowohl auf das Freiheitsrecht wie auf das Diskriminierungsverbot abstellen. Der Senat geht weder darauf ein, ob Intersexualität eine Krankheit (BVerfGE 49, 286 – Transsexualität I) ist, noch stilisiert er intersexuelle Menschen zu Opfern (BVerfGE 49, 286 – Transsexualität I, BVerfGE 115, 1 – Transsexualität III). Ausgangspunkt ist vielmehr der generelle, alle Menschen erfassende Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses schütze auch

„die geschlechtliche Identität, die regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist. Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird.“ (Rn. 39).

Nur sehr knapp wird daraufhin festgestellt, dass

„auch die geschlechtliche Identität jener Personen [geschützt ist], die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.“ (Rn. 40).

Zur Begründung heißt es lediglich, dass

„[…] unter den gegebenen Bedingungen die geschlechtliche Zuordnung ein besonders relevanter Aspekt der fremden Wahrnehmung wie auch des eigenen Verständnisses der Persönlichkeit [ist]. (Rn. 40)

Wohlgemerkt wird die Bedeutung der geschlechtlichen Zuordnung in der Gesellschaft als solche herausgearbeitet – für Angehörige jeglichen Geschlechts und eben daher auch für Menschen, die sich weder als weiblich noch als männlich definieren. Ausgangspunkt ist gerade nicht das spezifische Bedürfnis einer Minderheit. Vielmehr ist bereits hier eine gleichheitsrechtliche Dimension innerhalb der freiheitsrechtlichen Begründung erkennbar: Wenn die geschlechtliche Zuordnung wichtig ist, dann muss die Anerkennung in der jeweils dem eigenen Empfinden entsprechenden Geschlechtlichkeit für alle Menschen gleichermaßen möglich sein. Entsprechend lauten die Lösungsvorschläge: Entweder die Eintragungsmöglichkeit für alle oder für niemanden. Eben: Gleiche Freiheit für alle.


One Comment

  1. Fabian Steinhauer Mon 27 Nov 2017 at 16:04 - Reply

    Sehr geehrte Berit Völzmann, herzlichen Dank für den Beitrag. Ihre Kritik am freiheitsrechtlichen Zugang finde ich treffend. Die Risiken beschreiben Sie scharf und genau. Aber ich mir scheint diese Kritik zurückhaltend. Sollte man die Konflikte nicht allein über Gleichheitsrechte lösen? Ihre These ist, wenn ich das richtig verstehe, dass Freiheitsrechte hier noch die Funktion eines Fortschrittsmotors zukomme. Könnten Sie das nochmal erläutern? mit besten Grüßen

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