28 February 2020

Gleichmacherei statt Gleichheit

Knapp drei Jahre nachdem die erste Kammer des Zweiten Senats mit der Entscheidung vom 27.6.2017 den Eilantrag einer Rechtsreferendarin gegen ein Kopftuchverbot abgelehnt hatte, liegt nun die lang erwartete Hauptsache-Entscheidung vor. Das Ergebnis der mit 7 zu 1 Stimmen ergangenen Entscheidung ist mit Blick auf die damalige Kammerentscheidung wenig überraschend, ihre Begründung birgt jedoch so manche Neuigkeit. Eine erste Bewertung bietet bereits der Beitrag von Anna-Katharina Mangold. Daran anschließend, werden nachfolgend vier Kernpunkte des Beschlusses kritisiert, die nicht überzeugen, und es wird gezeigt, warum die Entscheidung den Streit um das Kopftuchverbot langfristig nicht beilegen wird.

Hintergrund

Der Fall betraf eine Referendarin in Hessen, die unter Hinweis auf einen ministeriellen Erlass zum juristischen Vorbereitungsdienst zugelassen wurde. Dieser untersagte ihr aufgrund ihres Kopftuchs „insbesondere“ folgende Tätigkeiten im juristischen Vorbereitungsdienst: die richterliche Sitzungsleitung, Beweisaufnahmen, die staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertretung und die Leitung von Anhörungsausschüssen in der Verwaltungsstation. Als Rechtsgrundlage gilt § 45 S. 1 und 2 HessBG, wonach Beamtinnen und Beamte insbesondere keine Kleidungsstücke tragen dürfen, die „objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen“ oder den religiösen Frieden zu gefährden. Dieses Verbot findet auf Referendarinnen gem. § 27 Abs. 1 S. 2 JAG entsprechende Anwendung. Die Klagen der Referendarin gegen das Verbot vor den Verwaltungsgerichten blieben erfolglos. Ebenso der Antrag auf einstweilige Anordnung vor dem BVerfG. Ihre Urteilsverfassungsbeschwerde wandte sich gegen den Beschluss des HessVGH und mittelbar gegen dessen gesetzliche Grundlage.

Sonderbereich Justiz aufgrund Formalisierung

Anders als noch in der einstweiligen Anordnung aus dem Jahr 2017 nimmt der Senat keine „Amalgamierung“ der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der richterlichen Unparteilichkeit mehr vor, die zu Recht als solche kritisiert wurde, sondern prüft beide Verfassungsgüter getrennt. Dennoch will nicht einleuchten, warum zwar einerseits religiöse Symbole im richterlichen Dienst für sich genommen keine Zweifel an der Objektivität der Richterperson begründen können (Rn. 99), wohl aber eine Referendarin mit Kopftuch sich die Verletzung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates entgegenhalten lassen muss (Rn. 86 ff.). Der Senat hält zwar daran fest, dass sich der Staat nicht „jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen“ muss (Rn. 89). Sie soll jedoch dann zurechenbar sein, wenn der Staat „auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss“ nimmt (Rn. 90). Der Senat bemüht die Topoi vom „Selbstbildnis des Staates“ und von „überkommenen Traditionen“ im Verfahrensablauf als Begründung dafür, dass in der formalisierten Situation vor Gericht das äußere Auftreten der Amtsperson eine besondere Distanz schaffe, die durch das Tragen eines Kopftuchs durchbrochen werde (Rn. 90). Dabei stellt das Gericht auf die Sicht eines nicht näher definierten objektiven Betrachters ab, auf eine imaginierte „Allgemeinheit“, der diese Beeinträchtigung der Neutralität nicht zugemutet werden könne. Bereits an dieser Stelle grenzt sich der Zweite Senat vom Ersten Senat offen ab und bezieht sich ausdrücklich (Rn. 89) auf folgende Aussage im Minderheitenvotum der Richter Hermanns und Schluckebier in der Entscheidung zum Kopftuch in der Schule: Weil der Staat, um zu handeln, auf seine Amtsträger angewiesen sei, könne die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger zur Neutralität (Sondervotum, BVerfGE 138, 367 Rn. 14). Dadurch wird die Amtstracht mit dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates verknüpft, was aber zu inhärenten Widersprüchen in der Argumentation führt: Denn folgt aus der Feststellung, dass der Staat nur durch Personen handeln kann, nicht in der Konsequenz eine nur beschränkte Grundrechtsfähigkeit dieser Individuen und damit implizit eine Rückkehr zum besonderen Gewaltverhältnis? Andererseits lässt der Senat in Rn. 79 keine Zweifel daran, dass auch eine Referendarin im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis trotz Eingliederung in den staatlichen Bereich grundrechtsberechtigt bleibt. Der Senat windet sich wohl durch diesen Kniff auf der Ebene der Zurechnung aus dem Dilemma, dass die Amtstracht nur gewohnheitsrechtlich anerkannt ist und verschafft ihr einen verfassungsimmanenten Anstrich.

Salvatorische Verfassungsrechtsprechung

Abweichend von der Entscheidung des Ersten Senats von 2015 bewertet der Zweite Senat die Privilegierungsklausel in § 45 S. 3 HessBG, die im Wesentlichen der in § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NRW entspricht. Der Erste Senat hatte § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG für nichtig erklärt, weil er gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG verstieß. Einer verfassungskonformen Auslegung war die Norm aufgrund des eindeutigen Willens des Gesetzgebers zur Ungleichbehandlung nicht zugänglich. § 45 S. 3 HessBG ist ähnlich formuliert und bestimmt, dass bei der Entscheidung über ein Verbot religiös-konnotierter Kleidungsstücke nach dem HessBG „der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes angemessen Rechnung zu tragen“ ist. Die Norm wäre nach Maßgabe des Ersten Senats eindeutig „als Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis“ und damit als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot unwirksam (BVerfGE 138, 296, Rn. 136). Nicht so der Zweite Senat. Zwar erkennt er, dass die Norm „in engem Regelungszusammenhang“ mit der Verbotsgrundlage steht, weil bei der Beurteilung, ob ein neutrales Verhalten vorliegt, der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition angemessen Rechnung zu tragen ist. Er erachtet die Klausel dennoch einer verfassungskonformen Anwendung zugänglich, da sie christliche Bekundungen nicht explizit privilegiere, sondern lediglich anordne, dass die entsprechenden Traditionen zu berücksichtigen seien (Rn. 117). Er interpretiert die Klausel gleichheitsorientiert, obwohl er davon ausgeht, dass der Gesetzgeber eine Privilegierung christlicher Bekundungen generell für möglich gehalten habe.

Überzeugend ist der Senat in diesem Punkt nicht. Wenn die Dienstbehörde bei der Beurteilung, ob ein neutrales Verhalten vorliegt, christlich-abendländische Bekundungen berücksichtigen muss, geht damit implizit die Abwertung anderer, insbesondere muslimischer Wertevorstellungen einher. Der Wille des hessischen Landesgesetzgebers ist insofern unzweideutig. In der Gesetzesbegründung heißt es: „All jene Erkennungsmerkmale, die der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition Hessens entsprechen, bleiben zulässig“ (LT-Drs. 16/1897 neu, S. 4). Unmissverständlich ergibt sich der gesetzgeberische Wille auch aus den damaligen Landtagsdebatten zum Verbotsgesetz, die von Aussagen aus der CDU-Fraktion wie „Noch sind wir im christlichen Abendland, nicht im Orient!“ geprägt waren (PlenProt. 16/17 v. 16.10.2003, S. 987). Angesichts dieser eindeutigen gesetzgeberischen Intention überschreitet die verfassungskonforme Auslegung des Zweite Senats die Grenzen der zulässigen Norminterpretation und steht in einem Widerspruch zur Bindung der Judikative an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. Das Gericht verhilft so einer offen gleichheitswidrigen Verbotsregelung durch salvatorische Verfassungsrechtsprechung zur Verfassungskonformität.

Die Mehrheitsidentität als „objektiver“ Standpunkt

Nach Ansicht des Senats gebietet die religiös-weltanschauliche Neutralität im Bereich der Justiz anders als in der Schule „eine klar definierte Distanz und Gleichmaß“ der Amtsträger (Rn. 90). Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen in die Justiz als Ganzes durch strenge Formalisierungsbestimmungen gewahrt werde. Der Staat dürfe Maßnahmen ergreifen, um die Neutralität der Justiz aus der „Sichtweise eines objektiven Dritten“ sicherzustellen (Rn. 91). Dem diene § 45 S. 2 HessBG, der Kleidungsstücke und Symbole im Dienst verbietet, die „objektiv geeignet“ sind, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen.

Offen bleibt aber die entscheidende Frage, auf wen hierbei abzustellen ist. Und warum haftet dem Anblick einer kopftuchtragenden Person für sich bereits abstrakt der „böse Schein“ mangelnder Objektivität (Rn. 98) an? Wann ist in mehr als zwanzig Jahren Verbotsdebatte der Moment eingetreten, in dem diese Prämisse beim Kopftuch so unhinterfragt zugrunde gelegt werden kann? Dem Kopftuch kann ein objektiver Betrachter zunächst lediglich die Information entnehmen, dass die betreffende Frau eine bestimmte subjektive Glaubensüberzeugung hat. Ob daraus zwingend Zweifel an ihrer Neutralität und Distanz folgen und das Vertrauen in die Justiz insgesamt ins Wanken geraten muss, hängt davon ab, auf welchen objektiven Betrachter abgestellt wird. Die Gesetzesbegründung spricht von der objektiven Wirkung, wobei es auf subjektive Empfindlichkeiten der Adressaten nicht ankomme (Hess. LT-Drs. 16/1897, S. 4). Maidowski stellt in seinem abweichenden Votum auf „Personen durchschnittlicher Empfindlichkeit“ ab, „die aufgrund nachvollziehbarer Überlegungen im Einzelfall die äußere Erscheinung einer Referendarin zum Anlass nehmen könnten, Misstrauen gegenüber deren Amtsführung zu entwickeln oder eine Störung insbesondere des religiösen und weltanschaulichen Friedens in ihrem Kontakt mit der Justiz zu empfinden“ (Rn. 23). Die Senatsmehrheit stellt zwar auf die Sichtweise des objektiven Dritten ab, verweist jedoch darauf, dass es bei der Aufgabe Recht zu sprechen auch darum gehe, die Werte durchzusetzen, auf denen das Grundgesetz gründet. Eine öffentliche Kundgabe von Religiosität sei geeignet, „das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen“ (Rn. 92). Doch welche Religiosität und wessen Bild? Referendare haben, so der Senat weiter, „die Werte, die das Grundgesetz der Justiz zuschreibt, zu verkörpern“ (Rn. 104). Die Landesgesetzgeber werden in den neueren Verbotsgesetzen im Bereich der Justiz teilweise recht explizit. So ist nach der Gesetzesbegründung des niedersächsischen Gesetzgebers auf den Eindruck eines fiktiven Dritten „aus dem Kulturkreis der Bundesrepublik Deutschland“ (LT Nds, Drs. 18/4394) abzustellen. Ein exklusiv definierter Kulturkreis grenzt von vornherein die Sichtweise jener aus, die von den Verboten betroffen sind und konterkariert den Gleichheitsschutz, den demokratische Gesetzgebung leisten müsste (s. hierzu auch Mangold).

Entwertung des Gesetzesvorbehalts

Der Entscheidung lag das Kopftuchverbot mit dem weitesten Anwendungsbereich aller Länderregelungen zu Grunde. Doch vergeblich sucht man im Beschluss nach einschränkenden Vorgaben für die Landesgesetzgeber. Das Erfordernis der hinreichend konkreten Gefahr, das zentral für die Verhältnismäßigkeit der Verbotsbestimmung im Kopftuch II-Beschluss (Rn. 80 ff.) war, findet keine Erwähnung. Stattdessen verweist der Zweite Senat großzügig auf den gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum. Für den Bereich des Referendariats folge aus dem Verfassungsrecht weder ein zwingendes Ge- noch Verbot (Rn. 102). Der Gesetzesvorbehalt für Kopftuchverbote, die immerhin als schwerwiegender Grundrechtseingriff zu qualifizieren sind (Rn. 75; Sondervotum, Rn. 1), wird zur leeren Hülle, wenn er keinerlei konkretisierenden Anforderungen mehr standhalten muss. Lediglich das Sondervotum erkennt den weit gefassten Anwendungsbereich des HessBG als Problem (Sondervotum, Rn. 4). Die Senatsmehrheit hingegen legt dem Gesetz den Inhalt bei, den ihr der ministerielle Erlass gegeben hat. Die Verbotsgrundlage in § 45 HessBG, die eigentlich in Frage steht, erhält dadurch eine dem Anschein nach verträgliche Tatbestandsreduktion auf bestimmte einzelne Tätigkeiten, die das Gesetz aber nicht vorsieht. Auf diese Weise kommt der Senat zu dem Schluss, „dass sich das Verbot auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt“ und deshalb verhältnismäßig sei (Rn. 104). Doch das hessische Kopftuchverbot ist eben nicht auf den Sitzungsdienst, die Beweisaufnahme, die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit oder die Leitung von Anhörungsausschüssen beschränkt. Es gilt dem Gesetzeswortlaut nach für Beamtinnen und Beamte „im Dienst“ und damit grundsätzlich uneingeschränkt, unabhängig von einer hinreichend konkreten Gefahr, unabhängig von einer Konfrontation mit Bürgerinnen und Bürgern und unabhängig von der wahrgenommenen Tätigkeit. Für Rechtsreferendarinnen kann dies trotz nur entsprechender Anwendbarkeit (§ 27 Abs. 1 JAG) in Zukunft theoretisch ein weitreichenderes Verbot bedeuten, als es sich dem ministeriellen Erlass entnehmen lässt.

Der Kopftuchstreit zwischen zwei Senaten

Zuweilen wirkt die Entscheidung stärker von dem Bemühen getrieben, sich von der Kopftuch II-Entscheidung des Ersten Senats abzugrenzen, als eine Streitbeilegung im Einzelfall zu leisten. Dies wird die Verbotsdebatte nicht langfristig befrieden, auch wenn der Zweite Senat vorgreiflich zum Kopftuch der Berufsrichterin, Staatsanwältin oder ehrenamtlichen Richterin Stellung nimmt – und das, obwohl der Fall nur eine Referendarin betraf. Allein das abweichende Votum des Richters Maidowski nimmt die Differenzierung vor, die hier fehlt und notwendig gewesen wäre. Er macht deutlich, dass es nicht um das Kopftuch der Richterin, sondern im Kern um die Gewährung einer „Ausbildung [geht], die all das bietet und enthält, was auch Referendarinnen und Referendare ohne eine äußerlich sichtbare Hinwendung zu ihrer Religion in Anspruch nehmen können“ (Rn. 17).

Es wäre nicht nur aus Gründen der richterlichen Zurückhaltung geboten gewesen, sich auf die aufgeworfene Rechtsfrage – die kopftuchtragende Referendarin – zu beschränken. Denn mangels empirischer Kenntnisse darüber, ob und inwiefern eine Beeinflussung Dritter durch den Anblick des Kopftuchs überhaupt möglich ist, besteht ein gravierendes Erkenntnisdefizit. Darauf weist auch das abweichende Votum des Bundesverfassungsrichters Maidowski hin (Rn. 26). Mehr richterliche Zurückhaltung würde zudem einer freieren gesellschaftlichen Entwicklung Raum gewähren und das Vertrauen in die staatliche Juristenausbildung stärken.

Aqilah Sandhu hat während ihres Referendariats 2015 im Freistaat Bayern gegen ein Kopftuchverbot geklagt (VG Augsburg). Die nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde eingelegte Revision gegen das Urteil des BayVGH vom März 2018 ist derzeit beim BVerwG (2 C 5.19) anhängig. Die hier kommentierte Entscheidung des BVerfG betrifft eine andere Klägerin und ist unabhängig von dem Verfahren der Verfasserin.


20 Comments

  1. Foerster Fri 28 Feb 2020 at 13:09 - Reply

    Kurze Rückfrage an die Verfasserin:

    “Dem Kopftuch kann ein objektiver Betrachter zunächst lediglich die Information entnehmen, dass die betreffende Frau eine bestimmte subjektive Glaubensüberzeugung hat. Ob daraus zwingend Zweifel an ihrer Neutralität und Distanz folgen und das Vertrauen in die Justiz insgesamt ins Wanken geraten muss, hängt davon ab, auf welchen objektiven Betrachter abgestellt wird.”

    Ok, die Referendarin darf ihr Kopftuch tragen: Dann auch der Referendar sein T-Shirt mit der Aufschrift, dass es keinen Gott gibt, oder dass es nur den christlichen Gott gibt?

    Wenn Sie das mit ja beantworten, darf gerne in Zukunft das Kopftuch getragen werden.

    • Hans Reinwatz Fri 28 Feb 2020 at 14:25 - Reply

      Was der Referendar bei der Sitzungsvertretung unter der Robe trägt, interessiert wohl niemanden, die Frage ist höchstens, ob das T-Shirt weiß ist. Ach, und er bräuchte einen Fake-Hemdkragen, wegen der Krawatte.

  2. Berit Völzmann Fri 28 Feb 2020 at 14:00 - Reply

    @ Foerster: Wohl kaum.
    Zum einen geht es beim Kopftuch um eine nach dem eigenen Verständnis um eine zwingend gebotene religiöse Verhaltensweise/Kleidungsvorschrift. Dies ist bei Ihrem Beispiel nicht gegeben. Wohl aber etwa auch bei der Kippa oder dem religiösen Turban.
    Zum anderen muss es immernoch einen Weg geben, die religiöse Kleidungsvorschrift mit der Amtstracht – und iSd Amtstracht – zu kombinieren. Das ist bei Ihrem Beispiel gerade nicht der Fall. Bei Kopfbedeckungen aber durchaus (Vorgabe könnte etwa sein, dass diese einfarbig weiß oder schwarz bzw. rot (passend zur Robe) sein müssen).

    • Foerster Fri 28 Feb 2020 at 14:45 - Reply

      Die Grundrechtsausübung steht nicht unter dem generellen Vorbehalt, ob das Verhalten für den Grundrechtsträger zwingend ist. Das BVerfG hätte ansonsten in seinem Urteil zu § 217 StGB auch einfach darauf abstellen können, dass der Eingriff doch gering ist, weil es keinen Zwang gibt, sich umzubringen. Es ist sogar noch weitergegangen und hat festgestellt, dass ich nicht einmal an einem grundlosen Suizid derart gehindert werden dürfte.

      In meinen Beispielen ergibt sich das “zwingende” einfach aus dem nicht zu begründenden Wunsch, seine Meinung auszudrücken. Im Übrigen nehmen wir einfach statt dem T-Shirt eine Mütze, weil es ja gerade auf die Kundgabe ankommt.

      Woher kommt die Grundannahme, die religiöse Kleidungsvorschrift mit der Amtstracht kombinieren zu müssen? Stellen Sie sich einfach eine Religion vor, in der man keinen schwarzen Umhang tragen darf.

  3. Leser Fri 28 Feb 2020 at 15:07 - Reply

    Die verschiedenen Klägerinnen haben ihrer Sache m. E. einen Bärendienst erwiesen.

    Hätte man die mangels gesetzlicher Grundlage als ungerecht empfundene Anweisung akzeptiert, wäre in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten vielleicht eine stillschweigende Änderung beobachten können.

    Stattdessen haben sie auf ihren vermeintlichen Rechten beharrt und damit erst die Schaffung förmlicher Gesetze provoziert, dann auch noch dem BVerfG eine (m. E. absehbare) Bestätigung dieses Gesetzes abgerungen.

    Der Zeitpunkt für dieses Anliegen war schlichtweg ungünstig. In einer Zeit überhitzter religiöser Konfikte – auch und gerade angeheizt durch Muslime – die religionsbezogene Neutralität des Staates anzugreifen, war denkbar ungeschickt.

    Man mag jetzt noch vermeintlich kluge Aufsätze schreiben, dass man das alles schrecklich ungerecht findet, dem BVerfG wie den Vorinstanzen Rassismus vorwerfen und als Protest sein Kopftuch verbrennen.

    Bewirken wird das wenig.

    Hat jemand davor gewarnt? Ja. Icke. Hier, in diesem Blog. Und das nicht, weil ich fürchterlich klug wäre oder überdurchschnittliche Kenntnisse im Verfassungsrecht hätte. Sondern nur, weil diesen Ablauf auch der Durchschnittsjurist sieht, wenn man die Scheuklappen abnimmt.

    Und das führt mich zu folgender Frage:

    Wenn der Streit ums Kopftuch bei den verschiedenen Klägerinnen den – zumindest teilweise offenbar weit überdurchschnittlichen – juristischen Sachverstand so vernebelt hat… ist das nicht sogar ein Indiz dafür, dass die Religiösität der Fachlichkeit geschadet hat, dass damit letztlich die Entscheidung richtig ist?

    • A. Sandhu Fri 28 Feb 2020 at 17:32 - Reply

      Lieber Leser, wenn der jahrelange Streit eines bewiesen hat, dann dass die Klägerinnen – trotz zuweilen fragwürdiger Rechtsprechung – nie ihr Vertrauen in die deutsche (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit bzw. Justiz verloren haben.

      • Leser Fri 28 Feb 2020 at 21:32 - Reply

        Langes Prozessieren ist kein Beweis für Vertrauen in die Gerichtsbarkeit.

        • A. Sandhu Sat 29 Feb 2020 at 09:55 - Reply

          Es sind erstens unterschiedliche Klägerinnen und zweitens ist gerichtlicher Rechtsschutz ein Wesensmerkmal des Rechtsstaats. Ihn in Anspruch zu nehmen, steht allen gleichermaßen offen und bedarf keiner Rechtfertigung.

          • Leser Mon 2 Mar 2020 at 10:00

            Es stellt niemand hier das Recht in Frage, die Gerichte anzurufen.

            Sie hatten das lange Prozessieren als Beleg dafür angeführt, dass die Klägerinnen in die Justiz vertrauen.

            Dem und nur dem habe ich widersprochen.

  4. M. Foerster Fri 28 Feb 2020 at 17:59 - Reply

    Ich hatte auch bereits nebenan kommentiert (https://staging.verfassungsblog.de/justitias-dresscode-zweiter-akt/#comment-798472) und tue dies hier knapp erneut: Ich stimme der Verfasserin zu, daß die Ausführungen in Rn. 99 nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen sind mit der Begründung im Übrigen, ziehe aber daraus den gegenteiligen Schluß.

    Die Verfasserin meint eine implizite Pflicht zu eigentlich nur gewohnheitsrechtlich aberkannten Amtstracht folgern zu müssen. Auch diesen Punkt hatte ich en passant angesprochen, mit ebenfalls entgegen gesetztem Ergebnis: Es täte den Richtern an Bundesgerichten und dem BVerfG gut, wenn sie sich selbst mehr Zivilität und weniger Religiösität in ihrer Amtstracht auferlegen würden.

    Was das “besondere Gewaltverhältnis” betrifft: Es kann kein Zweifel sein, dass in bestimmten Berufen (Soldat, Polizist oder eben Richter), wie auch etwa in bestimmten Situationen (als Gefangener) die Möglichkeit zur Ausübung von Grundrechten eingeschränkter ist. Abgeschafft ist nicht diese Situation als solche, sondern nur die eigenständige Rechtfertigung aus der Rechtsfigur des “besonderen Gewaltverhältnisses”.

    • A. Sandhu Sat 29 Feb 2020 at 10:00 - Reply

      Vielen Dank für die Überlegungen. Nur wäre nach hier vertetener Ansicht bei Amtstrachten als milderes Mittel zu einem Verbot vorrangig die Möglichkeit der farblichen/stofflichen etc. Anpassung zu erwägen, um die erwünschte (und durchaus legitime) Einheitlichkeit zu erzielen.

  5. Brana Moravska-Hollasova Fri 28 Feb 2020 at 20:06 - Reply

    Buchempfehlung dazu: Susanne Schröter (Uni Ffm), Politischer Islam, 2019, Punkt 3 u. 4 auf S. 75-78:
    (A n f a n g eines strategisch klug kalkulierten P r o z e s s e s :) „In der ersten Phase fordern Islamistinnen, den Schleier in bestimmten Einrichtungen tragen zu dürfen …“ (S. 75 unten).
    Wie es dann weitergeht, die G e w a l t (staatliche mit Männerhorden oder nichtstaatliche mit eben denselben) die F r e i w i l l i g k e i t ersetzt, wie schon in manchen Vororten in Belgien und Paris, liest sich schnell und erhellend.
    Es wäre zu hoffen, dass sich das dort dargelegte Basiswissen auch unter Juristen verbreitet, damit klar wird, wo die MinenlegerInnen im Felde der heftig (und kalkuliert) eingeforderten Freiheit und Gleichheit sind.

  6. Brana Moravska-Hollasova Fri 28 Feb 2020 at 20:09 - Reply

    Buchempfehlung dazu: Susanne Schröter (Uni Ffm), Politischer Islam, 2019, Punkt 3 u. 4 auf S. 75-78:
    (A n f a n g eines strategisch klug kalkulierten P r o z e s s e s ) : „In der ersten Phase fordern Islamistinnen, den Schleier in bestimmten Einrichtungen tragen zu dürfen …“ (S. 75 unten).
    Wie es dann weitergeht, die G e w a l t (staatliche mit Männerhorden oder nichtstaatliche mit eben denselben) die F r e i w i l l i g k e i t ersetzt, wie schon in manchen Vororten in Belgien und Paris, liest sich schnell und erhellend.
    Es wäre zu hoffen, dass sich das dort dargelegte Basiswissen auch unter Juristen verbreitet, damit klar wird, wo die MinenlegerInnen im Felde der heftig (und kalkuliert) eingeforderten Freiheit und Gleichheit sind.

  7. Brana Moravska-Hollasova Fri 28 Feb 2020 at 20:22 - Reply

    Sorry, Gesperrtes wird hier fehlerhaft kopiert ohne Korrekturmöglichkeit!

  8. Heletz Sat 29 Feb 2020 at 16:16 - Reply

    Es ist nunmal ein sichtbarer Unterschied, ob die Richterin ein kleines güldenes Kreuz um den Hals trägt oder ein dominierendes Kopftuch!

  9. Ulrich Reinhardt Mon 2 Mar 2020 at 15:55 - Reply

    Allgemein dazu:

    Meiner rein persönlichen Erfahrung nach sind Muslime welchen ihren Glauben konsequenter leben (wofür das Kopftuch ein Indiz sein kann) deutlich konservativer und “rechter” in ihren Auffassungen als die breite Mehrheit der hier lebenden Menschen. Zweifelsohne steht damit ein Kopftuch sichtbar als Zeichen für eine politisch gesehen eher konservativ oder genau genommen eher rechts gerichtete Einstellung. Diese kann die entsprechende Richterin aber auch dann haben, wenn sie kein Kopftuch trägt, dann zeigt es sich halt eben aufgrund ihrer Urteile.

    Immer wieder ist mir kurioserweise bei Diskussionen aufgefallen, dass noch am ehesten ausgerechnet Muslime meinen politischen Positionen zustimmmten, während hingegen nicht-muslimische Deutsche diese als rechtsextrem etc bezeichneten.

    Zur Frage einer Beeinflussung Dritter durch das Tragen eines Kopftuchs: Zweifelsohne ist eine solche Beeinflussung gegeben. Wie durch andere Faktoren auch. Auch die Frage ob ein Mann oder eine Frau das Urteil fällt beeinflusst oder die Frage wie der Mann aussieht, wie er spricht, was er von sich gibt an verbalen und non-verbalen Informationen. Das gilt auch für andere Bereiche der Gesellschaft. Wir sprechen hier ja von Menschen und nicht von Robotern, Rechts-Maschinen welche unabhängig von jedem menschlichen wären. Man fordert im Prinzip Rechts-Roboter frei von Geschlecht, Religion und Menschlichkeit und macht daran eine vermeintliche weltanschauliche Neutralität fest.

    Tatsächlich aber ist die Justiz weltanschaulich eben nicht neutral, dass habe ich immer wieder praktisch erfahren können. In weiten Kreisen ist sie beispielsweise eindeutig politisch links orientiert. Und gerade daraus resultiert meiner Überzeugung nach diese zunehmende Tendenz zur Überregulierung und zur Unfreiheit. Und dies auch in Bereichen in welchen eine solche Einschränkung der Freiheit des Einzelnen nur noch übergriffig ist.

    Wie die Autorin beschließend so richtig schreibt, sollte man einer freieren gesellschaftlichen Entwicklung Raum gewähren. Rein persönlich ist mir eine konservative muslimische Richterin mit Kopftuch welche das Gesetz seinem Sinn und Zweck gemäß anwendet lieber als die vielen links-grünen Justizvertrer*innen*ixe welche nur noch ihrer Ideologie folgend den Rechtsstaat in Deutschland zunehmend zur Farce verkommen lassen.

    Hochachtungsvoll

    PS: An dieser Stelle möchte ich mich bei der Autorin als selbst Betroffener für Ihre Ausführungen sehr herzlich bedanken.

  10. Dr. Stephan Beichel-Benedetti Mon 2 Mar 2020 at 20:23 - Reply

    Wer sich auf Art. 4 GG beruft, hat es zunächst leicht: Vorbehaltloses Grundrecht, unhinterfragbares Glaubendürfen. Oftmals: Reklamation von Freiheit gegen die (gesetzliche) Mehrheitsentscheidung.

    Soweit nichts Neues, Grundrechte schützen nunmal vor der Macht der Mehrheit.

    Was mir allerdings als Justizpraktiker auffällt: Die Sicht der von Gerichtsverfahren betroffenen scheint für manche, die sich auf ihr Recht berufen, nur mäßig interessant zu sein. Gerichtsverhandlungen sind staatliche Machtausübungen, nichts, dem man sich “freiwillig” aussetzt, im Regelfall jedenfalls. Betroffene sind ebenso regelmäßig ebenfalls Grundrechtsträger.

    Wer spricht für sie? Wenn ich in meinem Beruf etwas gelernt habe, dann dies: Richtersein verlangt Demut. Sich zurücknehmen, die Betroffenen nicht über Gebühr belasten.

    Hier und bei dem parallelen Artikel von Frau Mangold, geht es, so kommt es mir vor, fast nur um die Rechte einer Seite. Und es geht, so nehme ich das wahr, etwas der rechtlichen Erörterung Vorgelagertes verloren. Es wird einseitig in (eigenen) Rechten gedacht. Das Mitdenken von Pflichten, die mit Rechten m.E. stets einhergehen, unterbleibt.

    Ich glaube (das steht auch mir zu, ich lasse Widerspruch aber gerne zu), wir täten alle gut daran, unsere Rechte nicht absolut zu setzen, dann liefe es in unserer Gesellschaft manches mal besser.

  11. Leser Tue 3 Mar 2020 at 06:21 - Reply

    Gut gesagt.

    Dass dieser Streit, diese Diskussion emotional – oder wohl eher: religiös – so aufgeladen ist, wirft halt die Frage auf, ob denn die richterliche Tätigkeit mit der gebotenen Distanz zu den eigenen Emotionen, der eigenen Religiösität ausgeübt würde.

    Ich hätte es vielleicht begrüßt, wenn wir in dieser Sache etwas bunter würden. Aber nicht jetzt, nicht so, nicht mit diesen Argumenten.

  12. FUnge Tue 3 Mar 2020 at 10:50 - Reply

    Die offenbare Absicht dem säkularem Bekenntnis zum Grundgesetz ein unübersehbares, religiöses Bekenntnis zur Seite zustellen, ist ganz schlicht formuliert eine Provokation.

    Und eine Provokation ist sie besonders dann, wenn diese Religion in der Hauptinterpretation genau jene Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia stellt, auf die sich die Klägerin beruft. Jeder kann diese Tatsache in der “Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam” aus dem Jahre 1990, unterzeichnet von 56 islamischen Staaten, nachlesen.

    Das Kopftuch ist in vielen Ländern ein gesetzlicher Zwang, der Frauen entgegen der im Grundgesetz verankerten Rechtsgleichheit der Geschlechter diskriminiert und ausgrenzt. Darüberhinaus ist es in vielen Ländern, auch in Deutschland, oftmals ein sozialer Zwang, der mit Ächtung und Unterdrückung durchgesetzt wird.

    Dass es freiwillige Trägerinnen des Kopftuchs gibt, ändert am grundsätzlich repressiven Charakter dieses Kleidungsstücks rein gar nichts.

    Die Leidenschaftlichkeit der Auseinandersetzung, die sich gegenwärtig vor Gerichten abspielt, ist nichts anderes als ein Indikator dafür, wie unerbittlich der Wille ist, die eigenen Vorstellungen anderen aufzuzwingen. Ein Verhalten, dass uns wiederum den repressiven Charakter dieser Religion vor Augen führt.

  13. G. Klemp Fri 1 May 2020 at 10:18 - Reply

    Als Bürger und Nichtjurist erwarte ich von staatlich Bediensteten, seien sie nun Beamte oder Angestellte, eine auch nach Außen dargestellte Neutralität. Dies kann durch Amtskleidung wie Uniform oder Robe dargestellt sein, sollte aber auch bei Bediensteten denen “Freizeitkleidung” erlaubt ist verpflichtend sein. Dazu gehört für mich in einem säkulären Staat u.a. jedweder Verzicht auf religiöse Symbole, sei es in Form von Kettenanhängern, Ringen oder Kleidungsstücken.
    Politische Überzeugungen und gelebter Glaube soll gerne im Privaten gelebt werden. Wer aber staatlich bedienstet ist, soll mit der Einschränkung zurechtkommen müssen, in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit Neutralität nach Außen darzustellen zu habenen. Ohne Statement-T-Shirts, Kreuze, Turbane, Kipas und Kopftücher.
    Auch Kreuze in Amtsstuben, Zwangsabführung von Kirchensteuer über den Staat und Religionsunterricht in staatlichen Schulen gehören m.E. zur Disposition gestellt. Und jetzt reißen Sie mir gerne den Kopf ab ;-)

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