Grenzen der Solidarität
Auf den ersten Blick ist es einfach: Die Infektionskurve muss abgeflacht werden, damit nicht zu viele schwere Fälle auf einmal die Krankenhäuser fluten, die medizinische Versorgung zum Erliegen bringen und sich dadurch die Anzahl der Todesopfer des Coronavirus erhöht. Also muss durch soziale Isolation die Verbreitung des Virus verlangsamt werden. Ein Lockdown des gesamten Gemeinwesens mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen scheint akzeptabel zu sein angesichts der höchstrangigen Rechtsgüter, um deren Schutz es gehen soll. Diese Logik führt dann zu Pressemeldungen wie dieser:
„Das Hamburger Verwaltungsgericht hat die Allgemeinverfügung des Senats zur Schließung von Einzelhandelsgeschäften in einem ersten Verfahren bestätigt. Das Gericht lehnte am Freitagabend den Eilantrag einer Besitzerin von mehreren Geschäften ab, die sich gegen die Schließung ihrer Filialen juristisch zur Wehr gesetzt hatte (Az.: 10 E 1380/20). Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sei dem Schutz der Gesundheit der gesamten Bevölkerung als überragend wichtigem Gemeinschaftsgut der Vorzug vor den wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin zu geben, teilte ein Sprecher des Gerichts am Samstag mit.“
Eine Abwägung mit ähnlich klarem Ergebnis könnte man darstellen, wenn man den „Schutz der Gesundheit der gesamten Bevölkerung“ nicht nur den (immensen) wirtschaftlichen Schäden, sondern auch der Langeweile daheim oder den in geschlossenen Schulen und Universitäten unterbliebenen Bildungsinvestitionen gegenüberstellt. Also alles lästig, im individuellen Fall vielleicht sogar sehr hart, aber selbstverständlich hinzunehmen?
Ohne dass mutwilligen Corona-Partys in irgendeiner Weise das Wort geredet werden soll, kann man seine Zweifel daran haben, dass das alles so klar ist. Starten wir mit einer Aussage der Berliner Gesundheitssenatorin in einem Interview bei Spiegel Online:
„Kalayci: Unter manchen jungen Leuten herrscht nach wie vor eine Haltung nach dem Motto: “Dann infizieren wir uns halt, weil es für uns mit einem leichten Krankheitsverlauf dann auch vorbei ist.” Nur garantieren kann ihnen das niemand! Und es geht auch um die Gemeinschaft, insbesondere um die eigene Oma, um ältere Menschen in der Nachbarschaft, die angesteckt werden können und deren Corona-Verlauf tödlich sein kann. Aber es gibt auch die andere Seite Berlins: Viele junge Menschen sind sehr verantwortungsvoll, bieten sich an in der Nachbarschaftshilfe, zeigen sich sehr sozial. Diese solidarische Seite der Stadt gibt es auch.“
Unterstellen wir mal für einen Moment, dass die „manchen jungen Leute“ nicht ganz falsch liegen, dass ihnen selbst bei einer Infektion nicht viel passieren wird. Selbstverständlich kann es auch in dieser Altersgruppe schwere Fälle geben, aber das Risiko ist wohl sehr überschaubar, auch wenn man nichts „garantieren“ kann, aber wann kann man das schon. Deutlich anzusteigen scheint das Risiko in hohem Alter und bei bestimmten Vorerkrankungen. Die Frage aus Sicht nicht nur der „jungen Menschen“, sondern all derjenigen, die ein eher geringes Risiko für einen schweren Verlauf oder gar intensivmedizinischen Betreuungsbedarf haben (und das scheint der Großteil der Bevölkerung zu sein): Was kann man von mir und uns eigentlich verlangen, wenn es im Kern gar nicht um den Schutz meiner Gesundheit geht, sondern um die „Gemeinschaft, insbesondere um die eigene Oma, um ältere Menschen in der Nachbarschaft“. Es wäre vielleicht nett („sehr verantwortungsvoll“, „sehr sozial“), dass ich mir zugunsten der Oma, die ich evtl. selbst gar nicht mehr habe, und der älteren Menschen, die ich gar nicht kenne, allerlei Einschränkungen gefallen lasse, aber hat das nicht seine Grenzen? Kann ich keine Einwände erheben, wenn ich dafür monatelang mit einer Ausgangssperre belegt werde? Oder wenn meine berufliche Existenz, die ich mir gerade mühsam aufgebaut habe, ruiniert wird?
Rein tatsächlich wird es so sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung massive Einschränkungen über lange Zeit mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen nicht mittragen wird, wenn sie (zu Recht) den Eindruck hat, dass sie selbst davon gar keinen großen Vorteil hat, sondern nur bestimmte Teile der Bevölkerung, die „Risikogruppen“. Das ist aber nicht nur die simple politische Logik der Situation, sondern hat auch seine normative Berechtigung: Die Aufopferungspflicht zugunsten Dritter endet irgendwann.
Zumal der nicht zu einer Risikogruppe gehörige Bürger auch Folgendes bemerkt: Zunächst glaubt er der „Solidarität“- und „Höchstwert Leben“-Rhetorik der Gerichte und Politiker ziemlich schnell nicht mehr, wenn er mitbekommt, dass die allermeisten Versterbenden hochbetagt und mit allerlei Vorerkrankungen versehen sind und bei einer Grippe-Epidemie auch „vorzeitig“ versterben würden, ohne dass jemand daran dächte, das ganze Land herunterzufahren. Gewiss: Gegen die normale Grippe kann man sich impfen lassen, und es gibt gegen sie auch Medikamente. Trotzdem hat es eine andere Dramatik, wenn Kinder und Durchschnittsbürger dahingerafft werden, als wenn es im Wesentlichen hochbetagte und kranke oder altersschwache Mitbürger trifft. Jedes Leben ist gleich viel wert, aber dass das Gemeinwesen die gleiche Energie aufwenden und Entbehrungen in Kauf nehmen muss, um 95jährigen noch weitere zusätzliche Monate oder Jahre zu verschaffen, als wenn es um die Rettung des Lebens des Durchschnittsbürgers geht, ist eine arge Zumutung für den gesunden Menschenverstand.
Ferner wird man darauf hinweisen dürfen, dass die Angehörigen der Risikogruppen nicht ganz so wehrlos sind, wie gelegentlich unterstellt wird. Gertrude Lübbe-Wolff hat in ihrem Kommentar zu Uwe Volkmanns Beitrag in diesem Blog zu Recht darauf hingewiesen, dass es geboten sei, dass sich die „einschneidenden Restriktionen (…) auf Ruheständler und ggf. andere spezielle Risikogruppen konzentrieren.“ Wir sollten ihnen beim Einkauf usw. helfen, wo wir können (z.B. durch Einkaufshilfen oder für sie reservierte Besuchsstunden in den Geschäften) – aber es ist absurd, dass wir das gesamte Land stilllegen, damit ersichtlich gefährdete Rentnerehepaare die Supermärkte besuchen, sich dort anstecken und dann noch ein Beatmungsgerät finden können, anstatt daheim bleiben zu müssen. Zumal und schließlich diese gesamte Eindämmungspolitik – auch das ist inzwischen häufig festgestellt worden – eine Durchseuchung und Immunisierung der Gesellschaft verhindert, so dass die Einschränkungen zum Schutz der Risikogruppen noch länger aufrechterhalten werden müssen.
Es gibt vermutlich einen Aspekt, der auch diejenigen beeindruckt, die nicht zu einer Risikogruppe gehören. Das sind nicht die gefährdeten Menschenleben, sondern die drohenden „italienischen Verhältnisse“ in den Krankenhäusern. Es ist nicht der Umstand, dass manche Menschen sterben werden, der viele umtreibt, sondern es sind die Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen dieses Vorgangs: die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, die normative Selbstverständlichkeiten in Frage stellen; Videos von überfordertem und weinendem Klinikpersonal, dem gegenüber man ein schlechtes Gewissen bekommt, das man durch Applaus vom Balkon zu besänftigen versucht; Geschichten von Menschen, die auf Intensivstationen ohne ihre Familienangehörigen sterben müssen; der Zusammenbruch der sonstigen medizinischen Versorgung. Am Ende ist es eine ähnliche Logik wie in der Flüchtlingspolitik: Wir ertragen viel, aber keine Bilder von Elend und leidenden Menschen. Bei realistischer Betrachtung geht es dabei gar nicht um sozialstaatliche Solidarität, sondern um unsere Sorge, dass die normativen Grundgerüste unserer Gesellschaft, „unsere Werte“ gerade dementiert werden. Wir verteidigen hier rechtsstaatliche Grundfesten gegen drohende Verrohungstendenzen.
Diese Beobachtung kann die Absicht, die „italienischen Verhältnisse“ vermeiden zu wollen, nicht diskreditieren – im Gegenteil. Und vermutlich werden viele vieles mitmachen, wenn es dafür erforderlich ist. Dies gilt aber nur, wenn man die vorrangig gefährdeten Risikogruppen nicht selbst in die Pflicht nehmen kann. Nach dem Gesagten sollte es selbstverständlich sein, dass wir dabei den Angehörigen dieser Risikogruppen nicht die freie Entscheidung überlassen können, ob sie sich gefährden mögen oder nicht: Wir verteidigen nicht ihre Leben gegen sie, sondern vermeiden die „italienischen Verhältnisse“ oder offene Behandlungsverweigerungen in unserem Interesse!
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, verehrter Herr Huster.
Spontan ergeben sich nach der Lektüre folgende Gedanken, die Kraft der beschlossenen Maßnahmen in Bund und Länder, in Bezug auf den von Ihnen genannten Solidaritätsgedanken aufgekommen sind.
Ad 1) In varietate concordia. Der von vielen Regierungen und deren Vertreter in vielen Staaten nunmehr nach innen gerichtete Appell an die Risikogruppen zu denken und sämtliche Handlungsmaxime an diese auszurichten, um, wie Sie selbst schreiben „italienische Verhältnisse“ zu vermeiden steht in diametralen Gegensatz zu einer Vielzahl von politischen Entscheidungen von vor nicht einmal vier Wochen, wonach Großveranstaltungen wie Fußballspiele oder Faschingsveranstaltungen nicht durch deren Ausfall Aufmerksamkeit erregten, sondern durch deren vorbehaltlose Durchführung. Vor vier Wochen galt die Solidarität der Exekutive noch den gut situierten Fußballstars und deren Fans; den Faschingsanhängern; dem uneingeschränkten internationalen Verkehr.
Der derweil jedem Bundesbürger geläufige exponentielle Verlauf der Infektionszahlen war dem interessierten Fachpublikum und den politischen Beratern bereits seit Ende Januar / Anfang Februar 2020 bekannt. Exkurs gen Washington D.C.: Die Solidarität dort beschränkte sich m.M.n. vorerst darauf, dass informierte Senatoren noch rechtzeitig sämtliche Aktiendepots im Januar 2020 veräußern konnten.
Irgendwelche Solidaritätsleistungen oder gar auch nur -bekundungen zum Zeitpunkt von vor vier Wochen und vorher mit der VR China sind derzeit zumindest mir nicht bekannt. Im Gegenteil wurden die Maßnahmen der KP doch noch in einer Vielzahl von Presseberichten „verächtlich“ gemacht, getreu der Devise, dass derart umfassende Quarantäne Maßnahmen nur in einer „Diktatur“ möglich seien. Es liegt mir fern an dieser Stelle der KP das Wort zu reden. Erstaunt es aber umso mehr, in welch‘ atemberaubenden Tempo nunmehr hier ein Grundrecht nach dem anderen „gestutzt“ wird.
Und mit diesem nationalstaatlich durchgeführtem Beschneiden vieler Freiheiten und Rechten ist die – retrospektiv betrachtet wahrscheinlich nie vorhanden gewesene – Solidarität der Staaten der EU, eingefallen wie ein Kartenhaus. Bürger, die an die Heimreise zu ihren Familien gehindert worden sind; LKW-Fahrer, die nur ihren Job erfüllen und denen im grenzüberschreitenden Verkehr die Einreise verweigert wird, denen sogar der Zutritt zu den WC’s deren Kunden verweigert wird; Pflegekräfte, die aufgrund der Beschränkungen nicht als Grenzgänger ihren Beruf ausüben konnten; Exportverbote von med. Ausrüstung; kümmert sich jemand derweil um die Flüchtlinge? – gilt das Recht auf Leben in der Abwägung nicht auch den Schutzsuchenden? – die Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Von welcher Solidarität, die als Begründung der erneut alternativlosen Situation, in sämtlichen Maßnahmen mitschwingt, ist denn die Rede? Die Exekutive handelt eher nicht nach ihrem eigenen Mantra.
Ad 2) Bis vor zwei Wochen galt in der weit überwiegenden politischen Diskussion die Maxime der „schwarzen Null“. Leitlinie war parteiübergreifend die Verantwortung und die Solidarität gegenüber den nachfolgenden Generationen. – Geschenkt. Abgeräumt, frei nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“. Im Raum stehen derzeit 1.500 Mrd. Euro Volumen an Krediten, Sondervermögen und Garantien und Haftungsfreistellungen nur für das Euroland Deutschland. Haftungsrisiken werden auch über das PEPP der EZB und über die angedachten Restrukturierungen des ESM in ebenfalls dreistelliger Mrd. Höhe auf Deutschland übergehen. Was ist in diesen Punkten mit der Solidarität mit denjenigen, die diese Summen in den nächsten 15 – 30 Jahren erwirtschaften müssen? Wo ist die Solidarität, wenn der Kleinunternehmer für die diesem gewährten Staatskredite Zinsen erwirtschaften muss, die Unternehmensanleihen der üblichen Verdächtigten derweil in unbegrenzter Höhe direkt durch die EZB aufgekauft werden und Kurzarbeitergeld inkl. SV-Beträge erstattet bekommen; Kurs – egal. Gilt es in der politischen Betrachtung nicht auch diese Abwägung den Bürgern zu vermitteln? Wahrscheinlich dürfte Leitlinie eher sein, dass, wenn die politisch Handelnden vor vier Wochen keine unpopulären Entscheidungen treffen konnten, diese nunmehr (weiterhin / erst recht) keine Kraft besitzt, um nach heutigem Kenntnisstand unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Wobei sich durch den internationalen Überbietungswettbewerb der Aushöhlung von Grundrechten und Verfassungen (Stichwort Ungarn: angedachte zeitlich unbegrenzte Möglichkeit der Regierung per Dekret plus Ausschaltung des Parlaments) der Entscheidungsraum der Exekutive fast stündlich immer weiter einengt.
3.) Wenn in der politischen Begründung erneut die Alternativlosigkeit der Maßnahmen im Raum steht, um diesmal die Alten, Schwachen, Kranken, etc. pp. zu schützen, dabei die bereits angesprochenen unvorstellbaren wirtschaftlichen Kosten, die millionenfachen Opfer der Einzelschicksale dagegen keinerlei Berücksichtigung erfährt – wer hilft denen, die Überleben aber eben alles verloren haben an sozialer, wirtschaftlicher Existenz? Können wir überhaupt Kraft uns selbst überhaupt immer und überall jedes Schicksal „retten“? Die Antwort auf zumindest letztgenannte Frage dürfte sich jeder selbst geben können.
Wünschenswert wäre, wenn die Diskussion über die Vielzahl an Fragen, die insgesamt bisher auch in diesem Blog aufgekommen sind, einem größeren Kreis Beachtung finden würde.
Herzliche Grüße
Sehr geehrter Herr Weidner, das sind alles sehr berechtigte Fragen zu den Kollateralschäden der gegenwärtigen Politik. Vielleicht wäre es auch gut, wenn dieselbige sich nicht nur von Virologen beraten ließe, sondern andere Perspektiven mitvertreten wären.
Stefan Huster
Es ist zum aus der Haut fahren, wie genau diejenigen, die seit Jahren jeden Reserve-Posten aus der Medizin herauswirtschaften und jegliche Vorhaltung als Bedrohung kurzfristiger Rentabilität aus dem Gesundheitssystem herausgepresst haben, die uns in den Krankenhäusern seit 2 Jahrzehnten routinemäßig unterbesetzt auf Überlast fahren lassen, die jegliche Warnungen vor Szenarien wie dem gegenwärtigen ignoriert haben, die sich mit einem Lachen über alles hinwegsetzen was als Daseinsvorsorge in der Medizin gelten könnte, die noch, als in Italien schon die Leute starben, meinten, Karneval und Fabrikproduktion müssten stattfinden wie immer, wie genau die jetzt die ganze Gesellschaft mir ihrem moralinsauren Schulddiskurs überziehen, bloss weil fünf Jugendliche in irgendeiner Ecke knutschen. So kann man keine Politik machen, die irgendwem dessen Erinnerungsvermögen einen Tag überschreitet, Vertrauen einflößt.
Wir brauchen auch nicht diejenigen, die meinen durch Übererfüllung jetzt besondere Staatstreue und “Solidarität” demonstrieren zu müssen: Dem Virus ist Symbolpolitik nämlich egal.
Es gilt vielmehr, die demokratischen Institutionen vor der sich abzeichnenden Notverordnungspolitik zu schützen, damit vielleicht wenigstens zukünftig vorausschauender und vernünftiger gehandelt werden kann.
Wir freuen uns, wenn von Balkonen geklatscht wird. Wir brauchen aber noch vielmehr diejenigen, die nicht vergessen, wer uns und wie dahin gebracht hat, wo wir jetzt stehen. Und die als Ärzte, anstatt wieder schafshaft durch die Grube zu gehen, ein anderes Gesundheitssystem fordern und GERADE IN DER NOT politischen Druck aufbauen.
Sehr geehrter Herr Huster,
Ihrem Beitrag liegt ein erheblicher Denkfehler zugrunde.Der Krise ist nicht abgeholfen, wenn nur die “ersichtlich gefährdeten Rentnerehepaare” in die Isolation geschickt werden. Auch der “Durchseuchungs- und Immunisierungsgedanke” ist hier nicht zielführend. Warum? Kurzes Rechenexempel:
1) Die Pandemie stoppt, wenn ca. 60% der Bevölkerung infiziert sind. Dann findet das Virus keine Nichtinfizierten mehr vor. (Da die Ausbreitung rasend schnell erfolgt, kann die zeitliche Streckung im Folgenden unberücksichtigt bleiben.) Konsequenz: es infizieren sich ca. 50 Mio. Deutsche. Über die Altersstruktur sprechen wir gleich.
2) Von diesen 50 Mio. Infizierten benötigen gemäß aktueller Literatur ca. 5% (China)-10% (Italien) eine Intensivstation (1). Das macht ca. 2,5 – 5 Millionen Intensivpatienten. Mehr oder weniger gleichzeitig, zumal die Intensivbeatmung eher länger (>3-4 Wochen) anhält als die leichten Verläufe.
3) In Frankreich sind 50% aller COVID-19-Patienten auf Intensivstationen jünger als 60 Jahre; in den USA sind 12% jünger als 45 Jahre alt (2). Das sind immer noch 300.000 – 2.5 Mio Betten, die wir brauchen – nur für die “Jungen”.
4) Wenn wir nur die Rentner (also >65 Jahre) vollisolieren und der Rest infiziert sich, dann sind das immer noch 83% der bundesdeutschen Bevölkerung, die wir exponieren (3), und damit “nur” ca. 250.000 – 500.000 Intensivbetten. Nur für die jünger als 45-Jährigen. Der Rest wird dann nicht behandelt.
5) Gemäß Deutscher Krankenhausgesellschaft halten wir in Deutschland derzeit 28.000 Intensivbetten vor (4). Davon sind zu Friedenszeiten ca. 80% belegt.
Spätestens hier sollte klar sein, dass die COVID-19-Pandemie kein “Rentnerproblem” ist und auch nichts mit heulenden Krankenschwestern zu tun hat. Kleine Prozentzahlen von vielen Menschen sind immer noch viele Menschen, in dem Fall zu viele. Wenn Sie also buchstäblich morgen noch ordentlich versorgt werden wollen, wenn Sie einen Verkehrsunfall oder Herzinfarkt haben, dann MÜSSEN wir die Ausbreitung zeitlich massiv strecken. Und das geht nur, wenn alle sich den Maßnahmen beugen.
Freundliche Grüße,
Dr. Cornelius Werner
Quellen:
1) https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)30627-9/fulltext
2) https://www.healthline.com/health-news/covid-19-isnt-just-dangerous-for-older-adults#Younger-adults-still-at-risk
3) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1217/umfrage/entwicklung-der-gesamtbevoelkerung-seit-2002/
4) Deutsches Ärzteblatt (20.3.2020), Jg. 117, Heft 12, Seite 499
Sofern ich Ihren Gedanken mit den gegebenen Zahlen versuche fortzuführen: 28.000 Betten (großzügig die 80% “Grundauslastung” ignorierend) zeitlich verteilt auf 2,5 Millionen Intensivpatienten mit je 3 Wochen Behandlungszeit ergäbe eine Gesamtdauer von ca. 5 (!) Jahren.
Ich möchte die Zahlen an dieser Stelle nicht anzweifeln, da ich nicht bewerten kann, in wie weit sie realistisch sind. Jedoch sollte an der theoretischen Dauer ersichtlich sein, dass wir wesentlich selektivere und weniger einschränkende Maßnahmen benötigen, da die aktuellen Einschränkungen nur für einen sehr kurzen Zeitraum tragbar sind.
Sehr geehrter Herr Werner,
Ihr Rechenexempel krankt leider an einem recht grundlegenden Fehler/Problem:
– Wenn Sie unter 1) argumentieren, dass sich ca. 60% der Bevölkerung infizieren müssten, damit die Pandemie stoppt, dann ziehen Sie hier die Gruppe der TATSÄCHLICH Infizierten als relevante heran, völlig unabhängig davon, ob diese jeweils auch auf die Infektion hin (positiv) getestet wurden.
– Die unter 2) genannten Prozentangaben zur Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Betreuung beziehen sich hingegen allein auf die Gruppe der positiv GETESTETEN, welche offensichtlich aber nur eine Teilmenge der tatsächlich Infizierten darstellt (und eben auch keine einfach zufällige Teilmenge, sondern eine, bei der das Risiko für einen schweren Verlauf der Erkrankung deutlich höher sein dürfte als in der Gesamtgruppe aller Infizierten – welche ja auch jene beinhalten, die keine bzw. eine nur sehr gering ausgeprägte Symptomatik zeigen, so dass diese sich nicht testen lassen/nicht getestet werden).
– Mit der einfachen Übertragung der Prozentangaben, die sich auf eine Teilmenge bezieht, auf die Gesamtmenge begehen Sie somit einen Kategorienfehler.
– Alle von Ihnen genannten Zahlen sind somit um einen Faktor X überhöht. Um welchen Faktor genau, lässt sich anhand der derzeitigen Datenlage dabei allerdings ernsthaft kaum realistisch einschätzen. Das RKI nennt – “mit aller Vorsicht und Unsicherheit” – Faktoren der Untererfassung zwischen 20 und 11.
– Nähme man diese (deutlich verringerten) Zahlen, würde sich daraus m.E. immer noch ein Imperativ zum staatlichen wie gesamtgesellschaftlichen Handeln ableiten. Allerdings bestreitet ja auch niemand (bspw. auch Herr Huster in diesem Beitrag nicht) ernsthaft, dass “etwas” getan werden muss. Nur, wenn es eben um die Frage der Verhältnismäßigkeit bestimmter Schritte geht, macht es eben doch einen gewichtigen Unterschied, ob wir für diese Erwägungen von einem Szenario mit mehreren Millionen Intensivpatienten ausgehen (und entsprechender Zahl an Toten und Verwerfungen im Gesundheitssystem), wie Sie das in Ihrem Beitrag machen, oder ob diese Zahl nicht um einen – mehr oder minder großen – Faktor X geringer ist.
Mit freundlichen Grüßen
Marco Hajart
Das ist kein Kategorienfehler. Die case rate ist eine Untergrenze für die infection rate (letztendlich der konservativste Schätzer). Außerdem steigt, solange keine Sättigung vorliegt, auch die case rate exponentiell. Und letztendlich bedeutet es, dass man ohne genauere Kenntnis zum Faktor X keine Aussagen über die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen machen kann.
Die Zahlen scheinen möglicherweise sogar in verschiedener Hinsicht sozusagen “Kategorienfehler” aufzuweisen und daher überhöht.
Nicht berücksichtigt scheinen bereits unterschiedliche prozentuale Schwierigkeitsgrade von Krankheitsverläufen in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.
Bei jungen, unter zwanzigjährigen ohne Voreinschränkungen sollen beispielsweise Krankheitsverläufe unter Umständen prozentual vergleichsweise eher weniger schwerwiegend ausfallen o.ä.
Ferner scheint kaum ausreichend etwa noch die Möglichkeit von besonderen Schutzmaßnahmen berücksichtigt und zwar dabei eventuell verstärkt in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Auswirkungen kann dies auf Infektionsausweitung und deren Geschwindigkeit haben.
Unklar berücksichtigt scheint daher noch ein Ausbreitungsgeschwindigkeitsverlauf.
Die Zahl von freien Intensivplätzen,(gemeint sind eventuell vor allem “Beamtmungsplätze”?) muss zudem nicht statisch feststehend sein, sondern müsste ja unter Umständen auf eine Belegmöglichkeit über einen entsprechenden Vergleichszeitraum, wie vielleicht zunächst ein Jahr, mit hochzurechnen sein.
Kaum genügend berücksichtigt scheint weiter die Möglichkeit von Ausweiterungen von Notkapazitäten in entsprechenden “Ausnahmenotlagen” etc.
Sehr geehrter Herr Werner,
ich denke, man sollte die Argumentation des Hr Huster auf ihren Kern zurück führen und dieser Kern lautet (zumindest nach meinem Verständnis): Wenn es möglich ist, eine soziale Gruppe zu definieren, die weit überwiegend gefährdet ist, dann ist es nicht zumutbar, der gesamten Gesellschaft schwerwiegende Einschränkungen aufzuerlegen, wenn es alternativ möglich wäre, zielgenau diese soziale Gruppe zu adressieren. Diese Aussage muss offensichtlich umso mehr gelten, je gravierender die Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft sind.
Die Diskussion, die dann geführt werden muss, ist, ob diese zielsichere Definition einer sozialen Gruppe möglich ist. Ihr Argument lautet im Kern, dass dies nicht möglich ist, weil die Bedingung des „die Gruppe ist weit überwiegend gefährdet“ nicht erfüllt ist. Ob dies der Fall ist, wie die von Ihnen aufgeführten Zahlen nahe legen, oder doch nicht, lässt sich nur entscheiden, wenn diese Diskussion transparent geführt wird. Und diesbezüglich muss man m.E. konstatieren, dass dies eben derzeit nicht der Fall ist. Ich kenne z.B. keine Aussage, wie viele der in Deutschland Infizierten tatsächlich eine Behandlung auf der Intensivstation benötigen und wie die Altersstruktur dieser Intensivpatienten ist. Diese Zahlen wären aber entscheidend bei der Einschätzung, ob die von Hr Huster in den Raum gestellte Definierbarkeit der weit überwiegend gefährdeten sozialen Gruppe tatsächlich möglich ist oder ob nicht im Gegenteil die, wie von Ihnen postuliert, genau diese Definierbarkeit fehlt. Wie gesagt, ich kenne diese Zahlen nicht, aber die sehr begrüßenswerte Tatsache, dass deutsche Krankenhäuser inzwischen begonnen haben, auch Patienten aus anderen EU-Ländern auf ihren Intensivstationen aufzunehmen, lässt zumindest darauf schließen, dass man nicht damit rechnet, dass diese Intensivstationen kurzfristig mit inländischen Patienten belegt werden müssen.
Hr Friedrich hat in seinem Beitrag hier auf Verfassungsblog.de darauf hingewiesen, dass in einer Demokratie „der Staat“ seine Maßnahmen gegenüber den Bürgern zu begründen hat und nicht umgekehrt. Diese Begründung wird nach meiner Einschätzung derzeit aber nur in einer sehr pauschalen (und teilweise auch sehr unangemessenen) Form gegeben. Ich verstehe den Beitrag des Hr Huster so, dass wir als Bürger dies nicht hinnehmen sollten. Ihr Beitrag sowie die bisher geposteten Antworten darauf zeigt auf, in welcher Richtung diese Begründung gehen muss.
Schöne Grüße
Ulrich Demlehner
Die Handlungsmaxime für politische Entscheidungen – hier in der ,Corona-Krise‘ und auch sonst bei rechtsstaatlichen Entscheidungen liegen m.E. Zum einen in der Haltung des Entscheidenden ( im Wahrsprechen=Parrhesie) und zum anderen im Bedenken der Würde des Menschen. Sie ist an kein Alter und keine Situation gebunden.
Das Problem ist, dass niemand aktuell einigermaßen zuverlässig einschätzen kann, wie genau der Faktor der Dunkelziffer von Infizierten zu den erfassten Infizierten ist. Das könnte man erst mit einer statistisch ausreichend hohen Anzahl von durchgeführten Antikörpertests. Wenn man die “Nicht-Risikogruppen” von Covid-19 durchseuchen lassen würde, hätte man ein hohes Sterberisiko auch in dieser Gruppe, wenn der Faktor klein ist, da sie keine intensivmedizinische Betreuung bekämen. Diese Gruppe hat zwar ein geringes Sterberisiko, aber eben nur dann, wenn sie intensivmedizische Betreuung bei einem kritischen Verlauf bekommen.
Ich leite eine Krankenpflegeschule und beziehe mich auf die erwähnte Beobachtung weinender Pflegekräfte.
Mehr als 50.000 Stellen für Pflegefachkräfte strichen die deutschen Krankenhäuser in den vergangenen 15 Jahren ersatzlos, weil ansonsten die gedeckelten Einnahmen nicht gereicht hätten, um die steigenden Kosten zu decken. Die Unterfinanzierung von Krankenhäusern war und ist politisch gewollt, um die Zahl der Kliniken zu reduzieren.
Um unter den unzumutbaren Bedingungen (mehr Patienten, kürzere Behandlungsdauer, weniger PflegekollegInnen) ihre eigene Gesundheit nicht weiter zu beschädigen, waren die meisten Pflegekräfte in Kliniken gezwungen, ihren Beschäftigungsumfang zu reduzieren. Vor 20 Jahren lag die Teilzeitquote in der Krankenhauspflege bei ca. 30 %; heute arbeiten über 70 % der Pflegekräfte im Krankenhaus in Teilzeit und haben oft Nebenbeschäftigungen in anderen Branchen, damit das Einkommen ausreicht.
Schon vor der Corona-Krise starben viele Patienten in deutschen Kliniken,
• weil Pflegefachkräfte so unter Zeitdruck stehen, dass sie Veränderungen der Krankheitssymptome nicht mehr erkennen,
• weil im Klinikalltag nicht genügend Zeit für erforderliche Hygienemaßnahmen bleibt,
• weil viele talentierte Fachkräfte den Beruf verlassen und
• weil immer mehr Betten oder ganze Stationen wegen Personalmangels gesperrt wurden.
Nun rächt sich die fatale Geringschätzung und Vernachlässigung einer lebensnotwendigen Berufsgruppe. Der australische Pflegeberufsverband gab vor vielen Jahren einen Autoaufkleber heraus: „Nurses – You can’t live without them“ – wie wahr!
Nicht zuletzt ist festzuhalten: Krankenhäuser sind Teil der Daseinsvorsorge unserer Gesellschaft. Sie zu kommerzialisieren, zu privatisieren und damit zunehmend in die Verfügungsgewalt renditeorientierter Aktiengesellschaften zu treiben, war ein schwerer, aber korrigierbarer Fehler.
Sehr geehrter Herr Huster,
Sie sind / oder werden 56 Jahre in 2020. Damit dürften Sie, statistisch gesehen, etwa noch eine Lebenserwartung von ca. 28 Jahren haben. Dass Sie nun schreiben „Jedes Leben ist gleich viel wert, aber dass das Gemeinwesen die gleiche Energie aufwenden und Entbehrungen in Kauf nehmen muss, um 95jährigen noch weitere zusätzliche Monate oder Jahre zu verschaffen, als wenn es um die Rettung des Lebens des Durchschnittsbürgers geht, ist eine arge Zumutung für den gesunden Menschenverstand” finde ich aus (mindestens) drei Gründen verwerflich. Zum Ersten: Ich selbst bin (psychologischer) Alternsforscher, und ich mache mir in der Corona Krise größte Sorgen, dass ein differenziertes Altersbild, dass wir beide doch wahrscheinlich von der Gesellschaft, auch von Jüngeren, erwarten, vollends unter die Räder kommt. Sie tragen mit derartigen Äußerungen in großem Maße dazu bei. Zum Zweiten finde ich es unerträglich, wenn ein professoraler Kollege auf den gesunden Menschenverstand rekurriert. Sie wissen sicher gut genug, dass der gesunde Menschenverstand in Deutschland historisch in ungeheuerlicher Weise in Bezug auf Leben und Tod überstrapaziert wurde. Drittens schüren Sie mit derartigen Äußerungen die jung versus alt Polarität in Deutschland, die gerade schon in der Klimadebatte sehr viel Nahrung gefunden hat. Das ist ungut und übrigens auch sehr unklug, denn wir sind nun einmal eine stark alternde Gesellschaft und brauchen den Generationendialog auf Augenhöhe, um mittel- und längerfristig unser Gemeinwesen stabil und ertragreich, auch solidarisch zu halten. Warum wollen Sie dies gefährden? Um ein paar Pünktchen zu machen an unterschiedlichen Rändern unserer Gesellschaft? Das wäre sehr billig!
Mit schalen Grüßen
Hans-Werner Wahl
Ich halte es für wichtig, dass man bei dieser Diskussion betrachtet, wie sich unterschiedliche Szenarien (an Einschränkungen) auf die Hochrisikogruppen auswirken.
Ob nun verordnet oder aus Selbstschutz: Die Hochrisikogruppen werden bis zur sauberen Lösung des Problems (Therapie oder Impfung) isoliert bleiben. Wie sieht der Unterschied für die Hochrisikogruppen aus, wenn die Einschränkungen für die anderen erst teilweise, später weitgehend aufgehoben werden (ergänzt um einen besseren Schutz für die Hochrisikogruppen, etwa getrennte Einkaufszeiten)? Das ist der einzige Effekt, den die rechtlicher Würdigung als Argument heranziehen darf.
Das größte Problem für die Alten scheint zudem zu sein, dass eine einzige infizierte Pflegekraft ein halbes Pflegeheim töten kann. Was ändert der Lockdown daran? Der quasi ungefährdete Teil des Pflegepersonals sollte schnell durch Infektion immunisiert werden; das würde die Bewohner wirksam schützen. Die Heimbewohner haben gar keine Wahl; deren Situation sollte in bezug auf Solidaritätsabwägungen maßgeblich sein.
Und was das Thema Solidarität angeht: Der Lockdown schadet fast ausschließlich der arbeitenden Bevölkerung und nutzt fast ausschließlich den Rentnern und Pensionären. Zu welchen Einschnitten sind denn die Nutznießer bei der Rentenhöhe bereit, oder soll eine ruinierte Wirtschaft der Gezwungenen die Renten der Nutznießer in üblicher Höhe aufbringen? Ein fernliegender Gedanke. Vielleicht sollten die Nutznießer sich mal dazu äußern, welche realistisch wählbare Kombination von Einschränkungen ihnen am liebsten ist.
Sehr geehrter Herr Huster,
vielen Dank für Ihren aus meiner Sicht überfälligen Beitrag zu einer Diskussion, die wir mit Nachdruck führen müssen.
Es war aus meiner Sicht ein großer Fehler, nicht die Hochrisikogruppen zu schützen (durch Isolation) sondern durch Ausgangsbeschränkungen eine gesamte Gesellschaft nahezu zu lähmen.
Noch stehen wir erst am Anfang des immer näher kommenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs und es ist höchste Zeit zu handeln, damit nicht die Höhe der “Kollateralschäden” (Selbstmorde, psychische Erkrankungen und Traumata etc.) die der Pandemie übersteigt. Mit welchem Recht treiben Politiker Selbstständige in den Ruin oder die jahrzehntelange Verschuldung?
Und mit welchem Recht wird der heutigen Jugend eine Last aufgeladen, die sie – wenn der Lock-Down nicht bald aufgehoben wird – über Jahrzehnte abzutragen hat? Wenn man den Virologen trauen kann, dann brauchen wir die Durchseuchung – und dann sollten wir in den Bevölkerungsgruppen damit beginnen, die die niedrigsten Risiken haben. Es wird Zeit für die ersten Schritte zurück in ein “normales” Wirtschaftsleben – denn nur dann können wir den Mittelstand und seine Arbeitsplätze erhalten – und somit Steuern einnehmen, die dringend für die Kosten der Pandemie und ihrer Bekämpfung nötig sind. Nur der Lebensmitteleinzelhandel, die Apotheken und Drogerien und ein paar Versandhändler (die ihre Steuern eh gern woanders bezahlen) reichen dazu bei weitem nicht aus.
Wir sollten als Gesellschaft gemeinsam diskutieren, wer sich wann ins Risiko begibt – und trotzdem die Großeltern schützt.
Ich finde es erstaunlich, mit welcher Nonchalance diese verfassungsrechtlich hoch relevante Frage dargestellt und diskutiert wird. Ich will versuchen, das Ganze etwas aufzudröseln:
1) Die bisher staatlicherseits angeordneten Maßnahmen wurden und werden unter anderem mit Verweis auf den Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen begründet. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass diese Bevölkerungsgruppen nur höchst unscharf definiert sind: Ab wann gelten „Alte“ als alt: ab 60, 70 oder 80 Jahren? Welche Vorerkrankungen sind genau gemeint: Arterieller Hypertonus nach welchen Grenzwerten? Diabetes mellitus nach welchen Grenzwerten? Asthma oder Asthma nun doch nicht? Kardiovaskuläre Erkrankungen: Nur bereits stattgehabte Infarkte oder auch Einengungen von Gefäßen um wie viel Prozent?
2) Diese Bevölkerungsgruppen wurden meines Wissens nicht danach gefragt, ob sie diesen Lock down um ihres eigenen Schutzes willen wünschen. Das wäre angesichts der unklaren Definition allerdings auch schwierig. Umgekehrt wäre es für diese Begründung eigentlich erforderlich.
3) Vollends heikel wird es jedoch, wenn es in der Begründung weniger um den Schutz dieser Gruppen selbst, sondern um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems geht. Wollen und können wir verfassungsrechtlich überhaupt eine Bevölkerungsgruppe – wie groß auch immer und wie auch immer definiert – isoliert ihrer persönlichen Freiheit für einen dann vermutlich gar nicht mehr so überschaubaren Zeitraum berauben, um des Gemeinwohls (oder eher das der „Jungen“ und „Gesunden“) willen? Ich wage, das zu bezweifeln. Zu Beginn der AIDS-Epidemie in den 80er Jahren gab es auch Stimmen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen „anders“ als den Rest behandeln wollten. Gott-sei-Dank fanden sie kein ausreichendes Gehör.
4) Speziell, was das (erhöhte) Risiko von „Vorerkrankten“ angeht: Dazu wissen wir herzlich wenig, weil es gegenwärtig (noch) keine stratifizierten Analysen nach Alter und Vorerkrankungen geht. Bisher wurde nur beobachtet und berichtet, dass ältere Patienten und solche mit bestimmten Vorerkrankungen ein teils deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf und Tod haben. Dabei kann es aber gut sein, dass eben ältere Menschen typischer Weise häufiger Vorerkrankungen haben und dass das Risiko für „Vorerkrankte“ ein reiner Alterseffekt ist. Es kann natürlich auch anders sein, aber wir haben die Daten nicht.
Man darf gespannt sein, wie die Diskussion weiter geht. Demokratie-theoretisch ist übrigens interessant, wie sehr die Bevölkerung nun die Regierenden wieder schätzt, offenbar besonders solche, die als „Macher“ gelten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sich Opposition in einer solchen Situation kaum noch angemessen konstituieren und öffentlich äußern kann. Auch das ist meines Erachtens verfassungsrechtlich hoch bedenklich.
Zur weiteren Einordnung:
Ich bin kein Jurist, sondern nur einfacher Mediziner mit etwas biostatistischen und epidemiologischen Kenntnissen.