Für immer dein Feind?
Über die Präzedenzwirkung im Parteiordnungsrecht
Debatten über Parteiausschlüsse und andere parteiordnungsrechtliche Maßnahmen nehmen zurzeit einen breiten Raum in der öffentlichen Debatte ein. Der Grund hierfür liegt weniger in einem Mangel an Ambiguitätstoleranz im politischen Diskurs, sondern in der Bedeutung einer konvergenten Parteiideologie. Der konkrete Umgang mit Ausreißern, wie der WerteUnion oder Boris Palmer, könnte für die jeweiligen Parteien mehr Folgen haben, als ihnen bewusst sein dürfte.
Grenzgänger
Endgültig erhoben hat sich das Gespenst, das der Parteispitze der CDU derzeit einige Sorgen bereitet, am 5. Februar 2020 im Plenarsaal des Thüringer Landtags. Die Abgeordneten der CDU kürten dort, getarnt vom Feigenblatt der geheimen Wahl, mit den Stimmen der AfD und der FDP, Thomas Kemmerich in das Amt des Ministerpräsidenten. Diese Zusammenarbeitet bedeutete einen Tabubruch: Seit ihrer Gründung im Jahr 2013 fordert die AfD vor allem die Unionsparteien heraus, ist vor allem Alternative zu einer Union, die sich gegen die Wehrpflicht und für die Ehe für alle entschieden hat und deren Verhältnis zum Konservativismus sich erheblich kompliziert hat. Die von der AfD bemühte nationalkonservative Rhetorik und Symbolik erweist sich nicht nur für rechte Wähler verlockend, sondern auch für die entsprechenden Mitglieder und Funktionäre in CDU und CSU. Umso energischer waren die insbesondere vom Konrad-Adenauer-Haus forcierten Abgrenzungsbemühungen bis zum formalen Verbot jeder Zusammenarbeit. Die Versuchungen aber blieben bestehen, weswegen Thüringen kein Einzelfall blieb. Auch im Landtag Sachsen-Anhalts entdeckten Abgeordnete von CDU und AfD gemeinsame Überzeugungen in Sachen Rundfunkbeitrag, in verschiedenen Gemeinderäten bildeten sich offen Koalitionen.
Nun tritt das Gespenst – deutlicher denn je – in Gestalt der WerteUnion und ihres neuen Vorsitzenden Max Otte auf. Otte, Wirtschaftsprofessor und berüchtigter Investor, ist langjähriges CDU-Mitglied, war zuletzt aber auch Vorsitzender im Kuratorium der parteinahen Stiftung der AfD, der Desiderius-Erasmus-Stiftung. Nicht nur er, viele seine Mitstreiter in der WerteUnion sind parteipolitische Grenzgänger. Im neu gewählten Vorstand der WerteUnion finden sich etwa eine Person mit neonazistischer Vergangenheit. Diese personalen Entwicklungen führten dazu, dass das prominenteste Mitglied der WerteUnion, Hans-Georg Maaßen, selbst kein unbeschriebenen Blatt, seine Mitgliedschaft dort ruhen lässt.
Die Mitglieder der WerteUnion eint die gedankliche Nähe zur AfD und der Wunsch, die CDU in ihren Augen wieder zu sich selbst zu führen. Damit dürfte es die wesentliche Funktion der WerteUnion sein, als Brückenverbindung zur AfD zu dienen, für eine von ihren Funktionären angestrebten Schulterschlag. Laschet und seine Parteizentrale werden diese Entwicklungen aufmerksam beobachten. Es gilt zu kalkulieren, ob diese Verbindung für eine Wählerschaft Stimmpotentiale birgt, die das konservative Potential der Unionsparten noch nicht aufgegeben hat und die ihre Bürgerlichkeit bislang von einer Wahl der AfD abhält. Zugleich birgt aber das Treiben der WerteUnion enorme Risiken für die CDU, wenn dort etwas zusammenwächst, was nicht zusammenwachsen darf.
Eine erfolgreiche Abgrenzung von der AfD erfordert nicht nur organisatorisch einen Kraftakt, sondern eine ideologische Festlegung, die Laschet nicht nur angesichts der nahenden Bundestagswahlen ungelegen kommen dürfte. Anders als der markant neoliberale und wertkonservative Friedrich Merz hat sich die CDU einen Mann zum Vorsitzenden gemacht, der eher durch seine integrierende und joviale Art hervorsticht, als durch eine klare ideologische Verortung, die in seinem Fall wohl am ehesten mit „Rheinländer“ auf den Begriff zu bringen ist. Deswegen verwundert es nicht, dass sich Laschet zwar von der WerteUnion abgrenzt, zugleich aber handfeste Konsequenzen für Otte und seine WerteUnion scheut.
Allein ist er mit diesem Problem nicht. Auch wenn das Vorsitzendenduo Baerbock und Habeck die alten Flügelstreitigkeiten bei den Grünen zu überstrahlen weiß, sodass die Erinnerungen an Grundfeste erschütternde Parteitage wie vor dem Kosovoeinsatz zu verbleichen drohen, können sie nicht davon ablenken, dass etwa in Baden-Württemberg ein Boris Palmer als Grüner Oberbürgermeister sein diskursives Unwesen treibt. Dass ihm erst angesichts seiner Entgleisung gegenüber dem Fußballer Dennis Aogo ein Parteiausschluss droht, und nicht angesichts der zahllosen Vorläufer, zeigt, dass auch in der Partei, die ihr Programm stärker als die Konkurrenz auf moralische Imperative gründet, das Motto „wer Wahlen gewinnt, hat Recht“ gilt. Nur so ist die Eigendynamik der baden-württembergischen Grünen überhaupt zu erklären, deren Ministerpräsident zum Patron der Automobilindustrie schlechthin aufgestiegen ist.
Die Geduld mit Ausreißern wie der WerteUnion oder Boris Palmer mag den Parteivorständen politisch opportun erscheinen, hat aber bislang wohl unterschätzte Folgen für die rechtliche Verfassung der jeweiligen Partei.
Cuius regio, eius religio
Parteien sind ideologisch formierte Vereinigungen. Das mag überkommen wirken in einer Zeit, in der sich die Öffentlichkeit kaum noch über Tatsachen wie die Funktionsweise und Zahl von medizinischen Testverfahren verständigen kann. Ein Mangel an Konvergenz in der Parteiideologie, ihren Grundwerten, kann aber das Aus für eine Partei bedeuten, sie zumindest in eine tiefe Krise stürzen. Das hat sich nirgends so dramatisch gezeigt wie im Fall der SPD. Deren in der Agenda 2010 gipfelnde „ideologische Obdachlosigkeit“ hat sie nicht nur einen Parteiflügel gekostet, sondern zu einer programmatischen Unkenntlichkeit geführt, die sie seit über einem Jahrzehnt von ihren Mitgliedern und Wählern entfremdet.
Ebenso wenig wie sich eine religiös plurale Gemeinschaft in einen Kreuzzug, lässt sich eine inhaltlich heillos zerstrittene Partei kaum in einen Wahlkampf führen, in dem es auch darum geht, die politische Entscheidungsfähigkeit zu demonstrieren. Deswegen erschallt seit jeher in Fällen von Abweichler- und Querulantentum der Ruf nach parteiinternen Ordnungsmaßnahmen. So auch im Fall von Otte und Palmer, für den das Parteiausschlussverfahren eröffnet wurde.
Der Parteiausschluss ist in diesem Zusammenhang vielleicht das prominenteste Mittel. Das Parteiengesetz hält aber viel schärfere Mittel bereit, unter anderem eine „parteiordnungsrechtliche Knochensäge“ (Sebastian Roßner), dernach im Fall schwerwiegender Verstöße gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei ganze Gebietsverbände auszuschließen oder aufzulösen möglich wäre. Gegen die WerteUnion, die formal eine von der Parteiorganisation der CDU unabhängige Vereinigung darstellt, ist dieses Mittel zwar nutzlos, der im Raum stehende Unvereinbarkeitsbeschluss hat aber vergleichbare Wirkungen.
Solche Maßnahmen treffen auf Skepsis. Werden hier etwa Menschen Opfer einer innerparteilichen „Cancel Culture“, nur weil sie von der „offiziellen Parteimeinung“ abtrünnig sind? Zu einer populären Erzählung würde es passen. Ihre Brisanz ist aber vielmehr einer in der Demokratie angelegten Ambivalenz geschuldet.
Das Grundgesetz ordnet in Artikel 21 an, dass die innere Ordnung der Partei demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Bei dem Gebot innerparteilicher Demokratie handelt es sich um eine phänomenologische Ausnahmenorm. Explizite, unmittelbare Pflichten sieht die Verfassung grundsätzlich nur für den Staat und seine Organe vor. Dass die Parteien als Vereinigungen von Bürgern auf bestimmte Verfahrensweisen verpflichtet werden, lässt sich nur mit dem Zugriff auf Machtressourcen erklären, der aus der Gestalt unseres politischen Systems folgt. So verbietet zwar die Verfassung, dass die Parteien staatliche Mittel für ihre parteipolitischen Zwecke nutzen. Ein Verbund aus Verfassungsgerichten und Staatrechtslehrern bemüht sich unter enormen Aufwand, das Verbot wirksam werden zu lassen, indem etwa Kriterien dafür entwickelt wurden, wie sich Amtsträger in ihrer Funktion gegenüber politischen Gegnern äußern dürfen, damit sie nicht die mit dem Amt verbundene Autorität und Ressourcen für ihren Vorteil missbrauchen. Auf der anderen Seite ist der Einfluss der Parteien durchaus gewollt und systemisch angelegt. Überall, wo sich Mehrheiten finden müssen, wo um Entscheidungen gerungen wird, bilden sich notwendig „Parteien“. Erst ihre organisatorische Gestalt ermöglicht Massendemokratien, staatliche Entscheidungen unter dauernder Rückbindung auf das Volk fällen zu können. Sie können die Vielfalt politischer Ideen und Vorschläge bündeln, ein Programm und das dazugehörige Personal präsentieren und erhalten über Wahlen und die sich anschließenden Entscheidungsmöglichkeiten einen beträchtlichen Einfluss.
In dieser „Zwischenstellung“ zwischen Staat und Gesellschaft ist die Verpflichtung auf parteiinterne Demokratie begründet. Sie ist zum einen von dem Gedanken getragen, dass die im Gemeinwesen ausgebübte Macht demokratisch zustande gekommen sein soll. So steht zu befürchten, dass eine in einer Parteizentrale begonnene one man show nicht nach dem Einzug in das Kanzleramt oder eine Staatskanzlei endet, sondern sich fortsetzt zu einer politisch stark ungebundenen Herrschaft, die nicht auf Abstimmung angelegt und dementsprechend schwer zu kontrollieren ist. Wichtiger noch ist aber der Gedanke, dass Parteien durchlässig sein sollen, für Inhalte und die sie tragenden Personen. Wenn man politisch ohne Parteien nichts werden kann, dann muss man sie auch effektiv nutzen können, um sein demokratisches Teilhaberecht auch einlösen zu können. Die Verfassung beweist hier, dass sie ihren Voraussetzungen, einer politischen Willensbildung, die nach gewissen Standards erfolgt, nicht beziehungslos gegenübersteht. Sie stellt die Parteien in einen Status demokratischer Öffentlichkeit, der sie kontrollierbar und beeinflussbar machen soll.
Es zeigt sich also eine tiefgreifende Ambivalenz: Parteiausschlüsse und andere Ordnungsmaßnahmen beschneiden die parteiinterne Meinungsvielfalt und demokratische Teilhaberechte. Ohne sie fehlt aber den Parteien ein Mittel, ihre ideologische Geschlossenheit zu erhalten, die für sie und damit für das politische System überlebenswichtig ist.
Entscheiden durch nicht entscheiden
Die Lösung des Parteiengesetzgebers auf dieses Problem zeugt von geschichtlich gewachsener Genialität. Aus dem jahrhundertealten Vereinswesen lernend hat er die Einrichtung einer parteiinternen Schiedsgerichtsbarkeit vorgesehen, die vor allem über Streitigkeiten von einzelnen Mitgliedern mit ihren Vorständen in Parteiausschlussverfahren entscheidet. Parteivorstände müssen also die Erforderlichkeit eines Ausschlusses in gerichtsförmig ausgestalteten Verfahren begründen, die sich über mehrere Instanzen ziehen können. Danach steht den Mitgliedern der Gang zu den staatlichen Gerichten offen, die dann aber nur noch die offensichtliche Willkürlichkeit der getroffenen Entscheidungen überprüfen.
Damit ist zwar sichergestellt, dass Ordnungsmittel nicht nur aus persönlichen Feindschaften verhängt werden. Zugleich sind aber die Verfahren aufwendig und sorgen für eine der wenigen Arten von Aufmerksamkeit, die Parteien gerade nicht suchen. Das Ringen der SPD mit Thilo Sarrazin, das sich über mehrere Jahre zog und erst im vergangenen Jahr mit einem Ausschluss endete, hatte auch deswegen etwas Unwürdiges, weil sich die SPD offensichtlich so schwer damit tat, einen von der Neuen Rechten gefeierten Rassisten aus ihren Reihen zu verbannen. Das Maß an normativer Verunsicherung in der öffentlichen Debatte wurde in diesem Zusammenhang dadurch deutlich, dass immer wieder vorgebracht wurde, Sarrazin habe mit seinen Thesen doch Recht und niemand dürfe wegen einer Wahrheit sanktioniert werden. Dabei muss doch völlig klar sein, dass selbst dann, wenn Sarrazin Tatsachen geäußert hätte, ihn das nicht vor politischen Konsequenzen schützen konnte. Nicht die Ignoranz von Tatsachen, wohl aber der divergierende Umgang mit ihnen, ihre Bewertung und Behandlung nach wertbezogenen Maßstäben, gehört gerade zum Wesenskern des Politischen. Parteiausschlüsse sind nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein politisches Mittel und müssen dies auch bleiben.
Mit diesem Verhältnis ist nun der neuralgische Punkt der Debatte um die WerteUnion, aber auch um Boris Palmer, getroffen. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern die ordnungsrechtliche Untätigkeit der Parteispitzen mit diesen Abweichlern maßstabsbildend wirkt. Wenn sich andere Mitglieder in Bezug auf gegen sie gemachte Vorwürfe auf Präzedenzfälle wie Otte und Palmer berufen können, dann schwindet politischer Spielraum für Ordnungsmaßnahmen, dann ist Handlungsbedarf angezeigt, um nicht langfristig fruchtbaren Boden für programmatische Schismen zu bieten.
Tatsächlich führte das Berliner Kammergericht diesen Gedanken in einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahr 2014 an und befand den Ausschluss des Hamburger Mitglieds der SPD und des Abgeordnetenhauses Bülent Çifltik als unverhältnismäßig, weil sich die SPD gegenüber Abweichlern wie Thilo Sarrazin bislang so milde gezeigt habe. Der Ausschluss von Çifltik wegen eines in den Augen des Gerichts viel geringeren Vergehens – Çifltik wurde von seiner Partei vorgeworfen, er habe zwei Genossen und Fraktionskollegen mit einem gefälschten Vermerk verunglimpft – sei in Ansehung anderer Fälle willkürlich. Die Entscheidung, mit der das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Parteiausschlussentscheidung durch ein staatliches Gericht aufgehoben wurde, wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht kassiert, das auf den Maßstab der bloßen Willkürkontrolle verwies und darauf, dass die Fälle von Çifltik und etwa Sarrazin nicht vergleichbar seien. Damit ist aber nicht gesagt, dass keine Präzedenzwirkung für tatsächlich vergleichbare Fälle entsteht. Wenn die demokratische Teilhabe in Parteien wirksam geschützt sein soll, wird man jedenfalls annehmen müssen, dass sich Parteimitglieder vor den Schiedsgerichten auf eine Gleichbehandlung berufen können.
Das lange Zögern der Grünen gegenüber Palmer könnte damit für den Parteivorstand der Grünen noch unliebsame Folgen haben. Unabhängig vom Ausgang eröffneter Parteiausschlussverfahren nämlich dann, wenn die Schiedsgerichte vergleichbare Fälle entscheiden müssen. Und auch in Bezug auf Max Otte und seine WerteUnion schafft der Vorstand der CDU Fakten in Bezug darauf, wie sich ihre Mitglieder inhaltlich und organisatorisch zur AfD verhalten dürfen, auch wenn er das vielleicht nicht möchte.
Die Verfassung knüpft demokratische Einflussmöglichkeiten an Verantwortlichkeiten. Innerparteilich folgt aus der mangelnden Verantwortungsübernahme in Bezug auf die Umgrenzung und Einhaltung der Grundwerte einer Partei weniger Macht für den Vorstand im Umgang mit inhaltlichen Abweichlern. Wenn das stimmt, sollten Armin Laschet und die CDU sich dringend überlegen, ob es nicht Zeit ist, sich ihrem Gespenst zu stellen.
Ideologogische Geschlossenheit hat aber auch den Effekt, dass dann mehr Parteien nötig sein können, als das System verträgt, und sich insbesondere die Frage nach der Zulässigkeit einer Sperrklausel immer deutlicher stellt, wenn man Leute auf zusätzliche Parteien verweist (Otte mag man die AfD schieben können, wobei dann die Verhinderung der Machtperspektive gerade Zweck der Sache wäre, aber Palmer bräuchte sicher eine eigene). Stabil ist die Situation ohnehin nicht; da sollte man schon vorsichtig damit sein, ihr nochmal einen Kick nach unten zu geben.