Grenzüberschreitung
Die Bayerische Grenzpolizei ist teilweise verfassungswidrig
1. Eigenheiten bayerischer Politik
Die Politik im Freistaat Bayern folgt einigen, historisch wie machtpolitisch bedingten Stereotypen. Eines davon ist die besonders nachdrückliche Betonung der Eigenständigkeit bayerischer Politik gegenüber dem Bund. Mit Argusaugen wird insbesondere über die Einhaltung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung gewacht, die ihrerseits bei eigenen politischen Interessen großzügig ausgelegt wird. Das andere Stereotyp lässt sich so formulieren: „Wir sind die ersten oder die einzigen oder beides“.
Die Corona-Pandemie und die vom Freistaat Bayern dagegen ergriffenen Maßnahmen bieten ausgezeichnetes Anschauungsmaterial für eine solche, medial omnipräsent kommunizierte Benchmark-Politik: Immer ein bisschen härter und strenger, immer ein bisschen früher als die anderen, immer ein wenig schneller – manchmal eben aber auch etwas zu schnell, wie die jüngste Testpanne bei Urlaubsrückkehrern plastisch vor Augen geführt hat. Die Beispiele für politische Singularitätsansprüche ließen sich beliebig vermehren: Bayern kennt als einziges Land ein oberstes Landesgericht (BayObLG). Bayern ist das einzige Land, in dessen Amtsstuben Kreuze aufgehängt werden und in dem es ein eigenes Integrationsgesetz gibt. Bayern war das erste Land, das die „drohende Gefahr“ als eigene polizeirechtliche Kategorie in das Polizeiaufgabengesetz geschrieben hat. Überhaupt ist es vor allem das Polizei- und Sicherheitsrecht, bei dem Bayern häufig mit der Schärfung und Ausweitung von Eingriffsbefugnissen vorangeht.
2. Die Bayerische Grenzpolizei – alter Wein in neuen Schläuchen
Ein Beispiel für solche bayerische Alleinstellungsmerkmal-Politik ist auch die Einführung einer eigenen Grenzpolizei durch das „Gesetz zur Errichtung der Bayerischen Grenzpolizei“ vom 24.7.2018 (GVBl S. 607). Diese wurde in der politischen Diskussion mitunter als Novum bezeichnet. Eine bayerische Landesgrenzpolizei gibt es allerdings schon lange, sie gehört gewissermaßen zum Inventar des bayerischen Polizeirechts. Bereits von 1919 bis 1934 hatte es Grenzpolizeikommissariate gegeben. Deren Wiedererrichtung erfolgte mit der Bildung einer Landesgrenzpolizei im Jahr 1946. Im bayerischen Polizeiorganisationsgesetz von 1952 war die Grenzpolizei als eigenständige Organisationseinheit der bayerischen Polizei vorgesehen. Ihr oblag die Überwachung und der polizeiliche Schutz der Grenzen.
Da die Sicherung der Bundesgrenzen (und Landesgrenzen sind Bundesgrenzen) hauptsächlich Aufgabe des Bundesgrenzschutzes (und heute der Bundespolizei) war, wurde die Grenzpolizei als eigenständige Organisationseinheit neben der bayerischen Landespolizei im Jahr 1998 abgeschafft. Damit war die bayerische Grenzpolizei zwar ihrer selbständigen organisatorischen Stellung beraubt, sie verschwand jedoch keineswegs aus dem bayerischen Polizeiorganisationsgesetz (POG). Vielmehr kannte dieses (in Art. 4 Abs. 3 POG) weiterhin grenzpolizeiliche Aufgaben, deren Wahrnehmung allerdings der allgemeinen Landespolizei oblag, nicht einer verselbständigten Grenzpolizei.
Die im Juli 2018 erlassene Regelung (Art. 5 POG neu) führt nun den Begriff „Bayerische Grenzpolizei“ wieder ein, erneut jedoch nicht als organisatorisch eigenständigen Polizeiverband, sondern – weiterhin – als Teil der allgemeinen Landespolizei. Es war in der politischen Diskussion mitunter zu hören, dass es in Bayern nunmehr eine eigene bayerische Grenzpolizei gebe. Doch es ist – polizeirechtshistorisch betrachtet – alter Wein in neuen Schläuchen.
Die bayerische Grenzpolizei ist vom Gesetzgeber insbesondere für grenzpolizeiliche Aufgaben und die Aufgaben des grenzpolizeilichen Fahndungsdienstes im Sinn des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG (vulgo: Schleierfahndung) vorgesehen. Zusätzlich hält das bayerische Polizeirecht eine besondere Befugnisnorm bereit: Art. 29 PAG regelt besondere Befugnisse für die Wahrnehmung grenzpolizeilicher Aufgaben. Auch diese Norm existiert im Kern indes seit Jahrzehnten – nihil novi sub sole.
3. Klagen in Karlsruhe und München
Dieser historische Rückblick lässt nicht nur den aufgeregten politischen Wirbel, der um die bayerische Grenzpolizei von verschiedenen Seiten entfacht worden ist, sondern auch die bereits im Gesetzgebungsverfahren und vor allem nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgekommene Diskussion über die Verfassungskonformität (vgl. etwa Kingreen/Schönberger, NVwZ 2018, S. 1825 ff.) in einem überraschenden Licht erscheinen. Doch es gilt eben auch der Grundsatz: Regelungen (wie Art. 5 POG und Art. 29 PAG) sind nicht bereits deswegen verfassungskonform, weil sie so oder mit vergleichbarem Inhalt bereits lange bestehen.
Klagen ließen auch nicht lange auf sich warten. Sie wurden beim Bundesverfassungsgericht sowie beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof anhängig gemacht. Dieser hat heute entschieden, dass die Befugniszuweisung in Art. 29 PAG, nicht indes die Errichtung der Grenzpolizei selbst (in Art. 5 POG) gegen die Bayerische Verfassung verstößt (Urt. v. 28.8.2020 – Vf. 10-VIII-19; 12-VII-19). Die Entscheidung ist ergangen im Rahmen einer Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV (Vf. 12-VII-19) und einer sogenannten Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV (Vf. 10-VIII-19; es handelt sich dabei um eine Form der abstrakten Normenkontrolle), initiiert durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag. Die Antragsteller hatten vor allem gerügt, dass Art. 5 POG und Art. 29 PAG das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) sowie das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) verletzten, weil sie gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes (GG) verstießen. Der Bund sei ausschließlich für die Organisation und die materiell-rechtlichen Rechtsgrundlagen des Grenzschutzes zuständig (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG, Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG).
4. BayVerfGH einerseits: Errichtung der Grenzpolizei nicht verfassungswidrig
Der Verfassungsgerichtshof hat die Errichtung der Grenzpolizei als organisationsrechtliche Einheit innerhalb der Landespolizei durch Art. 5 POG nicht für verfassungswidrig erklärt. Er sieht darin keinen Verstoß gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, der gleichzeitig einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV), die allein Prüfungsmaßstab ist, begründen würde. Der Verfassungsgerichtshof folgt den Antragstellern damit in einem zentralen Punkt ihrer Argumentation nicht. Art. 5 POG verletze nicht die in Art. 83, 87 Abs. 1 Satz 2 GG normierte Kompetenzverteilung im Bereich der Exekutive (Bundesgrenzschutz).
Hierbei differenziert der Gerichtshof zwischen der grenzpolizeilichen Fahndung und sonstigen grenzpolizeilichen Aufgaben: (1) Die Aufgabe des grenzpolizeilichen Fahndungsdienstes (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 POG, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG, sog. „Schleierfahndung“) sei unbestritten eine Aufgabe des Landes. Zur Erfüllung dieser landesgesetzlichen Aufgabe könne eine bayerische Grenzpolizei als Teil der Landespolizei errichtet werden. Dies überzeugt ohne weiteres, da die Schleierfahndung keine Maßnahme des „Bundesgrenzschutzes“ (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG) ist.(2) Art. 5 Abs. 1 Satz 2
Alt. 1 POG weise der Grenzpolizei sonstige grenzpolizeiliche Aufgaben, zumal Grenzkontrollen, nur insoweit zu, als ihr aufgrund einer Vereinbarung nach § 2 Abs. 1, 3 des Bundespolizeigesetzes (BPolG) oder auf der Grundlage des § 64 BPolG eine Zuständigkeit eröffnet sei. Dies lasse einen Widerspruch zur Wahrnehmung des Grenzschutzes durch die Bundespolizei in bundeseigener Verwaltung nicht erkennen. Auch diese Auffassung überzeugt: Wenn das Land nach Maßgabe des BPolG und darauf gestützter Vereinbarungen zwischen Bund und Land grenzpolizeiliche Maßnahmen treffen darf, dann ist es dem Land auch unbenommen, dafür eigene Einheiten innerhalb der Landespolizei für zuständig zu erklären.
5. BayVerfGH andererseits: grenzpolizeiliche Befugnisse verfassungswidrig
Auch wenn der Freistaat Bayern durch Art. 83, 87 Abs. 1 Satz 2 GG nicht gehindert ist, eine Grenzpolizei als organisatorische Einheit der Landespolizei zu errichten, bedeutet dies nicht, dass der bayerische Gesetzgeber dieser Grenzpolizei auch eigene materielle grenzpolizeiliche Befugnisse einräumen dürfte, die über die bloße Schleierfahndung im Grenzgebiet hinausgehen. Das „materielle Grenzschutzrecht“ fällt vielmehr nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Insoweit dürfen die Länder nur nach ausdrücklicher Ermächtigung durch den Bundesgesetzgeber gesetzgeberisch tätig werden (Art. 71 GG).
Eine solche liegt indes nicht vor. Eine Ermächtigung gemäß Art. 71 GG könne – so der Verfassungsgerichtshof unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des BVerfG vom 18.12.2018 (1 BvR 142/15, Rn. 56 ff.) – insbesondere aus § 2 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 BPolG nicht abgeleitet werden. Der Regelungsgehalt des § 2 Abs. 4 BPolG erschöpfe sich vielmehr in der Entscheidung darüber, ob im Fall der Aufgabenwahrnehmung durch die Landespolizei Bundesrecht oder geltendes allgemeines Landespolizeirecht zur Anwendung kommen soll. Hieraus könne nicht hergeleitet werden, dass die Länder befugt sein sollen, für den Fall der zulässigen Aufgabenwahrnehmung eigenes, neben die Regelungen des Bundespolizeigesetzes tretendes Landesgrenzschutzrecht zu schaffen.
Auch diese Auffassung überzeugt: Was die Grenzpolizei darf, entscheidet der Bund abschließend (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG). Der Freistaat Bayern hat für das materielle Grenzschutzrecht keine Gesetzgebungskompetenz. Art. 29 PAG, der grenzpolizeiliche Befugnisse festlegt, verstößt damit gegen Art. 30, 70 Abs. 1, 71, 73 Abs. 1 Nr. 5 GG. Diesen Kompetenzverstoß hält der Verfassungsgerichtshof zudem für so schwerwiegend, dass er darin zugleich eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips der Bayerischen Verfassung (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) und des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) sieht. Der Verfassungsgerichtshof findet insofern deutliche Worte (Rn. 82 des Urteils): „Die Unvereinbarkeit des Art. 29 PAG mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes liegt offensichtlich zutage und ist inhaltlich als schwerwiegender Eingriff in die Rechtsordnung zu werten.“ Gleichwohl wird sich nicht viel ändern: Die bayerische Grenzpolizei als Teil der bayerischen Landespolizei darf – jedenfalls verfassungsrechtlich – fortbestehen. Sie hat lediglich die in Art. 29 PAG geregelten Befugnisse nicht mehr. Allerdings bleibt ihre praktische Hauptfunktion, die Schleierfahndung, unberührt.
6. Nach dem Integrationsgesetz erneute Niederlage der Bayerischen Staatsregierung vor dem Verfassungsgerichtshof
Ein Blick in die fast 70-jährige Geschichte des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes zeigt, dass es doch eher selten vorkommt, dass der Gerichtshof bayerische Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Das heutige Urteil ist allerdings das zweite innerhalb kurzer Zeit, in der ein wichtiges Gesetzgebungsprojekt der Bayerischen Staatsregierung vor dem Verfassungsgerichtshof scheitert. Erst im Dezember 2019 waren zentrale Normen des politisch ebenfalls sehr umstrittenen Bayerischen Integrationsgesetzes für verfassungswidrig erklärt worden (Urt. v. 3.12.2019 – Vf. 6.7-VIII-17). Auf die noch ausstehende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur ebenfalls heftig umstrittenen Novellierung des BayPAG darf man gespannt sein.